Es ist nicht unerheblich, was für ein Gesicht man von einer Person vor Augen hat. Von Martin Luther gibt es etwa 500 schon zu Lebzeiten gefertigte Bildnisse, darunter die berühmten Porträts von Lucas Cranach des Älteren, welcher Hofmaler des Kurfürsten von Sachsen war. Sie zeigen, wenn wir weitere Bilder von damals renommierten Künstlern wie Albrecht Altdorfer, Hans Baldung Grien, Hans Holbein und Albrecht Dürer hinzunehmen, den deutschen Reformator in der ganzen Spannweite seiner Persönlichkeit. Hier wurde ein vielschichtiges Lutherbild geformt, das unseren Blick noch heute prägt: der ernste Mönch, der akademische Theologe, der mutige «Junker Jörg» mit Vollbart, der kraftvolle Prediger und lebensfreudige Ehemann. Das alles spielt mit, wenn man an Luther denkt oder Lutherschriften liest: Man hat einen lebendigen, vielseitigen Menschen vor Augen.

Ein steifer, freudloser Mann mit seltsam verkniffener Mundpartie und einem mürrischen Blick ins Weite

Von Huldrych Zwingli hingegen kennen wir kein einziges, zu Lebzeiten gemaltes Porträt. Unser Bild des Zürcher Reformators beruht auf zwei Gemälden Hans Aspers von 1531 und 1549, beide nach Zwinglis Tod gemalt. Auf ihnen ist beides Mal, in fast identischer Malweise, ein steifer, freudloser Mann im Profil zu sehen, mit seltsam verkniffener Mundpartie und einem mürrischen Blick ins Weite. Und weil wir nur diese unerfreulichen Zwinglibilder haben, ist auch das Bild, das viele Menschen sich von ihm machen, ein unerfreuliches. Wenn – ja, wenn es sich bei einem Bildnis Albrecht Dürers aus dem Jahr 1516, das einen jungen Geistlichen darstellt (und heute in der National Gallery Washington hängt), nicht doch um ein Zwingliporträt handeln sollte. Obwohl dies durchaus möglich wäre, denn Dürer und Zwingli sind sich begegnet, so ist es doch umstritten, ob der Porträtierte wirklich Zwingli ist. Auf dem Bild selber finden sich keine Angaben.

Ja, er habe eigentlich die Mentalität und Charakterzüge eines heutigen Taliban gehabt.

Solange die Diskussion unter Kunsthistorikern und Theologen noch unentschieden weiterläuft, können wir mithilfe dieses Gemäldes einen kleinen Test mit uns selber machen und uns fragen, wie unser Zwinglibild sich verändern würde, wenn dieser junge, energische, mutig und zuversichtlich dreinblickende Geistliche Dürers tatsächlich Huldrych Zwingli darstellte – und welche tiefsitzenden Vorurteile gegenüber dem Zürcher Reformator dabei eine Chance zur Überprüfung be-
kämen? Die Vorurteile sind schnell aufgezählt: Zwingli sei hart und antihumanistisch, ungehobelt und kulturfeindlich gewesen, ein langweiliger, humorloser und sinnenfeindlicher Typ, im Auftreten streng, rigide und zudem gewaltbereit. Ja, er habe eigentlich die Mentalität und Charakterzüge eines heutigen Taliban gehabt.

Zwei neuere Bücher können helfen, das Zwinglibild zu überprüfen und diesen Selbsttest durchzuführen. Beide führen in Zwinglis Leben und Denken ein; beide sind so unterschiedlich wie empfehlenswert: Das Buch von Peter Opitz ist ein wissenschaftlich fundiertes, aber allgemeinverständlich geschriebenes Buch des Kirchenhistorikers und Leiters des Instituts für Reformationsgeschichte in Zürich. Es ist nüchtern im Stil und zugleich flüssig formuliert, eine wunderbare, informative Einführung, die umfangmässig so knapp gehalten ist, dass man es an einem Sonntagnachmittag durchliest und dabei viel über Leben, Denken und Werk des Reformators erfahren kann. Das andere ist ein ausführlicheres, stärker erzählerisch angelegtes, mitreissendes Buch des Buchautors und Journalisten Franz Rueb, der als Altlinker und bekennender Achtundsechziger wundersamer Weise den Zürcher Reformator liebgewonnen hat, sich intensiv in Zwinglis Schriften, vor allem in seine Briefe und in ältere Literatur über Zwingli eingelesen hat. Man merkt, wie Rueb beeindruckt ist von diesem Toggenburger Bauernsohn, diesem Intellektuellen, diesem mutigen politischen Denker und Reformator: Zwingli wird hier, wie der Untertitel lautet, als «widerständiger Geist mit politischem Instinkt» dargestellt. Nach der Lektüre dieser beiden Bücher, darauf würde ich wetten, wird man sich Zwingli eher so vorstellen, wie Dürer ihn (vielleicht) porträtiert hat: als jungen, charaktervoll mutigen und auf seine Weise liebenswerten Menschen. Und vermutlich nicht mehr so, wie jenes auch künstlerisch nicht sehr gelungene Bild von Hans Asper ihn zeigt, nämlich als trockenen, steifen, harten Mann im schwarzen Rock; ein Porträt, das all jenen Fehlurteilen über Zwingli immer wieder neue Nahrung zu geben scheint. Diesen Test für sich durchzuspielen lohnt sich – ganz unabhängig davon, wie der Streit der Spezialisten um jenes Porträt schliesslich ausgehen mag.

Er war das Gegenteil eines Militärkopfes

Was lernt man aus diesen beiden Büchern im Bezug auf die oben benannten Vorurteile gegenüber Zwingli? Schon nach wenigen Seiten tritt uns eine kraftvolle Persönlichkeit vor Augen, ein durchaus heller und eindrücklicher Kopf, ein selbstdenkender Theologe, der rhetorisch geschickt zu Menschen sprechen konnte, der in Gespräch und Disputation die Notwendigkeit einer Reform von Kirche und Gesellschaft plausibel zu machen und durchzusetzen wusste – das Bild also eines eigenständigen Schweizer Reformators Zürcher Prägung. Ein Bild, das in den deutschen, auf Luther fixierten Reformationsfeiern meist ausgelassen wird. Die Schweizer Reformationen haben als Städtereformationen ein ganz eigenes Gepräge gehabt und eigenständige Charaktere hervorgebracht; andere als die lutherische Reformation, bei welcher fast ausschliesslich die Persönlichkeit des ehemaligen Mönches Luther und die der Fürsten, die ihn unterstützt haben, eine wichtige Rolle spielten. Peter Opitz ordnet Zwingli in den Kontext des Humanismus und der Renaissance ein, zeigt Zwinglis enge Verbindungen zu dem in Basel wirkenden Philosophen und Intellektuellen Erasmus von Rotterdam auf, dem es um eine Wiederentdeckung der Bibel und um eine Erneuerung des Christentums ging, alles gestützt auf eine sorgfältige Lektüre des biblischen Textes in den Ursprachen. Und so hat Zwingli dann auch jeweils im Grossmünster das Alte Testament aus dem hebräischen Urtext und im Fraumünster das griechische Neue Testament ins Deutsche übertragen, die schwierigen Stellen erklärt – und anschliessend die Bedeutung der biblischen Texte in einer Predigt den Leuten nahezubringen versucht. Denn jedermann sollte doch die Grundtexte des Christentums selber lesen und verstehen können. Opitz wie Rueb beschreiben Zwinglis Erfahrungen mit den Schrecken des Krieges, die er in den oberitalienischen Kämpfen als Feldprediger machen musste, und die daraus resultierende Ablehnung des Söldnerwesens. In einer Predigt sagte Zwingli über jene reichen Herren, die von Kaisern oder Päpsten Geld erhielten für ihre Vermittlung junger, armer Männer für den Solddienst: «Schöne Kleider» hätten diese sogenannten Pensionäre, «aber wenn man sie schüttelt, fallen Golddukaten raus, wenn man sie wringt, dann tropft Blut heraus». Er war das Gegenteil eines Militärkopfes.

Zwingli spielte Laute, Harfe, Geige, «Rabögli», Trumscheit, Flöte, Schwegelpfeife, Zinke und Dudelsack

Wer weiterhin der Meinung ist, der Reformator sei ein kulturloser Banause gewesen, wird von dessen Freude an Musik und Bildung lesen, wird erfahren, dass Zwingli alle Renaissance-Instrumente spielte (Laute, Harfe, Geige, «Rabögli», Trumscheit, Flöte, Schwegelpfeife, Zinke und Dudelsack), dass er nicht nur Begleitmusik für eine Aristophanes-Komödie schrieb, sondern selber auch Lieder komponierte und die erste Musikschule Zürichs gründete. Wer meint, ihn als sinnenfeindlichen Mann sehen zu müssen, der wird auf Zwinglis offenherzigen Brief an Heinrich Utinger vom 5. Dezember 1518 hingewiesen, in dem dieser seine damalige Not mit dem Zölibat bekennt und eingesteht, in Einsiedeln im prostitutionsnahen Kontext eines Barbierladens eine Frau geschwängert zu haben. Dies alles wird bei beiden Autoren beschrieben, ohne dass sie etwas beschönigen wollen.

Wer meint, Zwingli sei absolut humorlos gewesen, der lese einmal in seinen Predigten.

Man lernt Zwingli als einen ehrlichen, fehlbaren, aber auch selbstkritischen, willensstarken Menschen kennen, der von einem starken Gerechtigkeitsgefühl getragen war und in Auseinandersetzungen nicht zurückwich, sondern mutig auf seiner Linie blieb. Während bei Rueb die religiösen und theologischen Fragen nicht wirklich Tiefenschärfe bekommen, weil er selbst damit nichts anfangen kann, so ist das bei Opitz anders. Er will mit seinem Buch zeigen, dass Zwingli einen «reformierten Frömmigkeitstypus» schuf, der durch Nüchternheit und Menschlichkeit charakterisiert ist. In sorgfältiger und unvoreingenommener Bibellektüre habe dieser humanistisch geschulte Theologe das menschliche Antlitz Christi wiederentdeckt und darin die Züge eines Gottesglaubens, welcher ohne eine gelebte Ethik nicht zu haben sei. Die Würde des Menschen spiele darin eine wichtige Rolle. Man merkt beim Lesen, dass Opitz selbst in der nüchternen Tradition evangelisch-reformierter Christen steht – während man bei Rueb manchmal das Gefühl nicht los wird, er hätte in Zwingli gerne noch etwas mehr von einem Karl Marx «avant la lettre» entdeckt. Aber auch diese Sicht hilft, die Gestalt Zwinglis nicht nur in theologischen Höhen, sondern ebenso in den Auseinandersetzungen um eine menschliche Gesellschaft wahrzunehmen. Und gerade die Betonung des Themas Gerechtigkeit ist ein Grundzug der zwinglianischen Reformation. Wer noch immer meint, Zwingli sei absolut humorlos gewesen, der lese einmal ein wenig in seinen Predigten. Da merkt man schnell, dass er die Dinge auf eine witzige Weise zuzuspitzen wusste: «Was aber Gott ist, das wissen wir aus uns ebensowenig, wie ein Käfer weiss, was der Mensch ist.» Oder: «In einer Futterkrippe wird er geboren, während wir in Daunenfedern schnarchen.» Und schliesslich, mit einem unverkennbar reformierten Akzent: «Ein Christ sein heisst nicht, von Christus zu schwätzen, sondern ein Leben zu führen, wie er es geführt hat.»

Wer sich darauf einlässt, sein Zwinglibild einer Überprüfung zu unterziehen und einige alte Vorurteile zu entsorgen, wird ganz sicher eine Darstellung des Reformators in die Sperrgutabfuhr bringen wollen: Nämlich die viel fotografierte Zwinglistatue mit dem Riesenschwert, welche der Tiroler Bildhauer Franz Natter 1885 geschaffen hat. Sie steht hinter der Wasserkirche und repräsentiert den Geist eines dumpfen Nationalismus und einer pathetischen Militärbegeisterung. Die Bibel, welche der bewaffnete Zwingli mit einem Arm umfasst, «kam erst später, im Verlauf des Wettbewerbsprozesses hinzu», schreibt Franz Rueb trocken, «wohlgemerkt auf Betreiben einiger Kommissionmitglieder». Immerhin ist diese Bibel hinzugekommen, die «hailige geschrift», welche Zwingli mit seinen Leuten zusammen übersetzt hat und die ihm so viel bedeutete.

Vielleicht könnte man ja in diesem Jahr der Reformationsfeiern auf Entdeckungsreise gehen und die Vielfalt möglicher Zwinglibilder, die Facetten einer Persönlichkeit wahrzunehmen versuchen, der Zürich und die reformierten Kirchen so viel verdanken.

Pfr. Dr. Niklaus Peter ist Dekan des Pfarrkapitels der Stadt Zürich. Dieser Text ist eine erweiterte Fassung seiner Besprechung der beiden Bücher in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 30. Nov. 2016.
Peter Opitz, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus. TVZ 2015. Franz Rueb, Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt. Hier und Jetzt 2016.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert