Jedes Gesicht ist anders. Sogar bei eineiigen Zwillingen gibt es Millionen von Unterschieden, die vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Mal sind die Augenbrauen etwas dünner, die Haut etwas dunkler, die Mundwinkel etwas kurviger. All diese Details machen ein Gesicht einzigartig und theoretisch einem einzigen Individuum zuordenbar. Auch wenn uns unsere Kleidung weitgehend anonym machen kann, bleibt das Gesicht als konstanter, sichtbarer Beweis unserer individuellen Existenz erhalten.

Die US-amerikanische Firma «Clearview» soll seit einigen Jahren in der Lage sein, fast jedes auf Fotos abgebildete Gesicht einem Namen und einer Adresse zuzuordnen. Das auf einem neuronalen Netzwerk basierende System soll um ein Vielfaches leistungsfähiger sein als bestehende, ähnliche Systeme. Während das FBI (laut eigener Aussage) auf etwa 400 Millionen Bilder zugreifen kann, sollen dem privaten Unternehmen weit über 3 Milliarden Bilder zur Verfügung stehen. Die meisten davon stammen aus sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram etc. Laut der Werbung des Unternehmens erfordert die Gesichtserkennung nicht einmal perfekte Frontalporträts – theoretisch reichen beschnittene oder schlecht gewinkelte Bilder aus. Alle können den Zugang zu der genannten App kaufen, seien es private Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen. Die Polizei von Gainesville, Florida, zum Beispiel zahlt laut einem Bericht der NY Times («The Secretive Company That Might End Privacy as We Know It», 18. Januar 2020) 10.000 Dollar für ihre Jahreslizenz. Was nach Orwellscher Dystopie klingt, ist bereits Realität. Unsere Gesichter machen uns transparent – sie machen uns sichtbar, auffindbar und manipulierbar. Und wenn ein Gesicht erkannt werden kann, kann es auch kopiert und missbraucht werden – Stichwort «Deep Fakes».

Im Zuge der totalen Überwachung feiert das scheinbar archaische Konzept der Maske eine Wiedergeburt: Sei es in seiner ursprünglichen Form als physische Gesichtsabdeckung (siehe die Guy-Fawkes-Masken, die Tausende während der Proteste in Hongkong trugen) oder seien es neue, digi­tale Formen der Maskierung (Verschlüsselung, VPN, Blockchain etc.). Nehmen wir Kino und Fernsehen als Indikato­ren für die kulturelle Relevanz bestimmter Themen, so stehen Masken derzeit ganz oben auf der Liste. Für eine erfolgreiche Film- oder Fernsehproduktion scheint die maskierte Heldin derzeit unverzichtbar zu sein. Verfilmungen von Marvel und DC-Comics sind allgegenwärtig und brechen jedes Jahr Kassenrekorde. Maskierte Superhelden retten die Welt, immer und immer wieder.

Die erste Ausgabe der Fabrikzeitung im neuen Jahrzehnt konzentriert sich auf unsere Gesichter – auf Formen von Manipulation und Missbrauch, sowie Methoden der Wiederaneignung und der Subversion.

Gregor Huber ist leitender Redaktor der Fabrikzeitung.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert