In den neunziger Jahren träumte man nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem symbolischen Fall der Mauer nicht nur von einer wirtschaftlichen Globalisierung, sondern auch von einer politischen und gesellschaftlichen. Grenzen erschienen als Barrieren der Vergangenheit, die sich ebenso wie die Nationalstaaten auflösen würden. Die Schwerkraft des Raums – auch des biologischen Körpers – schien mit dem Aufkommen der Virtuellen Realität, der Telepräsenz und -motorik dem Ende zuzugehen. Der verdichtete Raum der Städte galt damaligen Propheten als dem Untergang preisgegeben. Der Fall der Mauer schien ein Zeichen für eine Zukunft sein, in der Informations-, Waren-, Geld-und Menschenströme frei von staatlichen Einschränkungen und Grenzen über den Planeten fliessen. Free flow war angesagt, ebenso Marshall McLuhans «globales Dorf» und das Metaversum des Sci-Fi-Autors Neal Stephenson.

Es war ein libertärer Traum, der vor allem die digitale Elite erfasst hatte. Alle Grenzen und Hierarchien sollten gesprengt werden, um eine offene Gesellschaft zu erreichen, in der allen alle Türen offenstanden, egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts. Hacker wollten dafür sorgen, dass die Grenzen des Urheber- und Patentrechts aufgehoben werden, um den freien Fluss der Informationen zumindest im Cyberspace gewährleisten.

Zu dieser Zeit entstand nicht nur die Kritik an der Globalisierung, die jetzt vor allem auf die rechtsnationale politische Szene übergegangen ist. Mit dem Terrorismus, den asymmetrischen Kriegen und Migrationsströmen wuchs auch eine Sehnsucht nach neuen Grenzen und Mauern. 1995 schlug der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin vor, einen elektronisch gesicherten Sicherheitszaun zum Westjordanland zu errichten. Mit dem Bau wurde 2002, wenig nach den 9/11-Anschlägen begonnen. Der Zaun wurde zum Vorbild für weitere Staaten, allen voran die USA, ihre geografischen Grenzen wieder mit Sperranlagen zu sichern, um einen unkontrollierten Zugang zum Staatsgebiet zu verhindern. Diese Strategien gehen auf alte Imperien wie China oder das Römische Reich zurück, die so versuchten, ihr Herrschaftsgebiet vor den «Wilden» und «Barbaren» zu schützen.

Seit 2000 boomt der Mauerbau.

Analog dazu entwickelten sich seit den 1970er Jahren über die Segregation der Bevölkerungsschichten hinaus privilegierte Wohnfestungen zu sogenannten Gated Communities, in denen der Zugang überwacht und kontrolliert wurde. Gated Nations setzen diesen Trend zur räumlichen Einschliessung, Abkapselung und Blasenbildung im grossen Stil fort. Smart Homes und Smart Cities ergänzen die Abschottungsstrategien mit neuen technischen Mitteln wie Kameras, Bewegungsmeldern und biometrischen Erkennungstechniken.

Gab es am Ende des Kalten Kriegs noch 15 Grenzbefestigungen, waren es 2018 bereits 70, die zusammen etwa 40.000 Kilometer lang sind, also fast einmal um den Erdball reichen. Seit 2000 boomt der Mauerbau geradezu. Israel ist hierbei besonders hervorgetreten. Grenztechnik ist wie andere Sicherheitstechnik zu einem wirtschaftlichen Wachstumssegment und Exportprodukt geworden: Zäune und Metallmauern; Drahtsperren mit Stacheldraht aus rasiermesserscharfen Klingen; Sensoren wie Bewegungsmelder; optische, Infrarot- und Wärmekameras; Mikrowellensysteme, Seismometer, Radarsysteme; Anti-Fahrzeug-Gräben; Patrouillenstrassen für bemannte und unbemannte Fahrzeuge; Beobachtungstürme, auch solche mit fernsteuerbaren Kameras und Maschinengewehren; Luftüberwachung mit Drohnen und breiten Zonen, die als «exclusion zones» nicht betreten werden dürfen. Dazu kommen Kontrollräume und technisch hochgerüstete und bewaffnete Einsatzteams. In Israel wurde in städtischen Gebieten, in denen solche breiten Grenzsperren nicht angelegt werden konnten, eine sieben Meter hohe Stahlbetonmauer mit Sensoren errichtet. Um den Gazastreifen wurde neben einem sechs Meter hohen Smart Fence (Kosten pro Kilometer: 416.000 US-Dollar) und einem weiteren, parallel laufenden Sicherheitszaun auch eine Stahlbetonmauer mit Sensoren tief im Boden angebracht, um den Bau von Tunnels zu verhindern (Kosten pro Kilometer: 11,5 Millionen US-Dollar). Die Mauer reicht auch 200 Meter ins Meer hinein. Im Fall von Gaza führte das zu vermehrten Raketenangriffen auf Israel – die jedoch seit 2010 mit dem dafür entwickelten Raketenabwehrsystem Iron Dome abgewehrt werden.

Israel ist bislang das extremste Beispiel für eine Gated Nation, die sich mit allen Mitteln in ihre Grenzen einschliesst. Weltweit gibt es für Sicherheitszäune und Überwachungs- und Alarmtechnik, die natürlich nicht nur zum Schutz von Grenzen eingesetzt werden, einen Markt von 61 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020, der jährlich um 8 Prozent wachsen soll. Wie es in den USA unter Präsident Biden mit dem von Donald Trump vorangetriebenen Mauerbau und der Installation des virtuellen Zauns an der mexikanischen Grenze weitergeht, ist noch nicht bekannt. Bislang hat dieser Mauerbau um die 15 Milliarden US-Dollar gekostet.

Der Schutz der «äusseren Grenzen» hat für die EU höchste Priorität.

Auch in der EU wurden seit Ende des Kalten Kriegs 1000 km neue Grenzbarrieren auf dem Land errichtet – sechs Mal die Berliner Mauer. Dazu kommen die noch viel längeren virtuellen und die Seemauern. In den letzten Jahren wurden Milliarden in die Grenzsicherung investiert; es gibt dafür gar ein eigenes Forschungsbudget. Der Schutz der «äusseren Grenzen» hat für die EU weiterhin höchste Priorität. Die Vereinten Nationen warnen vor «digitalen» und «automatisierten» Grenzen mit ID-Dokumenten, Gesichtserkennung, Sensoren, Überwachungsdrohnen und biometrischen Datenbanken.

Mit der Corona-Pandemie haben viele Staaten wieder Grenzen hochgezogen und rigoroser als zuvor grenzüberschreitende Bewegungen von Menschen blockiert, um die Verbreitung des frei flottierenden Virus zu verhindern, das mit den Menschen reist. Das hat aber, wie meist nicht erwähnt wird, im Grunde nur die schon vorher bestehende Tendenz verstärkt, die territorialen Grenzen vor unerwünschten Personen durch physische, aber auch virtuelle Mauern oder Zäune zu schützen.

Parallel zu Grenzschliessungen haben viele Regierungen während der Pandemie mit den Lockdowns die Menschen zeitweise gezwungen, sich in ihre Häuser und Wohnungen zurückzuziehen. Es wurde zumindest empfohlen, zuhause zu arbeiten und die räumliche Bewegung einzuschränken, um sich nicht anzustecken oder das Virus in die Öffentlichkeit zu tragen. Dabei war und ist klar, dass vor allem der Aufenthalt in Innenräumen, wenn sie nicht gut gelüftet werden oder mit Luftfiltern ausgestattet sind, Infektionen begünstigt. Die mit Ausgangssperren oder nur mit Genehmigung mögliche Bewegungsfreiheit unterlegte Devise «Stay at home» oder «Bleib zuhause» führte analog zu den Gated Communities Abgrenzungen für alle ein. Dies besonders ausgeprägt, wenn Quarantäne verordnet, die in manchen Staaten mit Lokalisierungsapps überwacht wurde. Die Wohnung, das Hotelzimmer oder wo die Quarantäne verbracht werden sollte, wurde damit faktisch zum Gefängnis, zum buchstäblich umgrenzten Raum. Die Devise macht aber auch den angesagten Rückzug und die Verbarrikadierung deutlich: Es sollen nicht nur möglichst keine «Fremden» mehr einreisen; die eigene Bevölkerung soll sich auch daran gewöhnen, in den eigenen vier Wänden und im eigenen Land zu bleiben. Es scheint, als wäre das die Dialektik der Globalisierung: der Rückfall in den Nationalismus.

Gefängnisse, Gated Communities, Smart Cities und Homes sowie Grenzbefestigungen: Sie alle verfolgen den unmöglichen Traum einer absoluten Kontrolle.

Bei Grenzen geht es um Ein- und Ausschluss, um Abwehr und Verteidigung, um die Abgrenzung und Schaffung von Innen und Aussen, des Eigenen und des Fremden, von Wir und sie. Erkenntnistheoretisch ist es der Schnitt, der Subjekt und Objekt, den Unterschied generiert.

Biologisch gesehen haben Grenzen vermutlich das Leben überhaupt erst ermöglicht: beginnend mit den Einzellern. Zellen waren aber immer auch porös, um in einem geregelten Kontakt mit dem Aussen stehen zu können. Ein hermetischer Abschluss wäre hier tödlich. Wie beim Immunsystem, das mitunter nicht nur fremde Angreifer abwehrt, sondern sich auch gegen die eigenen Körperzellen richten kann, können Grenzen, die geschützt werden, immer auch negative Folgen haben. Gefängnisse, Gated Communities, Smart Cities und Homes sowie physische und virtuelle Grenzbefestigungen: Sie alle verfolgen letztlich den unmöglichen Traum einer absoluten Kontrolle über die ein- und abfliessenden Ströme an Daten, Dingen, Lebendigem und Menschen.

Das Ideal ist ein mit vielfältigen Schleusen und Vorsichtsmassnahmen geschützter Reinraum. Er enthält praktisch keine Fremdpartikel mehr und ist damit an sich lebensfeindlich. Solche Reinräume findet man in Serverfarmen. In diesen werden die Chips produziert, die den Kern der digitalen Welt bilden, die uns und den physischen Raum zunehmend einschliesst. Nachdem die Erde sich als bislang einzigartiges Raumschiff im Universum erwiesen hat, wird seit einiger Zeit versucht, von der Umwelt abgeschlossene Siedlungen zu konstruieren, die sich weitgehend autonom erhalten können. Ein frühes Beispiel ist «Biosphäre 2», ein Anfang der 1990er Jahre entstandenes Projekt in Arizona, das als eine kleine Erde mit verschiedenen Ökosystemen funktionieren und als autonome Lebenswelt für eine kleine Gruppe von Menschen dienen sollte. Nach zweijähriger Erprobung wurde das Projekt wegen eklatanter Mängel beendet. Smart Homes und Smart Cities scheinen technische Möglichkeiten für sichere, nachhaltige und steuerbare Wohn- und Lebenssysteme zu entwickeln. In Wirklichkeit werden hier die Voraussetzungen für autonome Lebenswelten geschaffen, die unabhängig und abgeschlossen vom Aussen an beliebigen Orten platziert werden können.

Menschen beginnen in diesem Sinn bereits, sich als Gefangene einzurichten und gewinnen fasziniert-schaurig Gefallen an Überlegungen, in der Matrix oder einer Simulation zu leben, deren eingrenzende Mauern nur aus Daten bestehen. Die Imagination setzt damit den Schnitt in der Welt aus, der Innen und Aussen abgrenzt, und versucht paradoxerweise nur ein Innen zu denken, dem das Aussen abhandengekommen ist. Bislang wurden philosophisch platonische Höhlen oder künstliche Welten konstruiert, um von einem Ausbruch ins Freie, in eben jenes Aussen zu erzählen: So etwa Wittgenstein, der einer Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigt. Während wir uns zunehmend darin zu gefallen scheinen, in einer geschlossenen Welt zu leben. Und das, ohne wirklich prüfen zu können, ob es nicht doch ein Aussen gibt.

Florian Rötzer ist ein deutscher Journalist. Er studierte in München Philosophie, Pädagogik sowie Psychologie und ist Chefredakteur beim Online-Magazin Telepolis, zu dessen Gründern er gehört.

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