Wohin mit all den Werten? Du erwachst eines Morgens, so wie jeden Morgen, in irgendeiner dieser Städte, die ohnehin alle gleich sind, und noch bevor du einen Blick in die Feeds, die du Realität nennst, riskiert hast, wird dir klar, dass du noch nie mit irgendjemandem ein Gespräch über Werte geführt hast – auch wenn dir das dauernd alle weis machen wollen.

Dass man sein Gesicht in der Öffentlichkeit nicht verhüllt. Dass die einzigen Menschen, denen man ohne Not eins in die Schnauze hauen darf, Nazis sind. (Wie kann es falsch sein, wenn Captain America es tut?) Dass man zu Weihnachten einen germanischen Baum aufstellt und mit Opfergaben an Skadi und Nlördr behängt und dabei so tut, als würde man damit eines schwarzen Juden gedenken – haben wir so jahrhundertelang jene Diskretion geübt, die es uns ermöglicht, ein Bankgeheimnis aufrecht zu erhalten in einer Welt, in der wir ohne zweiten Gedanken unsere Kreditkartendaten in ein Browserfenster hacken?

Natürlich, vielleicht brauchen wir das. Was ist auch alles so verwirrend geworden. Wie sollen wir klar kommen in einer Zeit, in der uns ein schwuler Mann erklärt, dass die Menschenrechte überbewertet sind? In der uns die Tageszeitungen erklären, dass es kein staatliches Fernsehen mehr braucht, was aber nichts damit zu tun haben soll, dass sie ihr Altpapeir nicht mehr an die Menschen bekommen? Eine Zeit, in der der letzte Mann, dem wir glauben, dass er den Unterschied zwischen Bühnenshow und sexueller Gewalt kennt, Marylin Manson ist?

Vielleicht sind wir ja tatsächlich so weit. In den Metropolen der Gleichgültigkeit ziehen die Learyschen Elfen schon von Klub zu Klub – mit weniger LSD und mehr Sex, als Timothy sich das je hätte vorstellen können. Und für jeden Gorilla, der seine Strassenecke noch verteidigt als letzter Kreuzritter des echten Mannseins, werden zwei Babies von Eltern erzogen, denen es scheissegal ist, welches Geschlecht ihr Kind einst sein eigen nennen wird – oder ob überhaupt nur eins. Die Grenzen sind nur jene der Imagination. Immer. Ganz besonders, wenn wir übers Ficken reden.

Für jeden Neonazi, der in gebrochenem Deutsch darlegt, dass die Eritreer einen minderwertigen Intellekt hätten, stehen zwei Christen da, die plötzlich begriffen haben, dass er die Botschaft doch eigentlich mal an alle formuliert hatte. Und bis die sich endlich trauen, das auch laut zu sagen, werden auch zwei Moslems da stehen, die sich daran erinnern, dass hinter jedem Mann, den die Geschichte hochjubelt, immer eine starke Frau stand. Und im Fall Muhamads mindestens derer neun.

Du blinzelst. Die Welt ist immer noch da. Und du weisst, du hast keine Werte. Du hast die eine, unumstössliche Wahrheit, die du auf Wikipedia gefunden hast. Dein Seelenheil liegt in den samtigen Tatzen der Gottheit IXAT. Und deine philosophische Richtschnur, der banalste Zauberspruch, mit dem wir jede Konversation beginnen: Wie geht es dir? Vielleicht, denkst du dir, ist das gar nicht die schlechteste Voraussetzung für eine rosige Zukunft.

Etrit Hasler ist Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat. Für die Fabrikzeitung kommentiert er regelmässig das aktuelle politische Geschehen.

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