1. Gesellschaftlicher Wandel in Richtung auf eine Partizipationskultur

Die Rede von der Zukunft des Lesens im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels umfasst immer eine deskriptive (beschreibende) sowie auch präskriptive (wertende) Ebene, in der das angestrebte Ziel dieses Wandels expliziert wird. Dabei sollte im Optimalfall eine möglichst umfassende, adäquate Beschreibung der beobachtbaren Entwicklungstendenzen die Grundlage für einen zugleich idealen als auch tatsächlich realisierbaren Zielhorizont darstellen.
In Bezug auf die beobachtbaren Entwicklungstendenzen dürfte unkontrovers sein, dass sich das Lesen in absehbarer Zeit im Kontext einer von Digitalisierung geprägten Mediengesellschaft wird behaupten sollen. Deren Struktur ist geprägt durch einen starken Trend zur Medienkonvergenz, für die v.a. die Funktionserweiterung der Handies ein paradigmatisches Beispiel darstellt. Das gilt überdies ebenfalls für die Strukturen und Inhalte von unterschiedlichen Kommunikationsformen, bei denen z.B. Computerspiele die Traditionen von Romanen, Filmen etc. adaptieren. Dieser Medienkonvergenz entspricht im Rahmen der Globalisierung eine sich verstärkende Kulturkonvergenz, die sich insbesondere im Internet manifestiert (von der ästhetischen Konvergenz z.B. in «Bollywood-Filmen» bis zu den aktuellen politischen Freiheitsbewegungen im Nahen Osten). Dabei spielt das Lesen eine (mit-)entscheidende Rolle, indem es zwar nicht selbst bereits bestimmte demokratische Normen impliziert, aber deren Verbreitung und Wirksamkeit ermöglicht. Folglich ist Literalität in Zukunft nur noch im Kontext der übrigen (v.a. auch digitalen) Medien zu modellieren. Diese Modellierung extrapoliert unter präskriptiver Perspektive dann aus der Kulturkonvergenz das Ziel einer Konvergenzkultur, die zu einem friedliche(re)n Zusammenleben der Kulturen führen kann und sollte. Das impliziert eine positive, konstruktive Konzeption von Toleranz, die nicht nur in dem (passiven) Zulassen fremder Kulturen, sondern im (aktiven) neugierigen Einbeziehen kultureller Anders­artigkeit in Richtung auf eine (auch medial) umfassende Kulturalität besteht. Das Ziel einer solchen umfassenden Kulturalität ist allerdings nur zu erreichen, wenn möglichst wenige abseits bleiben, sondern im Idealfall alle in die kulturelle Teilhabe eingebunden sind. Das heißt, die zukünftige Literalität ist unter präskriptiver Perspektive als Partizipationskultur zu konzipieren, in der die heute schon vorhandenen Möglichkeiten der Interaktivität noch stärker und differenzierter ausgebaut und realisiert werden.

