Jakow Semjonowitsch Druskin sitzt mit seiner Mutter Elena am Küchentisch. Die alte Frau pult mit ihren ausgemergelten Händen Fleisch von einem Knochen, ihre langen Fingernägel schaben noch den letzten Rest ab; es ist ein langwieriges Unterfangen, doch Elena ist alt und hat Zeit, außerdem herrscht draußen Krieg und Essen ist knapp. Ihr Gegenüber schweigt. Jakow ist nicht weniger ein Gerippe als seine Mutter, er könnte für Georges Méliès ein tanzendes Skelett spielen. Es wäre eine erniedrigende Arbeit, aber immerhin Arbeit. Mit halb geschlossenen Augen verfolgt Jakow sein Mütterchen. Als er das erste Mal Hundefleisch kaufen musste, weil das Geld nicht ausreichte, da hatte er sich elend gefühlt, hatte beschämt nach dem Preis gefragt, der schlitzohrige Verkäufer hatte seine Scham gerochen und das Doppelte verlangt. Mittlerweile schämt sich Jakow für nichts mehr, Leben heißt Überleben, und da ist Hundefleisch so gut wie jedes andere Fleisch auch. Elena ist fertig, buckelt zur Herdplatte und schiebt das Fleisch mit einem Messer vom Holzbrettchen in den Suppentopf. Sie bittet ihren Sohn um Hilfe, dieser erhebt sich träge und entfacht die Flamme des Herdes. Elena wirft noch zwei Hände voll Wurzelgemüse in den Topf; gewürzt wird mit der Erinnerung an bessere Zeiten. Beide bleiben an der köchelnden Suppe stehen, da sie ein wenig Wärme verspricht. Reden tun Mutter und Sohn recht selten und wenn, dann nur, wenn Bruder Michail zu Besuch kommt. Reden kostet Kraft, die beide nicht haben oder aufbringen wollen. Am Ende dreht sich doch alles um Politik. Dann sagt seine alte Mutter Sätze wie: «Früher hatten wir es schon besser, nicht wahr?» Eine naive Meinung aus dem Mund einer Hausfrau. Auf solche läppischen Diskussionen lässt sich Jakow schon lange nicht mehr ein. Er schweigt lieber und wartet auf seinen Bruder oder auf ein Wunder.

Die Türklingel läutet.

Jakow geht in den Flur und öffnet. Vor ihm steht Marina, Daniils Frau, mit einem Arm an die Wand des Treppenhauses gelehnt; der Kopf hängt auf Halbmast, die braunen Haare zu Boden, sie atmet leicht und regelmäßig, sagt keinen Ton. Jakows Herz beginnt fest zu klopfen. Er nimmt Marina am Arm, zerrt sie herein und schließt die Tür, ehe noch mehr Kälte in die Wohnung zieht. Jetzt sieht er in Marinas Augen weiß, dass er Recht hat mit seiner Vermutung. Sie setzen sich an den Küchentisch, Mütterchen Elena stellt Jakow einen Teller Suppe hin, er schiebt ihn zu Marina. Seine Mutter beschwert sich erst, er solle seine Suppe gefälligst selber essen, dann überlässt sie Marina doch den Teller.

In Jakows Kopf läuft Daniil nun am Treppengeländer eines olivgrünen Hausflurs hoch, schließt die Wohnungstür auf, klopft seine Schuhe ab, hängt seinen barocken Mantel an den Kleiderhaken. Dann schreitet er freudestrahlend zum Stuhlkreis, der in seiner 15m² großen Wohnung aufgestellt ist. Auf den Stühlen warten seine literarischen Weggefährten der letzten Jahre; Daniil geht sie im Uhrzeigersinn durch, begrüßt jeden laut mit Namen: Boris Lewin, Konstantin Waginow, Nikolai Oleinikow, Leonid Lipawski, Alexander Wwedenski. Dann setzt sich der Neuankömmling auf den freien Stuhl und grinst durch seine tiefen Augenhöhlen erwartungsvoll in die Runde. Damit ist Daniil Charms offiziell in den Klub der Toten aufgenommen.

Nach dem Zerwürfnis von Zabolotski und Wwedenski Ende der 20er Jahre hatte sich die «Vereinigung für Reale Kunst» mehr oder minder aufgelöst und in eine kleinere Runde formiert, die nun im Geheimen tagend neue Absurditäten plante. Man nannte sich «Tschinari» und traf sich meistens bei Charms. Was «Tschinari» hieß, wusste keiner und deshalb gefiel es ihnen. Es verlieh ihnen einen Namen und hatte doch keine Bedeutung.

