«Wenn du nicht in deine Heimat reisen und deine Familie sehen kannst, verlierst du deine Hoffnung. Du verlierst deine Motivation zu arbeiten und die Lust zu leben. Du hast keine Willenskraft mehr. Es ist ein Leben voller Blockaden», antwortet mir Kushtrim (Name geändert) auf die Frage, wie es sich angefühlt hat, als Sans-Papier in der Schweiz zu leben.

Seit etwa zehn Jahren bin ich mit Kushtrim befreundet. Ich kenne ihn als lustigen und lebensfrohen Menschen, mit dem ich stets gute Gespräche führen kann. Nie habe ich mich getraut ihn zu fragen, wie er in die Schweiz gekommen ist, und was für Ängste und Sorgen er die letzten Jahre mit sich durchs Leben getragen hat. Bis jetzt.

Kushtrim entschied sich 2008 dazu, aus dem Kosovo zu flüchten. In dem Jahr, als das Land für unabhängig erklärt wurde. Er war damals 24 Jahre alt. «Zu der Zeit war mir nicht bekannt, dass wir uns für ein Arbeitsvisum hätten bewerben können», antwortet Kushtrim, als ich ihn frage, warum er es nicht auf dem legalen Weg versucht hat. Da die Schweiz den Kosovo erst am 17.Dezember 2008 als unabhängigen Staat anerkannt hat, sind aussagekräftige Zahlen über den Kosovo erst ab 2009 möglich. Laut dem Staatssekretariat für Migration SEM sind im Jahr 2009 in der Schweiz 694 Asylgesuche aus dem Kosovo eingegangen. Im März 2021 sind es nur noch zehn Gesuche.

Ich habe auf alles verzichtet, um irgendwann ein besseres und freieres Leben zu bekommen.

Wie so viele andere wollte Kushtrim seiner Familie und sich selbst ein besseres Leben ermöglichen. Dass Kosovo ein unabhängiges Land geworden war, änderte seine Entscheidung damals nicht. Es war keine Hoffnung mehr da. «Zuerst bin ich nach Serbien gefahren. Dort habe ich zwei Nächte verbracht. Danach bin ich illegal nach Ungarn. Ich bin neun Stunden gelaufen. Am nächsten Morgen um fünf Uhr bin ich in Ungarn angekommen. Dort haben Autos auf mich und andere Geflüchtete gewartet. Diese haben uns dann in die Schweiz gebracht. Als ich ohne Papiere über die vielen Grenzen geflüchtet bin, hat es sich so angefühlt, als würde ich das Meer überqueren wollen, ohne auf einem Schiff zu sein.»

Als Kushtrim in Genf ankam, zog er zusammen mit sieben anderen Männern in ein Zimmer. Dort wartete er vergebens auf Arbeit und ein besseres Leben. «Es ist jeden Tag schwieriger geworden an Essen zu kommen. Von Arbeit und einer Wohnung wurde erst gar nicht gesprochen.» Nach einem Jahr begann Kushtrim schwarz auf dem Bau zu arbeiten. Manchmal putzte er auch bei hohen Gebäuden die Fenster. Ohne Versicherung und mit schlechter Bezahlung. Er hatte keine andere Wahl.

Es hat sich angefühlt, als wäre ich neu geboren. Ich konnte wieder leichter atmen und lächeln.

Es vergingen zehn Jahre, ohne dass Kushtrim seine Familie und Heimat hätte besuchen können. «Ich habe auf alles verzichtet, um irgendwann ein besseres und freieres Leben zu bekommen.» Dann kam endlich der sehnlichst erwartete Moment. In Genf erhielt Kushtrim die Möglichkeit, sich für ein Visum zu bewerben. Nach zwei Wochen hielt er die Papiere in seinen Händen. «Es hat sich angefühlt, als wäre ich neu geboren. Ich konnte wieder leichter atmen und lächeln.»
Als erstes fuhr Kushtrim nach Kosovo, um seine Familie zu überraschen. Die Emotionen kann er heute immer noch nicht in Worte fassen. Zurück in der Schweiz teilt er heute mit einem Freund eine Wohnung und führt einen geregelten Job. Er hat das Recht zu bleiben und hier zu arbeiten. Seit zwei Jahren wartet er jedoch auf seinen Ausländerausweis.

Wir in Nordmazedonien haben es ein bisschen leichter als Menschen im Kosovo. Wir können ohne ein Visum nach Europa reisen  und drei Monate bleiben.

Nach dem Gespräch mit Kushtrim treffe ich Adelina (Name geändert) via Video Call. Adelina ist 22 Jahre alt und wohnt in einem kleinen Dorf in Nordmazedonien. Ich spreche das erste Mal mit ihr. «Wir in Nordmazedonien haben es ein bisschen leichter als Menschen im Kosovo. Wir können ohne ein Visum nach Europa reisen und drei Monate bleiben», erzählt sie.

Mit 16 Jahren nutzte sie diese Möglichkeit und fuhr zum ersten Mal in die Schweiz. Nicht um Urlaub zu machen, sondern um illegal zu arbeiten. «Die Landesgrenzen zu überqueren war für mich immer ein Horror. Wir wurden jedes Mal sehr lange befragt. Manchmal glaubten sie mir nicht, dass ich die Person auf meinem Pass war, oder dass ich Leute in der Schweiz kannte. Einmal sah ich, wie die Zöllner einen jungen Mann mitnahmen. Ich hatte so grosse Angst. Hinzu kam, dass wir beim Zoll aufweisen mussten, dass wir genügend Geld dabei hatten, um in die Schweiz reisen zu können. Ich hatte jeweils nur 50 Franken dabei. Also lieh mir die Reiseagentur die restlichen 600 Franken, um über die Grenzen kommen zu können. Am Schluss der Reise musste ich das Geld zurückgeben. Ich hatte immer Angst, es auf dem Weg zu verlieren.»

In der Schweiz arbeitete Adelina bei einer Familie mit zwei Kindern. Von Montag bis Sonntag machte sie den Haushalt und hütete die Kinder. «Ich habe viele junge Frauen in der Schweiz kennen gelernt, die so viele Möglichkeiten gehabt hätten, aus ihrem Leben etwas zu machen und unabhängig zu werden, diese aber nicht genutzt haben. Es hat mir wehgetan, dies mit anzusehen. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, wäre ich so glücklich gewesen.»

Meine Familie hat mich gefragt, warum ich mich so anstelle. Sie waren sich nicht bewusst, wie heftig meine Arbeitsbedingungen gewesen waren.

Abends, wenn die Kinder schliefen, lernte Adelina für die Mittelschule. Nach drei Monaten ging sie zurück nach Nordmazedonien, um da ihre Prüfungen zu schreiben. Danach mussten drei weitere Monate verstreichen, bevor sie wieder in die Schweiz zurückkehrte, um weiter zu arbeiten. Das Hin und Her machte sie ungefähr fünf Jahre lang. Und das für einen Monatslohn von 400 Franken. «Während meiner Zeit in der Schweiz habe ich irgendwann die Familie gewechselt, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. Bei der neuen Familie habe ich dann eine Bedingung aufgestellt: Ich wollte an den Wochenenden frei haben.»

Die neue Familie hatte die Bedingung von Adelina akzeptiert, die Bezahlung war jedoch immer noch sehr tief. Mit dem verdienten Geld unterstützte Adelina ihre Familie. Davon blieb für sie nicht viel übrig. Ursprünglich hatte Adelina das Geld in ihre Ausbildung investieren wollen. «Mit der Zeit bin ich sehr müde geworden. Ich konnte einfach nicht mehr weitermachen. Meine Eltern haben dann endlich Arbeit gefunden und ich habe mich entschlossen, nicht mehr schwarz in der Schweiz zu arbeiten. Ich war nicht nur körperlich ausgelaugt, sondern auch psychisch völlig am Ende. Meine Familie hat mich gefragt, warum ich mich so anstelle. Ich hätte es ja so gut in der Schweiz. Sie waren sich nicht bewusst, wie heftig meine Arbeitsbedingungen gewesen waren und wie schlecht ich von den jeweiligen Familien behandelt wurde.»

Während sie in der Schweiz arbeitete, hörte sie, dass ihr Onkel im Sterben lag. Die Arbeitgeber*innen verboten Adelina, für einen Besuch nachhause zu fahren. «Als mein Onkel dann gestorben ist, habe ich nicht mehr arbeiten können. Ich konnte nicht einmal mehr mein Bett verlassen. Als die Frau nach Hause gekommen ist und sich wieder über mich beschwert hat, habe ich meine Tasche genommen und bin einfach raus, sonst wäre ich explodiert.»

Adelina möchte nun auf legalem Weg nach Deutschland, um dort Geld zu verdienen, welches sie später endlich in ihre Ausbildung investieren kann. Es ist ihr egal, ob sie nun in der Reinigung arbeitet oder in einem MC Donalds. «In Deutschland ist es viel einfacher ein Arbeitsvisum zu bekommen als in der Schweiz. Im März 2019 habe ich mich für ein Visa angemeldet. Eigentlich hätte ich den Antrags-Termin im Mai 2020 bekommen, doch wegen der Pandemie wurde der Termin verschoben, immer aufs Neue, bis er schlussendlich verfallen ist. Corona hat meine Situation sehr erschwert. Ich finde nicht mal mehr hier in Nordmazedonien Arbeit.»

Sie sagen, ich sollte keine Träume haben. Doch ich möchte nicht wie andere Frauen hier meine Sorgen durch eine Heirat lösen.

Adelina ist auf sich allein gestellt. Ihre Familie unterstützt sie nicht bei ihrem Vorhaben und drängt sie zur Heirat. «Eine junge Frau wie du sollte nicht alleine versuchen in Deutschland Arbeit zu suchen», meint ihr Umfeld. Doch Adelina möchte das nicht. Sie will unabhängig werden und später einen guten Job ausüben, der sie erfüllt und ihr ein besseres Leben ermöglicht.

Die vielen Hürden und der Druck ihrer Familie haben dazu geführt, dass Adelina an einer Depression erkrankt ist. Sie schläft von früh bis spät, um ihren Problemen aus dem Weg zu gehen, wie sie sagt. Durch die Arbeitslosigkeit und die Pandemie fühlt sie sich in den eigenen vier Wänden eingesperrt. Freunde trifft sie keine mehr. «Seit ich aus der Schweiz zurück bin, finde ich keinen gemeinsamen Gesprächsstoff mehr mit ihnen. Ich bin weltoffener geworden und sie eben nicht.» Sie hat sich dazu entschlossen, ihren Versuch nach Deutschland zu gehen, für den Moment beiseite zu schieben. «Jetzt ist Ramadan. Ich bin am Fasten und möchte mir selbst eine Pause gönnen von den ganzen Sorgen und dem ewigen Überdenken meiner Situation.»

In ihrer Heimat fühlt sich Adelina schon lange nicht mehr wohl. «Viele Leute in meinem Umfeld hier, sagen mir: S’bon me pas andrra. – Ich sollte keine Träume haben, und ich würde nur meine Zeit verschwenden, wenn ich meinen Träumen nachzugehen versuche. Doch ich glaube ihnen nicht. Ich möchte nicht wie andere Frauen in meinem Dorf enden und meine Sorgen durch eine Heirat lösen. Was kann ich denn dann meinen Kindern bieten? Ich möchte meine Zukunft selbst in die Hand nehmen und mir zuerst selbst helfen.»

Ich frage Adelina, woher sie ihre Kraft nimmt, immer weiter zu machen. «Ich weiss es nicht. Es ist eine innere Kraft, die mich antreibt. Eine Stimme, die mir sagt, dass ich nicht aufgeben darf.»

Arzije Asani arbeitet als Redakteurin beim SRF Format «We, Myself and Why» und ist nebenbei als freischaffende Journalistin tätig.

2 Kommentare auf “Zwei Wege, unzählige Grenzen

  1. Ella sagt:

    Hallo Arzije, ich finde es schön, dass du diesen starken Persönlichkeiten durch diesen Beitrag eine Stimme gibst und es für andere ermöglichst sich besser in sie hineinzuversetzen und sie zu verstehen. Toller Beitrag!

  2. arzije sagt:

    Liebe Ella. Vielen Dank für deine Nachricht und dass du dir Zeit genommen hast, den Artikel zu lesen <3

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