Von Genf bis Kabul, Frühling bis Winter 1939

Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart reisten von Genf nach Kabul. Sie waren Monate unterwegs. Zu zweit. In einem Ford Cabriolet. Die Reise von Ella Maillart – unter anderem Reiseschriftstellerin, Olympiaseglerin und Stuntwoman – und Annemarie Schwarzenbach – unter anderem Schriftstellerin und Fotografin – beeindruckte mich sehr. Und auch wenn ich bei Annemarie Schwarzenbach las «Ich aber kannte die Worte nicht; «Freiheit» und «Unfreiheit», sie konnten mir nichts anhaben», dachte ich bei ihrer Reise doch an genau das: An «Freiheit» und «Unfreiheit». Ich dachte auch an Weite und Frische, an Bevorstehendes, noch nie Gesehenes. Und ich dachte, wenn ich an ihre Texte dachte, an unendliche Räume gefüllt mit Einsamkeit. Und auch an eine Ehrlichkeit, eine mich einehmende Haltlosigkeit und Standfestigkeit.

Von Biel in den Osten der Türkei, Sommer 2012

Lorena Simmel und ich reisten durch die Türkei. Wir waren Tage unterwegs. Zu zweit. Ohne Ford Cabriolet. Die beiden Reisen sind nicht vergleichbar. Und doch: Gemeinsam waren uns ein noch nie bereistes Reiseziel, das Reisen zu zweit und das Schreiben.

Biel, Sommer 2012

Anlass der Reise war eine Ähnlichkeit in unserem Schreiben, die uns erschreckte. Wir entdeckten sie in Biel am Literaturinstitut, wo wir studierten. Und es hätte gut sein können, dass dort ein Riss hätte entstehen können. Wir hätten die grösstmögliche Distanz zueinander suchen können. Aber wir haben das Gegenteil getan. Wir haben die Reise in die Türkei beschlossen, und wir haben beschlossen dort zu schreiben, zu zweit und zusammen.

Kabul, Winter 1939

Annemarie Schwarzenbach schrieb über Ella Maillart: «…ich kann sie nicht einfach nachahmen, wir sind zu verschieden». Und auch wir machten keine Nachahmung der Reise von Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart; die Zeiten, Umstände, die Art und Weise der Reise, die Reisenden selbst waren zu verschieden. Und doch war ihre Reise ein Vorbild. Ein Bild, das wir neu zusammensetzten, bei dem wir grosse Teile wegliessen, den Rahmen austauschten, vielleicht doch eigentlich ein ganz und gar neues Bild bauten.
Gemeinsam waren uns ein noch nie bereistes Reiseziel, das Reisen zu zweit und das Schreiben. Und in diesem Reisen in einem noch nie bereisten Land und im Schreiben dort sah ich, dass Lorena und ich uns im Schreiben zwar ähnlich, aber doch viel zu verschieden waren, um uns nachzuahmen, dass eine Verwandtschaft zwischen uns lag und vielleicht immer noch liegt, die ich dort in den Tagen in der Türkei als grosse Bereicherung empfand. Als eine Verschwesterung. Das Teilhaben an der anderen im besten Sinne.

Zürich, Frühling 2019

Das Teilhaben ist es, das ich mir wünsche. Das Teilhaben am Schreiben und Schaffen anderer Autorinnen; alter und junger Meisterinnen. Das Teilhaben am Schreiben unserer Geschichten.

Gianna Molinari ist Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert» und des Autorinnenkollektivs Rauf. 2018 erschien ihr erster Roman «Hier ist noch alles möglich» im Aufbauverlag. Für den Roman erhielt sie den Robert Walser-Preis 2018 und war für den Deutschen und für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert.

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