Charms sitzt auf seinem zerlumpten Sofa, hat die Beine der Golfhose übereinander geschlagen, während er Pfeife pafft und das Zimmer mit den Augen absucht. Wwedenski steht mit Druskin am geputzten Fenster und verfolgt konzentriert die Passanten auf den Straßen von Leningrad. Dabei entdeckt erster einen kleinen Jungen, dem gerade ein großes Stück Weißbrot auf das Kopfsteinpflaster gefallen ist. Der Junge schaut hastig über seine Schulter, nimmt das Weißbrot von der staubigen Straße auf und läuft zügig weiter. Wwedenski lächelt amüsiert, Charms lächelt über Wwedenski.

WWEDENSKI Ist es nicht lächerlich, wie viel Angst so ein Brot einem kleinen Jungen einflößen kann?

CHARMS Was für Brot?

WWEDENSKI Ein französisches Weißbrot würde ich sagen.

CHARMS Man sollte zu Recht Angst vor französischem Weißbrot haben, schließlich ist es in Leningrad selten geworden.

Dabei redet er mit Fistelstimme, als imitiere er einen britischen Aristokraten, der sich beim Tee über die Frivolitäten der Welt mokiert. Im Grunde äfft er jedoch nur sein eigenes bourgeoises Dandytum nach.

CHARMS Wäre es nicht viel schlimmer, wenn wir in Saint-Pétersbourg leben würden und Angst vor russischem Weißbrot haben müssten?

LIPAWSKI Ich habe Angst vor russischem Weißbrot, und Grashüpfern, und in weiß gekleideten Rotarmisten ohne Nasenflügel, aber nur manchmal, meistens im Traum.

WWEDENSKI Lieber Leonid, ich entsinne mich, dass du erwähntest, dass dir Herr Georg, unser allseits geliebter Russischlehrer einmal nachtens im Traum ohne Nasenflügel erschienen sei.

DRUSKIN Nein, ich glaube, Leonid sagte, Herr Georg sei nackt gewesen und habe Trotzki zitiert.

CHARMS Ach, damals kannte niemand von euch Trotzki.

WWEDENSKI Leonid W. Georg eben schon.

LIPAWSKI Glaubt ihr, ich erinnere mich an meine Schulzeit? Vor der Revolution? Ich glaube, es steht unter Strafe sich an diese Zeit zu erinnern.

DRUSKIN Paradox. Aber kann hier jemand beweisen, dass es wirklich französisches Weißbrot war? Vielleicht war es nur eine Gans ohne Flügel, eingewickelt in ein dünnes Drahtnetz. Wir können es jetzt nicht mehr wissen. Mir müssen es nehmen, wie es ist.

WWEDENSKI Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Telefondraht war.

Wwedenski geht zum Sofa auf dem Charms sitzt und nimmt ein Büchlein von der Lehne.

«Nutzungsbedingungen für das Automatische Telefon»

WWEDENSKI Ich liebe dieses Buch, es sagt uns so viel über die moderne Sprache des Sozialismus, so rein und befreit vom Firlefanz der Monarchie.

CHARMS Solange es die russische Monarchie gibt, bin ich gegen die Monarchie, gegen König und Hofstaat, gegen französische, georgische, sowjetische Sonnenkönige.

Druskin hält inne, dann schluckt er. In letzter Zeit ist er ein wenig paranoid. Im Zimmer sitzen seine ältesten und besten Freunde, aber Spitzel gibt es überall und Freunde sind manchmal nur Freunde bis zu Punkt X. Druskin verwirft den Gedanken wieder, wo könnte er schließlich offener debattieren als im Beisein von Charms, Wwedenski oder Marina? Außerdem, wer ist nicht gegen eine internationale Abschaffung der Monarchie?

Einige Jahre später wurde Charms verhaftet, ihm und anderen wurde die «Gründung einer antisowjetischen monarchischen Organisation im Bereich Kinderliteratur» vorgeworfen. Eine sarkastische Begründung. Charms wurde inhaftiert, kam jedoch schneller frei als gedacht.

Nach der Suppe bleibt Marina noch lange in der Küche sitzen. Als sie genug Kraft gesammelt hat, beginnt sie zu weinen. Erst hält Jakow ihr die Hand, dann umarmt er sie. Mit seinen knöcherigen Händen umklammert er ihren Kopf so gut er kann. Sie erzählt noch einmal, wie Danja geholt wurde, wie er sich würdevoll abführen ließ; Marina hatte darauf bestanden, dass man sie auch mitnahm. Das hatten die Beamten getan und sie ebenfalls zum «Großen Haus» gebracht. Doch man stieß sie wieder auf die Straße, und Danja verschwand erst in einem Verhörraum, dann in einer anonymen Zelle. Jakow kennt die Geschichte schon, sie ist ihm mittlerweile fast gleichgültig. Er versucht mit den Tatsachen zu leben, die man nicht mehr ändern kann. Das ganze Leben ist solch eine Tatsache, niemand kann sich für seine Geburt oder gegen seinen Tod entscheiden, das akzeptiert er. Jetzt, ein paar Monate später, hatte Marina Danja ein kleines Päckchen in Gefängnis bringen wollen, da wurde ihr schroff erklärt: «Gestorben am zweiten Februar.»

Als sie geht, gibt sie Jascha, wie sie Jakow liebevoll nennt, einen Kuss auf die Stirn und läuft wieder hinaus ins kalte Leningrad. Hier ist der Winter auch nicht kälter als in Rio de Janeiro, Kuala Lumpur oder Genf, man erfriert eben schneller, denkt Jakow.

Sie sitzen wieder einmal in kleiner Runde bei Charms, kurz nachdem Oleinikow Charms‘ Kinderstück «Die Reise nach Brasilien» verlegt hat. Wwedenski hat zur Feier Wodka mitgebracht, seine letzte Veröffentlichung bei Oleinikow liegt schon etwas zurück.

DRUSKIN Ich wollte daran anknüpfen, was Leonid das letzte Mal über «Entweder-Oder» gesagt hat, da ich nach einigen Überlegungen schon der Auffassung bin, dass Musik durchaus einen entscheidenden –

Wwedenski unterbricht ihn.

WWEDENSKI Leonid ist nicht da. Außerdem weiß ich etwas viel Interessanteres.

Wwedenski geht an Charms Bücherregal und zieht ein milchfarbenes Buch heraus.

DRUSKIN Auf jeden Fall ist für die Erziehung –

Wwedenski unterbricht ihn erneut.

WWEDESNKI Ja ja, wir wissen alle, dass es eine schlechte Übersetzung war. Aber guck mal, was ich hier bei Daniil im Regal gefunden habe.

Er wedelt mit dem Buch, dann liest er den französischen Titel vor:

WWEDENSKI Rousseau juge de Jean-Jacques.

Dabei versucht er wie ein echter Franzose zu klingen. Druskin findet das mehr als albern.

WWEDESNKI Und als ich in dieser wunderbaren Schrift las, im Originalwort Rousseaus, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Du Jakow bist augenscheinlich Jean-Jacques Rousseau! Jean-Jakow Rousseau-Druskin. Philosoph bist du – wie er, bibelfest bist du auch, Pädagoge, Mathelehrer also – bist du auch, Mathematiker sowieso, und Musik liebst du theoretisch wie praktisch, genau wie unser lieber Freund Jean-Jacques hier. Und Sozialisten seid ihr auch alle beide. Also ich sehe da keine phänomenologische Differenz zwischen euch.

DRUSKIN Rousseaus Vater war also auch ein Jude, ja?

WWEDENSKI Welcher orthodoxer Christ ist das nicht?

DRUSKIN Ach, Rousseau war auch nicht mehr als ein Poputtschiki, ein Mitläufer halt. Auf den Vergleich kann ich verzichten.

CHARMS Aber mich einen Sherlock Holmes nennen, ja?

DRUSKIN Ich würde es ja nicht tun, aber wer Gamaschen trägt, drei Meter groß ist und wie ein Soziopath redet, da ist der Vergleich naheliegend. Du weißt, ich liebe dich trotzdem.

CHARMS Du hast Recht, es schmeichelt mir. Über Wwedenski ließe sich das nicht ohne Weiteres behaupten.

Dabei zeigt er auf Wwedenski, der zwei Köpfe kleiner ist und den nie jemand mit einem echten Gentleman verwechseln würde.

 

Wenige Tage nachdem Jakow die Nachricht von Daniils Tod überbracht worden ist, nimmt er seinen Kinderschlitten und zieht los. Früher war er mit seinem jüngeren Bruder die schneebedeckten Hügel von Sankt Petersburg hinuntergerauscht, hatte es geliebt, wenn der Schnee mannshoch lag und sie darin Labyrinthe zum Verstecken gruben. In Leningrad gibt es immer noch Schnee, doch dazu auch Bombenangriffe und Hungersnöte.

Es ist früher Nachmittag, der Himmel aschgrau wie am Tag des Jüngsten Gerichts, links und rechts der provisorisch geräumten Straße liegen Berge aus Schnee und Schutt. Jakow erreicht Daniils letzte Adresse, schleppt den Schlitten durch den olivgrünen Hausflur, an Daniils zerbombter Wohnung vorbei, die mittlerweile unbewohnbar geworden ist. Im obersten Stock wartet Marina mit einem großen Koffer aus Leder. Darin nicht mehr und nicht weniger als das Vermächtnis zweier Männer, Manuskripte, Notizen und Kritzeleien von Danja Charms und Alexander Wwedenski.

Für den Rückweg braucht Jakow sehr sehr lange.

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