Sprache gehört nicht allen gleich. Während die einen über sie verfügen, sie formen und definieren, werden andere durch sie definiert. Auf diesem Feld sehe ich «die Einen», die bestimmen, wie Sprache genutzt wird, wo ihre Grenzen beginnen und wo sie aufhören. Und «die Anderen», die sich innerhalb dieser Grenzen zu bewegen haben.

Sprache kann den Einen die Welt eröffnen und sie für die Anderen zugleich begrenzen. Sie kann Mauern niederreissen oder errichten, welche die Einen nicht mal bemerken, während die Anderen täglich an ihnen scheitern. Die Einen sind etwa weisse, privilegierte, vermögende, heteronormative Schweizer*innen. Die Anderen sind all jene, die despektierlich benannt oder schlicht nicht erwähnt werden. Geflüchtete, die von den Rechten abschätzig als Asylantinnen bezeichnet werden; Frauen, die mit dem generischen Maskulinum angeblich mitgemeint sind; Non-Binäre, denen lediglich ein weibliches oder männliches Pronomen zur Verfügung gestellt wird. Während es «Asylant*innen» in dieser Logik am besten gar nicht geben sollte, existieren Non-Binäre schlichtweg nicht. Und Frauen*? Die gibt es, aber nur solange die weibliche Schwäche die männliche Stärke zementiert. Es braucht die Ausgrenzung der Anderen, um die Überlegenheit der Einen zu bestätigen.

Auch ich stand vor diesen Mauern, welche die patriarchale Gesellschaft um mich errichtet hat. Und dass ich an ihnen scheitere, scheitern werde, bekam ich früh zu spüren. Meine Familie war konservativ, das Rollenbild traditionell: Der Vater als Familienoberhaupt, die Frau als Mutter, die nichts anderes zu sein hatte, lag es doch angeblich in ihrer Natur. Diese Differenz wurde ständig bekräftigt, mit Handlungen und Worten; den Worten meines Vaters, die nur ihm gehörten. Er bestimmte, wie und worüber gesprochen wurde; verkündete mit starker Stimme sein Weltbild, das wir Anderen gutzuheissen hatten. Seine Sprache war gewaltig, tat weh, wenn er sich diskriminierend über Frauen äusserte, sie abwertete, sie nicht ernst nahm. Ich war verständnislos, irgendwann sprachlos, als mir bewusst wurde, dass seine Abwertung auch mich und meine Mutter traf. Er formulierte sie nie direkt, nie individuell, immer allgemein, es waren «die Frauen», die gemeint waren; ein abstrakt-kollektives Wesen, deren Eigenschaften ich nur über die Äusserungen meines Vaters kannte. Und diese Eigenschaften verleibte ich mir ein. Sie waren mein Orientierungspunkt, mein Spiegel, mein Fenster in die Aussenwelt: Auch ich war unentschlossen, unbegabt und ungeeignet. So lernte ich mich kennen, so musste ich also sein. Erst später entdeckte ich, dass ich auch anders sein konnte. Seine Worte formten mein Denken, meine Gedanken über mich selbst und andere – und sie hallen bis heute nach. Seine Worte, die ich stillschweigend hinnahm.

Ich akzeptierte, dass ich unsichtbar war, leise und ohne Stimme, nur dann eine hatte, wenn man mich danach fragte. Ich akzeptierte meine Rolle, blieb im Hintergrund, im Schatten meines vermeintlich schwachen Geschlechts. Ich gewöhnte mich daran, denn solange ich nicht auffallen würde, würde ich nicht gemustert, nicht kategorisiert oder stereotypisiert. Ich war unsichtbar. Hoffentlich. Doch als wir auswanderten, stand ich als Kind einer migrantischen Familie plötzlich im Rampenlicht. Plötzlich galt mir eine neugierige Aufmerksamkeit, ich wurde bemerkt und benannt, ohne danach gefragt zu haben. Die Fragen kamen immer von den Einen: «Warum bist du hier?»

Wir waren also die Ausländer*innen, als eine migrantische Familie von vielen gehörten wir zu diesem entmenschlichten Konstrukt. «Wir sind nicht wie die anderen Ausländer», wiederholte mein Vater. Schliesslich seien wir aus den «guten» oder «richtigen» Gründen hier. Nicht so wie die anderen – er meinte: die Anderen. Die anderen Anderen, für ihn waren sie Sans Papiers, Arbeitslose, Obdachlose, Drogenabhängige. So tat sich eine tiefe Kluft zwischen «uns» und «denen» auf; und wieder formten seine Worte mein Denken, meine Gedanken über mich selbst und andere. Grenzen wurden gezogen, immer dichter und höher. Doch keine Selbstabgrenzung konnte verhindern, dass wir mit diesen anderen Anderen nicht doch etwas teilten: Waren doch auch wir für die Einen die Anderen.

Irgendwann begann auch ich, die anderen Anderen abzuwerten, um mich selbst aufzuwerten. Ich verallgemeinerte ihre Erzählung, um meine eigene zu individualisieren, damit sie nicht eine von vielen sein würde. Damit auch ich endliche eine Stimme hatte.

Also zog ich sie, diese Grenzen, so wie ich es gelernt hatte, mit denselben Worten, die mich einst ausgegrenzten. Dabei stand ich selbst vor immer neuen Grenzen, ich sah an ihnen hoch, sie schienen unüberwindbar. Bis ich sie überwand. Aber nicht, weil ich besonders stark oder klug war. Meine weisse Haut tat es für mich, sie baute eine Leiter, brachte mich auf die andere Seite. Weil diese Schweiz doch etwas mehr für mich als weisser Mensch gemacht war; zwar mit Migrationshintergrund, aber weiss; zwar Frau, aber cis-Frau. Ich hatte einfach Glück. Glück, in einem rassistischen System mit der «richtigen Hautfarbe» geboren worden zu sein; Glück, den gesellschaftlichen Vorstellungen einer Frau zu entsprechen. Und als mein Ausländerinnendeutsch irgendwann zu Schweizerinnendeutsch wurde, war ich assimiliert. «Warum bist du hier?», das fragte niemand mehr.

Heute kann ich wählen, ob ich erzähle oder nicht; ob ich mich exponiere oder nicht. Ich werde nicht mehr ungefragt in das Gefühl hineingezwungen, nicht hierher zu gehören. Die neugierige Aufmerksamkeit gilt nicht mehr mir. Und jetzt, wo ich so gut wie dazugehöre, frage ich mich: Will ich das überhaupt?

Ich sehe eine Gesellschaft, in der noch immer die Anderen von den Einen getrennt werden. Eine Gesellschaft, in der den Anderen die Stimme entzogen wird, um jene der Einen lauter werden zu lassen. Eine Gesellschaft, in der die Einen die Anderen nicht fragen, sondern befragen, selten mit ihnen, sondern vorwiegend über sie reden. Wo Sprache nicht Ort gemeinsamer Aushandlung ist, sondern das Monopol einer weissen, cis-heteropatriarchalen Gesellschaft. Wer dieses Monopol infrage stellt, dem*der schlägt die rechte und liberale Kampfrhetorik entgegen. So behauptet etwa die Neue Zürcher Zeitung eine «kulturhoheitliche Klasse», die der vermeintlichen Mehrheit etwas aufzwingt: «Political Correctness», «Critical Race Theory», «Wokeness». Auf diesem Kriegsfeld wird gegen die «Entmannung» der Sprache gekämpft; gegen die «Genderisierung», wobei Bemühungen um eine diskriminierungsfreie Sprache sogleich zur Krankheit verklärt werden.

Ich sehe eine Gesellschaft, in der Demokratie zur Auslegeordnung eines weissen, cis-männlichen Kanons wird. Möchte ich in dieser Gesellschaft leben? Nein, lieber nicht. Möchte ich dazu beitragen, sie zu verändern? Ja, unbedingt.

Giulia Bernardi (sie/ihr) ist freie Kulturpublizistin für zeitgenössische Kunst, Film und Literatur. Einige Überlegungen aus diesem Text basieren auf dem Buch «Sprache und Sein» von Kübra Gümüşay. Darin beschreibt die Autorin, wie Sprache unser Denken prägt und folglich Leben und Politik bestimmt.

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