Eine historische Einführung von Aurelia Rohrmann: Vor 25. Jahren wurde das «Manifest vom 21. Januar 1997» in grossen Schweizer Zeitungen publiziert. Madeleines Dreyfus veröffentlichte dazu ihre «Thesen zum Schweizerischen Antisemitismus». Der Anlass war und ist aktuell: 50 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges war die Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus noch kaum aufgearbeitet. Im Jahr 1996 wurde die «Volcker-Kommission (ICEP)» mit dem Ziel eingerichtet, die Bankkonten und Vermögen der Opfer des Nationalsozialismus zu erfassen und zu entschädigen. Zeitgleich wurde die Unabhängige Historikerkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK, genannt «Bergier-Kommission») ins Leben gerufen. Der mediale Höhepunkt der Debatte stellte Ende 1997 das antisemitische Interview des Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz in den Tageszeitungen «Journal de Genève» und «24 Heures» dar, worin er jüdische Organisationen der Erpressung bezichtigte. Die über sein Präsidialjahr drängenden und öffent­lichkeitswirksamen Forderungen jüdischer Holocaust-Überlebender zugunsten anständiger Restitutionen ihrer verlorenen Bankkonten fasste er folgendermassen zusammen: «Auschwitz ist nicht in der Schweiz.» Delamuraz sprach von einer jüdisch-anglo-amerikanische Verschwörung, die darauf abzielen sollte, den Finanzplatz Schweiz zu zerstören. Seine antisemitischen Äusserungen sorgten für einen internationalen Aufschrei – und für Schweigen in der Schweiz sowie einen Anstieg antisemitischer Taten.

Um dem «wochenlangen unerträglichen offiziellen Schweigen etwas entgegenzusetzen», traf sich Anfang 1997 eine «kleine, heterogene Gruppe von Leuten verschiedener Herkunft, verschiedener Gener­­ationen und Berufe, verschiedener politischer Einstellung und auch aus verschiedenen Landesteilen», beschreibt Madeleine Dreyfus das von der «Wochenzeitung» (WOZ) veröffentlichte «Manifest vom 21. Januar 1997». Das Manifest thematisiert die Abwehr historischer Verantwortung und fragt nach dem Verbleib des Raub­golds und Vermögens von Opfern der Shoah. Es richtet sich gegen den Antisemitismus in der Schweizer Gesellschaft. Die Thesen erschienen in leicht veränderter Version in MOMA 2/97 (Monats­magazin für neue Politik). Sie zeigen eindrücklich, dass sie nichts an ihrer Aktualität verloren haben.

Fünf Thesen zum Schweizer Antisemitismus
Allgemeine Vorbemerkung

Wenn man von Antisemitismus spricht, meint man meistens Feind­schaft gegen JudenJüdinnen ganz allgemein. Erstmals taucht der Begriff 1879 auf, als um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Assimilation von säkularen JudenJüdinnen als Bürgerinnen der neu entstehenden europäischen Staaten gerungen wurde. Rück­wirkend wird das Wort auch auf frühere gegen JudenJüdinnen gerichtete Äusserungen oder Handlungen angewendet. Man unterscheidet zwischen religiösem, wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und rassistischem Antisemitismus. Antisemitismus ist immer ein Moment in einem gesellschaftlichen Prozess und kein unabhängiges Phänomen. Antisemitismus ist demnach keine Krankheit, sondern ein gesellschaftliches Symptom, ein noch unverstandenes, aber bedeutungsvolles und in jedem einzelnen gesellschaftlichen Kontext wieder neu erklärungsbedürftiges Zeichen.

Antisemitismus äussert sich in gewissen Zeiten manifest; wenn und wo das nicht der Fall ist, ist er dennoch latent vorhanden in den westlichen Gesellschaften. Der latente Antisemitismus ist unterschwellig und dem Individuum oder der Gesellschaft nicht bewusst. Er kommt in bestimmten historischen Konstellationen zum Vorschein, wie zum Beispiel jetzt in den Äusserungen von Bundesrat Delamuraz 50 Jahre nach Kriegsende unter dem Druck der von einem publicitybewussten amerikanischen Senator unterstützten jüdischen Forderung nach der Schaffung eines Schweizerischen Fonds für Holocaust-Opfer.
Der gelebten Erfahrung der Juden*Jüdinnen – auch in der Schweiz – wird aber nur eine viel weitere und umfassendere Definition des Begriffs Antisemitismus gerecht: Eine Palette von antijüdischen Stereotypien, Einstellungen, Meinungen, Vorurteilen und Handlungen, die keineswegs die Vernichtung des Einzelnen im Sinn haben, sondern eine Meinung wiedergeben über das, was überindividuell für «typisch jüdisch» gehalten wird. Bei Adorno heisst das: Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.

1 – Die Mythisierung der Schweizer Neutralität exportiert das Schuldgefühl.

Die Gleichung: neutrale Schweiz = unschuldige Schweiz ist eine bewährte und tröstliche Legende. Für die meisten Schweizerinnen ist Antisemitismus nach wie vor ein deutsches Problem. Dafür ist Bundesrat Delamuraz das neueste Beispiel («on pourrait croire qu’ Auschwitz est en suisse»). Seine Äusserungen wurden in der Deutschschweizer Presse gar nicht im Ganzen, erschreckenden Umfang übersetzt. Antisemitismus wird gleichgesetzt mit seiner extremsten Ausformung, der physischen Vernichtung in Auschwitz. Logischerweise braucht man hier deshalb keine Schuldgefühle zu haben. Es gibt demnach auch nichts wiedergutzumachen. Dem Krisenmanagement der letzten zwei Monate nach haben unsere Behörden nicht begriffen, worum es bei den sogenannten jüdischen Forderungen geht: Es geht darum, dass wir Schweizerinnen wahrhaftig mit unserer eigenen Geschichte umgehen, zur Schweiz stehen, wie sie war und ist. Dabei wirkt als verhindernder Faktor folgendes: Meine zweite These heisst:

2 – Zur spezifisch schweizerischen Art des Antisemitismus gehört, dass er nichts von sich weiss.

Ich bin überzeugt, dass obwohl Bundesrat Delamuraz den Vorwurf, Antisemit zu sein, von sich weist, ihn viele Leute trotzdem so verstanden haben. Dies zeigt der sprunghafte Anstieg der antisemitischen Äusserungen, die exponierte jüdische Personen und Organisationen bekommen. Jetzt, wo sich ein Bundesrat «geoutet» hat, müssen sie auch nicht mehr anonym bleiben. Es kann keinen offenen Antisemitismus in der Schweiz geben – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die umgestürzten Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof sind nur dumme Bubenstreiche. Das Schächtverbot besteht offiziell aus Tierschutzgründen; der langjährige Präsident des Tierschutzvereins sei nur in Bezug auf das Schächten ein glühender Antisemit. Die skandalöse Verharmlosungsstrategie des St. Galler Freisinns im Falle des Auschwitzleugners Fischbacher ist für die Schweiz normal.

3 – Eine besonders effiziente Form des schweizerischen Antisemitismus zeigt sich gerade in den Auslassungen und Verzerrungen.

Der schweizerische Antisemitismus ist wie gesagt nicht laut; er verbirgt sich hinter Indifferenz und Desinformation. So kommen JudenJüdinnen in der Erinnerungsproduktion zum Zweiten Weltkrieg entweder gar nicht oder als abgewiesene Flüchtlinge vor. Das Thema und das Wort «jüdisch» wird bis vor ganz kurzem allgemein vermieden. Im Computerarchiv des Schweizer Fernsehens betreffen die allermeisten Einträge unter «jüdisch» die Siedlerinnen in den besetzten Gebieten Israels. Zur Desinformation gehört, dass die Zahl – und der Einfluss – der in der Schweiz lebenden JudenJüdinnen masslos überschätzt wird: es sind immer noch, wie in der Zwischenkriegszeit, nur etwa 18’000 sich als «israelitisch» bezeichnende Personen. Die historischen Fakten widersprechen dem auch in der Linken verbreiteten Glauben, dass die diskriminierenden Massnahmen während des Krieges in dem Moment nachliessen, wo sich der Sieg der Alliierten abzuzeichnen begann. Die grausame Eile, mit der man in der Schweiz die jüdischen Flüchtlinge nach Kriegsende wieder los werden wollte, wurde nie mit derselben Empörung zur Kenntnis genommen, wie ihre Rückweisung in den fast sicheren Tod. Selten ist vom Verlust die Rede, den die Schweiz durch die Weiterführung der unerbittlichen Flüchtlingspolitik auch nach Kriegsende erlitten hat. Ich meine hier vor allem Verluste auf kulturellem Gebiet. Man weiss gerade noch, dass das Zürcher Schauspielhaus während des Krieges seine Glanzzeit hatte. Aber warum und wohin all die Leute wieder verschwanden… Schriftstellerinnen, Musikerinnen, bildende Künstlerinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen und wer weiss, vielleicht auch begnadete Gastronom*innen, die gefillte Fisch so heimelig wie Pizza gemacht hätten. In diesen Abschnitt gehört auch die Verschiebung vom nicht aussprechbaren Jüdischen zu Israel, an das als Staat gerade wegen des Holocaust besondere Ansprüche gestellt werden.

4 – Die Neutralität wirkt neutralisierend auf die Empörung
über die Flüchtlingspolitik.

Die von offensichtlich vielen Schweizer*innen empfundene tiefe und anhaltende Empörung über die Politik des vollen Bootes hat keine politische Resonanz gefunden. Die Empörung wird vollkommen neutralisiert durch die Rechtfertigungstendenz (die Schweiz war gefährdet), die mit einer gewissen Selbstüberhöhung einhergeht (die direkte Demokratie als Modellfall), und neuerdings noch durch die Ehrenrettung der Schweiz durch das Verhalten Einzelner. Die Rehabilitierung von Hauptmann Grüninger nach mehr als fünfzig Jahren erfolgte aus dem Bedürfnis nach einer vorbildlichen Identifikationsfigur – eine Art Schweizer Schindler in der Winkelriedtradition.

Man meint, mit der Selbstanklage des doch nicht ganz voll gewesenen Bootes die Schuld auf sich genommen zu haben. Gleichzeitig findet jedoch als Gegenbewegung die Hochhaltung des Sonderfalls statt, die durch die Mythisierung der Neutralität die zugegebene Schuld neutralisiert und so wieder ungeschehen macht. Neutralität ist somit nicht nur ein Programm nach aussen, sondern auch nach innen. Der Konflikt wird entschärft, die ätzende Säure des schlechten Gewissens und der Scham mit einer Lauge, gemischt aus Sonderfall, humanitären Werken und Empörung neutralisiert. So funktioniert die betäubende Wirkung der Illusion des Sonderfalls. Deshalb hat die Betroffenheit auch keine politischen Folgen, das Flüchtlingswesen wird nicht etwa einem anderen als dem Polizei- und Justizdepartement unterstellt. Denken und Handeln bleiben voneinander abgespalten.

5 – Antisemitismus ist ein Angriff auf die Demokratie.

Der Antisemitismus in der Schweiz (und überall) ist nicht ein jüdisches Problem. Antisemitismus ist eine Bedrohung der Demokratie und des Rechtsstaates, der auf der Idee von Freiheit, auch Religionsfreiheit, und Gleichheit beruht. Deshalb müssen alle diejenigen, die diesen Staat als den bis heute bestmöglichen erachten, sich durch Antisemitismus angegriffen fühlen und sich dagegen wehren. «Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert‹noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist». Walter Benjamin meint damit den Glauben an den Fortschritt des Menschengeschlechts in der Geschichte. Gerade heute ist es nötig, sich ganz genau bewusst zu sein, dass der Wert, der von vielen für selbstverständlich und unangreifbar gehaltene Demokratie sich daran misst, wie sie ihre Minderheiten behandelt.

Madeleine Dreyfus, geboren in Zürich, ist selbstständige Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin. Sie schreibt über Identitätskonstruktionen, säkulares Judentum, Antisemitismus und Geschichtsbilder der Schweiz.
Der vorliegende Text wurde ursprünglich 1997 im MOMA (Monatsmagazin für neue Politik) veröffentlicht.

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