2. Folgerungen für den Lese-Begriff

Ein Lese-Begriff, der diese (auch zukünftigen) Entwicklungen abdecken soll, wird also zum einen (als Binnendifferenzierung) die unterschiedlichen traditionellen Text­sorten berücksichtigen, zugleich aber (als Außendifferenzierung) auch die Vernetzung mit den aktuellen digitalen Medien sowie die aus der Verbindung von Binnen- und Außendifferenzierung resultierende übergreifende Partizipationskultur umfassen müssen (vgl. Abb. 1).
Die klassische Unterscheidung zwischen literarisch-fiktionalen und pragmatischen Informations-Texten kann als Heuristik für die Unterscheidung von zwei Schwerpunkten in der Lesekompetenz eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um idealtypische Pole, zwischen denen es in der Realität fließende Übergänge und komplexe Kombinationen gibt. Worauf es bei der Konzeption des Lese-Begriffs hier vor allem ankommt, ist die möglichst gleichgewichtige Berücksichtigung der polaren Textsorten und Verarbeitungskompetenzen, die in der bisherigen Leseforschung häufig nicht optimal realisiert worden ist. Denn während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Lesekompetenz zumeist von der literarischen Fiktionskompetenz aus verstanden wurde, stehen für die internationalen Vergleichsuntersuchungen wie IGLU, PISA etc. seit den 1990er Jahren Informationstexte und die darauf bezogene Informationskompetenz im Vordergrund – nicht zuletzt, weil sich diese Variante der Lesekompetenz leichter testen lässt. Lesekompetenz lässt sich aber von beiden Polen aus erwerben, ausdifferenzieren und aufrechterhalten, so dass die definitorischen Merkmale des Lese-Begriffs beide Schwerpunkte abdecken sollten. Hier sind z.B. auch die Förderinstrumente der Stiftung Lesen daraufhin zu befragen, ob sie u.U. noch zu sehr auf den Pol der Fiktionskompetenz konzentriert sind.
Dabei bilden die definitorischen Merkmale der Textsuche, -verarbeitung, -kritik, -vermittlung und -anwendung notwendigerweise lediglich auf höchstem Abstraktionsniveau die Spitze des Eisbergs, unter der eine Fülle von spezifischeren Kompetenzaspekten und -prozessen zu subsumieren ist. Dazu gehören in der kognitiven Dimension die Teilprozesse der Worterkennung und Satz­identifikation, der Satz- und Abschnittsverknüpfung (lokale und globale Kohärenzherstellung) sowie der Textsortenkenntnis, des Erkennens der Autorintention und der Fähigkeit, in Verbindung mit dem Vorwissen ein mentales Modell zu entwickeln, was auch den Einsatz von (primären) Lesestrategien und metakognitiver Überwachung des Leseprozesses umfasst. Das ist die Grundlage für Teilkompetenzen auf der Ebene der Reflexion, nämlich über die Textinhalte und Darstellungsformen nachzudenken, intertextuelle und historische Kontexte zu berücksichtigen sowie den Erfahrungsbezug zum eigenen Leben herzustellen und gegebenenfalls zur Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen. Desgleichen sind die emotionale und motivationale Dimension nicht zu vernachlässigen, in der es um die Fähigkeit geht, Texte bedürfnisbezogen auszuwählen, positive Gefühle mit der Lektüre zu verbinden und die Lesesituation zu genießen, so dass Zielstrebigkeit, Ausdauer und positive Gratifikationserwartungen entstehen können. Und schließlich hat sich für die Entwicklung und Stabilität der Lesefähigkeit die soziale Dimension der Anschlusskommunikation als essentiell erwiesen, in der es um den Austausch mit anderen über Gelesenes geht, einschließlich der Tolerierung anderer Rezeptionsperspektiven bzw. sogar dem Aushandeln von Bedeutungskonsensen.
Im Kontext der übrigen (vor allem digitalen) Medien (Außendifferenzierung) geht es zunächst einmal darum, dass kompetente Leser/innen einen je individuellen Medienverbund aufbauen: als diejenige Kombination von Medien, die ihren persönlichen Bedürfnissen sowie den jeweiligen Notwendigkeiten an gesellschaftlicher Teilhabe am besten gerecht wird. Diese Kombination wird im Schulunterricht insbesondere von der handlungs- und produktionsorientierten Literaturdidaktik eingeübt, muss aber auch außerhalb der Schule von allen Medienteilnehmern entwickelt werden, und zwar möglichst reflektiert, d.h. verbunden mit einem Medialitätsbewusstsein, das in Form einer subjektiven Medien-Theorie einen möglichst großen Durchblick durch die Medienlandschaft und konstruktiven Umgang mit ihr erlaubt. Eine solche im Idealfall reflektierte Kombination von Mediennutzung/en ist dann auch die Grundlage für eine kompetente Navigation innerhalb («cis») eines jeden Mediums und über («trans») die verschiedenen Medien hinweg. Das betrifft z.B. nicht nur den kompetenten Einsatz von Suchstrategien innerhalb der digitalen Hypertextstrukturen (zur Vermeidung des Phänomens «lost in hyperspace», wofür im Übrigen die (Weiter-)Entwicklung klassischer Lesestrategen essentiell ist). Sondern es geht auch darum, Informationen (des gesamten kulturellen Gedächtnisses, also einschließlich Mythen, Legenden, Motiven etc.) in den verschiedenen medialen Versionen erkennen und sich ggf. produktiv an deren Fortführung beteiligen zu können. Wegen der zunehmend großen Komplexität und Differenziertheit der Medienlandschaft ist hier allerdings zu überprüfen, ob man nicht auf die Dauer von der immer noch weitgehend vorherrschenden Idealvorstellung eines gemeinsamen Bildungskanons Abstand nehmen und gruppenspezifische Bildungsvoraussetzungen akzeptieren und unterstützen sollte. Es resultiert dann im Optimalfall eine medienspezifische Kommunikation, die vor allem durch eine adaptive Verarbeitungstiefe gekennzeichnet sein sollte (abhängig von dem Verarbeitungsziel, der Medienstruktur etc.), wie sie bereits seit jeher für das Lesen als optimal gesichert werden konnte und die deshalb auch vermutlich besonders gut über die Schlüsselkompetenz Lesen entwickelt werden kann. Innerhalb eines komplexen Medienverbundes impliziert das schlussendlich außerdem ein gleichzeitiges Mehrfachhandeln innerhalb verschiedener Medien (als transmediales Multitasking), wie es etwa die «Google-Brille» mit der Kombination von Wahrnehmungen und Handlungen sowohl in der realen Umgebung als auch in medialen Kommunikationen eröffnet und erfordert. Damit wird eine Kommunikations- und Handlungsfähigkeit in mehreren Realitätsebenen erreicht, die idealerweise keinen Verlust an Verarbeitungstiefe zur Folge hat und damit eine selbstbestimmte Strukturierung der immer weiter ansteigenden Informationsdichte unserer medial bestimmten Welt ermöglicht.
Die Verbindung von Informations- und Fiktionskompetenz im Printmedium (Binnendifferenzierung) und der Vernetzung mit den übrigen (gerade auch digitalen) Medien (Außendifferenzierung) stellt dann jene Partizipationskultur dar, die sich eingangs als zentrale Zielperspektive aus der aktuellen und zukünftigen Medienentwicklung qua gesellschaftlichem Wandel ergeben hat. Dabei impliziert der positiv wertende Ausdruck «Kultur», dass es sich hier um konstruktive Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe handelt, nicht um einen Partizipationszwang, wie er in manchen Jugend-Subkulturen in Form eines unreflektierten Gruppendrucks zu beobachten ist. Im Kontext der medialen Vernetzung bedeutet Partizipation unvermeidbarer Weise eine Aktivierung, d.h. dass Rezeptions- und Produktionsprozesse noch intensiver als früher ineinandergreifen. Der schnelle Wechsel bei der SMS-Kommunikation ist nur ein, allerdings paradigmatisches, Beispiel dafür. Grundsätzlich folgt daraus, dass konzeptuell von einer starken Integration der Lese- mit der Schreibkompetenz auszugehen ist (und parallel auch von der Hör- und Redekompetenz, vor allem bei den Vorläuferfähigkeiten zum Lesen. Zugleich erfordert nicht nur, aber besonders auch die Geschwindigkeit des medialen Wandels ein lebenslanges Lernen, das außerdem in möglichst spielerischer Form erfolgen sollte, d.h. z.B. an konkreten (Alltags-)Problemen, wie es die konstruktivistische Lehrtheorie propagiert und umsetzt. Damit liegt eine produktive Medienintegration vor, in der Lesen wegen seiner basalen Funktion in den verschiedensten Medien und auf den unterschiedlichsten Ebenen der Sozialisation qua Ko-Konstruktion weiterhin als Schlüsselqualifikation anzusehen und anzusetzen ist. Sozialisation als Ko-Konstruktion bedeutet, dass die heutige Gesellschaft eine Bandbreite von Mitgliedschaftsentwürfen anbietet, aus der das Individuum die ihm entsprechende Variante auswählt und konstruktiv (weiter-)entwickelt. Dadurch hat Lesen (und generell jede Mediennutzung) auch die Funktion einer Identitätsentwicklung, bei der sich die Konstruktivität als flexible Pluralität manifestiert, die die bestmögliche Antwort auf die Komplexität der Medien- und Informationsgesellschaft darstellt; das gilt auch und in besonderem Maße unter der Perspektive der immigrationsbedingten kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaft, durch die Identitätspluralität überdies mit Sprachpluralität vergeschwistert ist. Die (anzustrebende) Konvergenzkultur dieser pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten darin, dass die Integration von Lese- und Schreibkompetenz auch auf der überindividuellen Interaktionsebene, d.h. in Form kooperativer Vernetzung, geschieht, was zu qualifizierten Wissensgemeinschaften als Manifestationen kollektiver Intelligenz führt; Wikipedia stellt hier ein erstes, sicher aber nicht letztes, paradigmatisches Beispiel dar. Damit eröffnen sich zudem Wege für das Verstehen und Respektieren unterschiedlicher Weltsichten in einer multikulturellen Gesellschaft, die im Optimalfall zum Aushandeln konstruktiver Konsense als kultureller Plastizität führen.

3. Die Moderator- Dimensionen: Alter, Geschlecht, Schicht

Die bisher explizierten Merkmale stellen generelle Aspekte des Lese-Begriffs dar, die im Kontext des (aktuellen und zukünftigen) medialen Wandels möglichst umfassend abgedeckt werden sollten. In Bezug auf die situationsspezifische Entwicklung von Lesekompetenz sind darin allerdings drei klassische Moderator-Dimensionen enthalten, die insbesondere für die Leseförderung berücksichtigt werden müssen, nämlich Alter, Geschlecht und Schicht (heute vor allem unter dem Terminus «Bildungsferne» diskutiert). Die Relevanz des Altersfaktors wird unter der Perspektive der Leseförderung vor allem durch den Anteil der sekundären Analphabeten deutlich, die den Gegenpol zum Merkmal des lebenslangen (spielerischen) Lernens darstellen. Im Idealfall führt ein lebenslanges Lernen dagegen dazu, dass das Networking in Form kollektiver Intelligenz generationenübergreifend abläuft. Dazu ist allerdings im individuellen Lebenslauf eine Flexibilität der Lehr-Lern-Rollen nötig. Denn einerseits hat für Kleinkinder die ältere Generation ganz eindeutig die Lehr-Rolle inne (z.B. durch Vorlesen etc.), so dass durch die Entwicklung der Hör- und Redekompetenz auch die Vorläuferfähigkeiten des Lesens (phonologische Bewusstheit etc.) ausgebildet werden. Die Schnelligkeit des medialen Wandels führt aber andererseits dazu, dass im späteren Leben in Bezug auf die Rolle des Lesens im medialen Kontext die ältere Generation von der jüngeren (z.B. heute den «digital natives») lernen kann und muss. Was den Schichtfaktor angeht, so ist die negative Wirksamkeit von bildungsfernen Lebensräumen für die Lesesozialisation ein Dauerproblem, das in Deutschland insbesondere durch den internationalen Vergleich ins Bewusstsein getreten ist, weil bei uns die Schule noch sehr viel weniger als in anderen Ländern die eigentlich zugeschriebene Funktion der Kompensation von Bildungs-Schicht-Nachteilen bewerkstelligt. Und der Geschlechtsfaktor (in Form des sozialen Geschlechts: gender) ist seit Jahrhunderten mit der zentralen Binnenstruktur des Lesens, d.i. der Polarität von Fiktions- vs. Informationskompetenz, kontaminiert. Weibliches Lesen ist idealtypisch mehr auf fiktionale Texte ausgerichtet als männliches, verbunden mit einer höheren Bereitschaft und Fähigkeit, die Lektüre als fiktionales Probehandeln auf die eigene Lebenswirklichkeit zu beziehen und dadurch für die Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen. Dagegen legt das männliche Lesen idealtypisch das größere Schwergewicht auf pragmatische (Informations-)Texte (und damit die Informationskompetenz), steht damit allerdings beim Verschwinden von Informationsnotwendigkeiten auch in der größeren Gefahr des Versandens von Lesekompetenz. Besonders virulent und augenfällig wird diese Gefahr bei männlichen Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten, bei denen die pubertätsbedingte Lesekrise nicht konstruktiv überwunden wird, sondern bis zum Leseabbruch gehen kann (s.o. «sekundäre Analphabeten»). Dieses Phänomen, bei dem alle drei Moderatorvariablen zusammenspielen, macht deutlich, dass für die Praxis der Leseförderung in der Mediengesellschaft die Interaktion von Alter, Geschlecht und Schicht in den skizzierten Kompetenzaspekten als Merkmalsräume eines umfassenden, adaptiven Lese-Begriffs zu berücksichtigen sein werden.

Norbert Groeben, paralleles Studium der Psychologie und (germanistischer) Literaturwissenschaft mit Abschluss Habilitation in beiden Fächern; Ordinarius für (Allg.) Psychologie (Uni Köln, pensioniert) und Honorarprofessor für (Allg.) Literaturwissenschaft (Uni Heidelberg); literarisches Pseudonym: Ben Roeg
Dies ist ein gekürzter Wiederabdruck. Literaturhinweise finden Sie in der Erstveröffentlichung: Groeben, N. (2013). Zukunft des Lesens: Folgerungen für den Lese-Begriff. In: J.F. Maas & S.C. Ehmig (Hrsg.), Die Zukunft des Lesens. Mainz: Stiftung Lesen, 46 – 53

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert