Dieser Text erzählt nichts Neues. Er geht ein auf die ersten beiden eidgenössischen Volksinitiativen, die je angenommen worden sind, und listet anschliessend eine suggestive Auswahl an Schweizer Abstimmungsresultaten aus den letzten 130 Jahren auf. Eine Fortsetzungsgeschichte.

Am 20. August 1893 nahmen die Schweizer Stimmbürger mit 60% Ja-Stimmen die allererste Initiative an, die auf eidgenössischer Ebene zur Abstimmung kam: «Für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung.» Es ging dabei darum, das Schächten zu verbieten: Eine Schlachtmethode, bei welcher das Tier ohne Betäubung durch einen Halsschnitt ausgeblutet wird. Das Schächten wurde als religiöser Kult gewertet, da im Judentum und Islam der Verzehr von Blut verboten ist. Die Initiative zielte damals besonders auf die jüdische Minderheit in der Schweiz ab.

Ulrich Dürrenmatt, Gründer der Bernischen Volkspartei, publizierte am Vortag der Abstimmung in seiner eigenen Zeitung das Gedicht «Juden haben kein Erbarmen», worin folgende Zeilen zu lesen waren: «Wenn wir ihm nicht Meister werden / Wird der Jude unser Meister.» Damit wird klar, dass das Schächtungsverbot weniger dem Tierwohl als vielmehr dem Antisemitismus verpflichtet war. Zehn Jahre später schaffte die Zürcher Regierung den Kopfschlag ab, die vielleicht brutalste aller Schlachtungsmethoden – gegen heftigen Widerstand vieler Metzger. Ein metzgerfeindliches Gedicht aus dieser Zeit ist keines bekannt.

Der Alkohol, insbesondere der Absinth, hätte ihn zu einem Kriminellen gemacht.

Am 5. Juli 1908 nahm mit 63,5% Ja-Stimmen eine Mehrheit der Schweizer Bürger die Initiative «Für ein Absinthverbot» an. Die Abstimmung fand statt vor dem Hintergrund einer verbreiteten Annahme, das Getränk könnte Wahnvorstellungen bewirken oder Blindheit hervorrufen. Absinth galt wegen seiner euphorisierenden Wirkung, die unter anderem zu einem gesteigerten Farbempfinden führen soll, auch als Künstlergetränk. Gauguin, van Gogh, Hemingway – sie alle waren berühmte Absinth-Trinker. Das Getränk wurde auf Abstimmungsplakaten wie Werbungen meist in Gestalt der verführerischen, leicht bekleideten «grünen Fee» dargestellt.

Ausschlaggebend für die Initiative war ein vierfacher Femizid. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war der Täter schwer betrunken: Er soll grosse Mengen an Wein, aber auch mehrere Gläser Absinth zu sich genommen haben.

Marie Lanfray, seine Ehefrau, war sehr unglücklich darüber gewesen, dass ihr Mann zu viel trank, abends oft lange ausging und tagelang im Café sass. Sie hatte sich ausserdem dagegen gewehrt, dass ihr Mann sich ihr kleines Vermögen aneignen wollte. Mit ihren beiden Kindern hatte die junge Frau den Hof verlassen wollen, weil sie sich bei ihrem Mann nicht mehr sicher fühlte und ihre Schwiegereltern nicht länger ertrug. Diese hielten sie vom Weggehen ab, mit dem Argument, dass jemand zu den Rindern schauen müsse, während die anderen in den Reben sind.

Als Marie Lanfray, die im zweiten Monat schwanger war, an einem frühen Abend von der Käserei zurückkam, wohin sie täglich die Milch bringen musste, warf ihr Mann ihr vor, zu langsam gewesen zu sein. Ausserdem sollte sie lauter mit ihrem Schwiegervater sprechen, der sich ebenfalls
in den Disput eingemischt hatte.

Als dem Schwiegervater der Ernst der Lage klar wurde, und er begriff, dass sein Sohn zur Waffe greifen würde, verliess er den Raum. «Ce n’est pas toi qui me fera taire» – das ist der letzte Satz, der von Marie Lanfray überliefert ist. Der Täter erschoss die schwangere Marie Lanfray und die Töchter Rose und Blanche-Marguerite.

Bekannte und Familienmitglieder bezeugten vor Gericht, dass der Täter ein Alkoholproblem gehabt hatte. Dem Täter wurde attestiert, dass er zu besagtem Zeitpunkt in seinem betrunkenen Zustand die Tragweite und Konsequenzen seiner Tat nicht habe ermessen können. Der Alkohol, insbesondere der Absinth, hätte ihn zu einem Kriminellen gemacht – als Beweis wurde angeführt, dass man einem Hund Absinth gegeben hätte, der daraufhin angefangen hätte zu beissen. Der vierfache Mord müsse eingeordnet werden in die Kategorie «crimes causés par l’alcool.»

Der Täter selber sagte aus, sein Beruf hätte aus ihm einen Alkoholiker gemacht und in Genf würde noch mehr getrunken als bei ihm im Waadtland. Ein Zeuge beschrieb ihn als «un impulsif». Ausserdem
hätte er einen lebhaften Charakter und eine mühsame Mutter. Das müsse er von ihr geerbt haben. Auch Maries Bruder, durch den sich das Ehepaar kennengelernt hatte, sagte aus, dass seine Schwester wegen der Schwiegermutter unglücklich gewesen wäre, und er davon ausgehe, dass
diese ihren Sohn gegen seine Schwester aufgehetzt hätte. Ein Gemeindeangestellter bezeichnete den Schwiegervater der getöteten Marie Lanfray als «ganz nett», aber die Schwiegermutter taugte nichts, sie hätte die Schwiegertochter nicht geliebt. Der Gerichtsreporter hielt fest, dass die
Schwiegermutter mit zuckersüsser Stimme auf die gerichtliche Befragung geantwortet habe. Zur Verwendung von Waffen wird im Gerichtsprotokoll festgehalten: Es sei bedauerlich, dass die Behörden keine Waffen tragen, wenn sie gegen gefährliche Betrunkene vorgehen.

Politischen Einfluss sollten die Frauen weiterhin über ihren Mann ausüben.

1949 wurde die Initiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» mit 50,7% angenommen. Dies nachdem sich abgezeichnet hatte, dass der Bundesrat vom Vollmachtenregime, das durch die Kriegszeit bedingt gewesen war, nicht mehr abrücken wollte. Von Demokratie konnte dabei noch nicht die Rede sein.

1952 lehnten Schweizer Bürger mit 56,3% Nein-Stimmen die Initiative «Rüstungsfinanzierung und Schutz der sozialen Errungenschaften» ab. Diese hatte zum Ziel, weniger Geld für Kriegsmaterial und mehr Geld für soziale Einrichtungen wie die AHV auszugeben.

1958 verwarfen die Schweizer Stimmbürger mit 65% Nein- Stimmen die «Einführung der 44-Stunden-Woche».

1959 lehnten die Stimmbürger mit 66,9% Nein-Stimmen den «Bundesbeschluss über die Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten» ab.

Bereits ein Jahr zuvor hatte sich der «Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht» formiert. Intellektuelle bürgerliche Frauen, von denen einige auch akademische Titel trugen, argumentierten, dass weniger gebildete Frauen vor dieser zusätzlichen Pflicht geschützt werden sollten – zumal Frauen leichter von Politik manipuliert werden könnten. Besonders der Sozialismus und Kommunismus wurden als Schreckgespenst beschworen, welches wehrlose Frauen in seinen Bann ziehen würde. Ausserdem würden politische Streitigkeiten den Familienfrieden stören und die Autorität des Familienvaters als Oberhaupt untergraben. Politischen Einfluss sollten die Frauen – paradoxerweise – weiterhin über ihren Mann ausüben. Die Frauenbefreiungsbewegung, der Gemeinnützige Landfrauenverein, der Landfrauenverband, der Katholische sowie der Evangelische Frauenverbund gingen in die Opposition.

1962 stimmten die Stimmbürger mit 65,2% Nein-Stimmen gegen ein «Verbot der Atomwaffen».

1970 wurde die Volksinitiative «Überfremdung», die xenophobe Schwarzenbach-Initiative, bei einer Stimmbeteiligung von 74,72% mit 54% Nein-Stimmen abgelehnt.

1971 lehnte eine Mehrheit der Männer in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus, Obwalden, Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Uri das Frauenstimm- und -wahlrecht ab. In den anderen Kantonen befürwortete eine männliche Mehrheit das Frauenstimmrecht. Schweizweit wurde die Vorlage amFebruar mit 65,7% Ja-Stimmen angenommen.

Im darauffolgenden November betrug der Frauenanteil im
Nationalrat 5,5%. Die Namen dieser elf Frauen lauten:

Elisabeth Blunschy
Tilo Frey
Hedi Lang
Josi Meier
Gabrielle Nanchen
Martha Ribi
Hanna Sahlfeld-Singer
Liselotte Spreng
Hanny Thalmann
Lilian Uchtenhagen
Nelly Wicky

Lise Girardin wurde gleichzeitig als erste Frau in den Ständerat
gewählt.

1971 wurde der «Bundesbeschluss über die Ergänzung der Bundesverfassung durch einen Artikel 24septies betreffend den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt gegen schädliche oder lästige Einwirkungen» unter Beteiligung der Frauen und mit rekordhoher Zustimmung von 92,7% angenommen. Es handelte sich dabei um den sogenannten Umweltschutzartikel.

1972 wurde die eidgenössische Volksinitiative «Rüstungskontrolle und Waffenausfuhrverbot» mit 50,3% der Stimmen abgelehnt.

1974 lehnte eine Mehrheit von 65,8% die Initiative «Gegen die Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz» ab. Wie oft bei Abstimmungen fremdenfeindlichen Inhalts war die Stimmbeteiligung mit 70,33% ungewöhnlich hoch.

1977 wurde die Initiative «Für die Fristenlösung» mit 51,7% abgelehnt. Die Initiative sah vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen legalisiert würde.

1981 waren 60% der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dafür, den Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Mann und Frau» anzunehmen.

1984 wurde die Initiative «Für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft» mit 84,2% Nein-Stimmen abgelehnt. Grund dafür war, dass die Initiative einen Elternurlaub vorsah – und sich Frauen dagegen wehrten, dass auch
die Väter profitieren würden.

1992 wurde das neue Sexualstrafrecht in der Referendumsabstimmung
mit 73,1% Ja-Stimmen angenommen, womit Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde.

2000 lehnten 60,5% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine Flexibilisierung der AHV – gegen die Erhöhung des Rentenalters für Frauen» ab. Diese hätte auch die Gleichstellung von Mann und Frau in Bezug auf das Rentenalter (62)
sowie eine bedingungslose Rente erwirkt.

2000 waren 82% der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gegen «eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden».

2002 wurde das Referendum zur Fristenlösung mit 72,2% Ja-Stimmen angenommen. In den ersten zwölf Wochen nach der letzten Blutung darf eine Frau in der Schweiz seither legal abtreiben.

2003 stimmten 62,3% gegen «Gleiche Rechte für Behinderte».

2005 wurde das Absinthverbot aufgehoben.

2009 wollten 57,5% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, dass der Bau von Minaretten fortan in der Schweiz verboten ist.

2010 stimmten 52,9% für eine weitere fremdenfeindliche Initiative, die sogenannte Ausschaffungsinitiative.

2011 wurde die eidgenössische Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt», die den Waffenbesitz eingeschränkt hätte, mit 56,3% Nein-Stimmen abgelehnt.

2014 wurde die bereits elfte Initiative gegen Zuwanderung, die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative, mit 50,3% Ja-Stimmen angenommen.

2021 ist eine knappe Mehrheit von 51,21% der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für das «Verhüllungsverbot». Es geht u.a. darum den rund dreissig Frauen, die in der Schweiz einen Nikab tragen, dies zu verbieten.

2021 legt die Kommission des Ständerates eine AHV-Abbauvorlage
vor, die das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre erhöhen will. In Rekordzeit sind hunderttausende Stimmen zusammengekommen, die sich dagegen erheben. (appell.frauenrenten.ch)

2021 nehmen Ständerat und Nationalrat gegen den Willen der Landesregierung die Motion von SP-Ständerätin Eva Herzog an, wonach der Bund Statistiken und Studien vermehrt nach Geschlechtern aufschlüsseln will.

Tabea Steiner ist Autorin, Literaturveranstalterin, Jurymitglied in verschiedenen Literaturgremien, derzeit der Schweizer Literaturpreise. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Vikariaten.
Mit Dank an Gianna Molinari und Benjamin Schlüer für die Mitarbeit.

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