1.

Ich bin einfach sehr hoch gesprungen. Das war mein Job. Ich war schon immer mehr Sprinter als Marathonläufer. Bei der Aushebung im Militär sprang ich – der Zürcher in Jeans – am Weitesten. Sie gaben mir das Sportabzeichen und ich liess mich vom Psychologen als untauglich erklären. Wegen meiner schlimmen Vergangenheit.

Dass ich hoch springen konnte, machte sich auch in der Tanzkompanie gut. Als Spezialeffekt wurde ich der Wand entlang geschickt, wie Neo in den Matrix-Filmen. Ich schaffte mindestens drei Schritte an der Wand, selten auch vier. Der Trick dabei ist, es so aussehen zu lassen, als würde man der Wand entlang gehen. In Wirklichkeit springt man einfach sehr hoch und sehr weit der Wand entlang, und berührt sie dann mit den Fussspitzen.

Irgendwann ist bei mir die Sicherung durchgebrannt

Das war aber alles, als ich noch bei Verstand war. Ich weiss nicht, was die Krise ausgelöst hat, vielleicht die vielen Bücher, die ich las, das Internet, die Videospiele… Irgendwann ist bei mir die Sicherung durchgebrannt. Ich war den Leuten nicht mehr zumutbar. Ich war ein Schwein im Menschenkostüm. Das süsse Gift der Poesie hatte mein Blut verdorben. Ich war krank daran geworden. Meine eigene Schwester sagte mir: «Du hast den Verstand verloren! Nicht mehr alle Tassen im Schrank! Dabei hattest du eine so vielversprechende Zukunft. Du solltest doch das Sprachrohr deiner Generation werden.»

Mein Umfeld wandte sich von mir ab. Es war, als ginge ein übelriechender Gestank von mir aus, der alle in die Flucht schlug. Ich konnte mich davon nicht rein waschen. Ohne Freunde oder soziale Kontakte war ich ganz auf mich gestellt.

So streifte ich alleine durch die Strassen meiner Heimatstadt. Manchmal verschlug es mich in eine der Bars entlang der Langstrasse, wo ich ein Bier nach dem anderen trank. Ich schwatzte die Leute an, wollte ihnen von meinem grossen Gefühlsreichtum erzählen, aber wie die Schweizer so sind, wollen sie über ihren Reichtum selten oder nie sprechen. Man spricht nicht darüber, man hat. Sie sagten mir, dass ich «zu viel» sei. Dabei weiss ich gar nicht, was das sein soll. Wie kann ein Sein zu viel sein? Zu viel Ruccola auf der Pizza, zu viel Pesto an der Pasta, aber kann ein Vogel zu viel sein? Eine Ameise. Ein Mensch. Offensichtlich gibt es Leute, die sind zu wenig. Zu wenig attraktiv, zu wenig unterhaltsam, zu wenig offen. Aber zu viel? Allerdings ist die Mitte der Gesellschaft genau richtig. Nicht zu viel und nicht zu wenig.

Ich war ein Kreuzritter geworden.

Auch an der Universität suchte ich das Gespräch mit meinen Kommilitonen. Ich sprach sie an, wollte etwas mit ihnen teilen, aber sie zischten, ich solle leise sein. Die Vorlesung sei gerade sehr interessant. Aber was gibt es Interessanteres als ein Gedanke und jedes kleinste Gefühl eines lebenden Menschen! Ich wollte erzählen, wie ich des Nachts von einer weinenden Marienstatue träumte, wie ich vor ihr hinkniete und mich bekreuzigte. Wie mich ein wohliges Gefühl der Gotteskraft durchströmte. Ich war ein Kreuzritter geworden.

Bevor das geschehen war, hatte ich richtige Freunde. Wir trafen uns regelmässig zum Jassen und Kartenspielen. Ich bekochte sie mit ausgeklügelten Rezepten und wir waren so glücklich. Ihnen konnte ich alles erzählen. Wir halfen uns immer gegenseitig aus. Das ist wichtig in einer Stadt wie Zürich, wo man ohne Freunde gar nirgends hinkommt. Eine bezahlbare Wohnung kann man ohne Freunde vergessen. Es braucht viel Vitamin B. Und das muss man sich erarbeiten – einen eigenen Freundeskreis aufzubauen, das ist eine echte Leistung und verdient Achtung und Respekt. Daran bemisst sich nicht nur die Chance, eine anständige Wohnung zu bekommen, sondern auch einen guten Job, der zwar schlecht bezahlt ist, in welchem man sich aber verwirklichen kann. Temporär, versteht sich. Danach schauen die Freunde schon weiter für einen. Bei dem Mittwochabend-Bier zum Beispiel. Das ist man ihnen schuldig. Sie haben einem ja so viel geholfen! Wo wäre man heute bloss ohne sie?

Dank geschickten Verhandlungen bestehen auch Vereinbarungen zwischen verschiedenen Freundeskreisen. Ist man in einem drin, ist man in allen. Ein Fehltritt kostet dafür umso mehr. Welche Menge Bier muss einer dann trinken wegen einem Gefallen um mehrere Ecken! Das kann kein Mensch leisten.

In dem freundschaftlichen Kapital liegen enorme Vorteile

Auf Text-Nachrichten sollte schnell geantwortet werden. Sonst entsteht der Eindruck einer faulen Person. Es gilt zu bedenken: Mit einer Person, die nicht tüchtig genug ist, zahlt sich die Freundschaft nicht aus. Eine Antwort darf aber auch nicht zu schnell erfolgen, es darf unter keinen Umständen der Eindruck entstehen, jemand sei zu fleissig. Gott bewahre, wenn jemand fälschlich meint, alles sei seiner eigenen Leistung zu verdanken! Wer aufsteigt, darf seine Herkunft nicht vergessen. In dem freundschaftlichen Kapital liegen enorme Vorteile. Eine kleine Freundlichkeit kann einen zehn Jahre später reich machen.

Wie sehr wollte ich dabei sein! Meinen Bündner Dialekt hatte ich mir mühsam abgewöhnt. Das ist wichtig, um in den inneren Kreis dieser Stadt aufgenommen zu werden. Wer dazu gehört, ist ein Adliger. Und wie die Adligen im Mittelalter, paaren sich auch die Auserwählten der inneren Zirkel nur unter sich, ausser in besonders attraktiven Ausnahmefällen. Ich brauchte also eine Beziehung zu einer Person, die mir den Eintritt zur höheren Gesellschaft verschaffte. Und Gott weiss, dass ich tat, was die Stunde forderte. Mein erstes Date in der Stadt war gleichzeitig mein Vorstellungsgespräch. Ich merkte schnell, dass jede Unterhaltung, egal wie alltäglich, für Schulungszwecke aufgezeichnet und ungefiltert an die Chefetagen weiter geleitet wird. Dort wird ausgewertet und entschieden, wie verfahren werden soll. Für eine Weile hielt ich mich im Hamsterrad. Aber wie gesagt: Ich bin mehr Sprinter als Marathonläufer: Nach und nach ging mir die Puste aus. Wie am Hof des Sonnenkönigs wechseln die Günstlinge der inneren Kreise. Noch schneller als Whatsapp informiert das Buschtelefon über den neusten Stand und Börsenkurs einer Person. Je nachdem, mit wem man sich abgibt, steigt der eigene Marktwert, oder sinkt. Spekulativ bemisst sich der Kurs an zukünftigen Projekten: «Woran arbeitest du gerade?» «Ich hätte das nie geglaubt, aber ich habe ein Stipendium der Pro Helvetia erhalten!» Ein geschickter Händler kann es so sehr weit bringen. Mindestens bis in den Stadtrat. Wahrscheinlich war es einfach an der Zeit, dass meine Blase platze.

Ich bin ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft gewesen, wurde nicht oft von meinen Freunden hintergangen und verraten. Meistens sprachen die Leute Gutes über mich. Meist wurde ich nicht gehasst. Als aber meine geistige Verwirrung und abstossende Natur langsam zu Tage trat, ging es nur noch hinab. Die roten Zahlen kannten keine Gnade, der Abwärtstrend war nicht aufzuhalten. Ich wurde zu einer Risikoanlage, einer Hypothek, von der man sich möglichst schnell trennen musste. Wie immer, wenn jemand Geld verliert, ist Geld zu machen. Ein guter Händler begeistert sich nicht nur für sprunghafte Kursanstiege, sondern auch für Verluste.

Meine eigene Mutter rief nicht mehr an

Bald sah man mich mit zerrüttetem Haar und in Trainerhosen im Supermarkt. Meine eigene Mutter rief nicht mehr an. Zuerst kamen noch ab und an Pakete aus den Bergen, mit feinem Alpenhonig und frischen Socken. Dann brach auch sie den Kontakt zu mir ab. Die Aktien meiner Person waren definitiv im Keller und ich musste emotionalen Bankrott anmelden. Ich hatte eine Unmenge an Wertpapieren, aber sie waren wertlos geworden. In der «City of Banks» hatte ich gespielt und hatte ich verloren.

Um der Lage Herr zu werden, verdrängte ich meine schreckliche Situation. Ich bildete mir ein, ein verkanntes Genie zu sein. Obwohl ich in dieser Zeit keine einzige Zeile schrieb, fühlte ich mich so produktiv wie noch nie. Es dämmerte mir, dass ich spätestens in ein oder zwei Jahren den Nobelpreis für Literatur erhalten würde. Ich war davon überzeugt, der erste Shakespeare der deutschen Sprache zu sein. Nichts konnte mich von dieser Überzeugung abbringen. Nicht die gequälten Blicke meiner Opfer, die ich mit meiner sentimentalen Bagage belästigte, nicht die schlechten Noten, wenn ich einmal mehr statt einer Seminararbeit einen Sonettenkranz einreichte.

Ich wollte doch nur erzählen! Von meinem stürmischen Seelenleben und der eindrücklichen Mechanik, die in jedem menschlichen Verstand vor sich geht. Den heldenhaften Handlungen, die ich jeden Tag vollbrachte, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Den glorreichen Kampf, den ich ausfocht auf dem Schlachtfeld der Ideen. Den grotesken Grabenkämpfen in den Schächten der Kritik, den Bastionen von Menschlichkeit und Dogma. Wenn eine Kugel haarscharf an meinem mit heroischen Abzeichen geschmückten Arm vorbei zischte, und auf meinem Herz das stolzeste prangte: Universitas Turicensis. Ein Scharfschütze der Sprache war ich, ein Assassine der Syntax, Haschischrausch des Lesens; wenn ich mich vergass und die Worte viel echter waren als die Wirklichkeit, dort, wo die Wahrscheinlichkeit schon war; was erst noch geschehen musste, schon geschehen war. Wahrlich, in mir steckte ganz Babylon. Nimm meine Hand, und ich führe dich in den Kaninchenbau.

Ich aber hatte sowohl die rote als auch die blaue Pille geschluckt.

Hier endet das Manuskript abrupt. Darunter ist in einer deutlich anderen Handschrift hingekritzelt: «Das ist nicht von mir. Das bin gar nicht ich.»

 

2.

Es ist ein schöner Sonntagmorgen. Herr Guthmann giesst sich eine weitere Tasse Schwarztee ein und spritzt etwas Zitrone darüber. Er sitzt auf der Veranda und liest Zeitung. Herrlich in der Sonne! Wie der Wannsee mit tausend Augen kleiner Wellen glänzt. Dazwischen hissen hundert Segelboote ihre weisse Flagge. Guthmann hat jetzt Lust auf ein Butterbrot. Er klingelt mit seinem kupfernen Glöckchen nach seinem Diener, der sofort zur Stelle ist.

«Sie wünschen?»
«Gaston, sei so gut und bring mir bitte ein Butterbrot. Du weisst, wie ich es gerne habe.»

Ist Gaston nicht ein äusserst liebenswerter Bediensteter!

Gaston macht einen höflichen Knicks. Er weiss sehr wohl, wie der Herr Guthmann sein Butterbrot gerne hat. Es ist sein Job, das zu wissen. Ist Gaston nicht ein äusserst liebenswerter Bediensteter! Wo es etwas zu dienen gibt, freut er sich. Und heute morgen ist er trotz seiner Kopfschmerzen besonders gut gelaunt, denn es freut ihn ebenso, wenn es Guthmann gut geht.

Gaston geht in die Küche. Bei jedem Schritt schmerzt ihn der Kopf. Er hat letzte Nacht wieder so schrecklich schlecht geschlafen. Das passiert ihm immer bei Vollmond. Er gibt zwar nichts auf den Volksmund, aber Vollmondnächte machen ihm definitiv zu schaffen, das ist gar nicht abzustreiten. Gaston schneidet eine Scheibe Vollkornbrot und nimmt die frische Butter aus dem neuen Kühlschrank, der erst kürzlich angeliefert wurde. Was für eine Neuheit! Als einer der ersten hier am Wannsee hat Herr Guthmann sich dieses moderne Luxusobjekt angeschafft. Immer frisch gekühlte Ware, ganz ohne die grossen Eisblöcke, die mühsam aus den Alpen hergebracht werden müssen. Das ist eine Investition, die sich so oder so auszahlt.

Deswegen liebt es Gaston, für einen wohlhabenden Herrn zu arbeiten. Auch er profitiert davon. Wer sonst auf der Welt öffnet jetzt gerade einen Kühlschank? Eben, wenige nur. Sicher nicht seine ehemaligen Freunde, die jetzt Mechaniker sind, Arbeiter, Kommunisten, garstig.

Er ruft nach seinem Herrn und erhält keine Antwort

Gaston balanciert den Teller mit den kunstvoll gestapelten Butterbroten gekonnt durch das Haus. Über eine herrlich geschwungene Treppe führt ihn der Weg wieder auf die Veranda. Guthmann ist allerdings nicht mehr dort. Die aufgefächerte Zeitung flattert herrenlos über den Tisch. Guthmann ist sonst ein ordentlicher Mensch, und das bewundert Gaston sehr. Besorgt geht er ins Treppenhaus, immer noch mit dem Teller in der Hand. Er ruft nach seinem Herrn und erhält keine Antwort. Der Ruf erstickt im roten Samt der Wandverkleidung. Gaston steigt die Stufen an. Kein Knacksen ist zu hören.

Gaston versucht es im Arbeitszimmer. Dort steht Guthmann am Schreibtisch, über einen stattlichen Stapel Papier gebeugt. Er liest hastig, mit einem ungläubigen Lachen im Gesicht. Was das wohl ist? Gaston interessiert sich nicht sonderlich für Literatur. Herr Guthmann hingegen träumt davon, ein berühmter Schriftsteller zu werden und Bücher zu schreiben.

Lange Tage verbringt er alleine im Zimmer, schaut auf den See und schreibt kein Wort. Immer wieder setzt er an, aber es will ihm nichts gelingen. Die Zweifel sind gross, der Möglichkeiten viele. Dass jetzt ein so grosses Konvolut an Handschrift auf dem Schreibtisch liegt, freut Gaston sehr. Endlich muss Guthmann der Durchbruch gelungen sein. Wahrscheinlich hatte er gerade einen weiteren Geistesblitz und ist deswegen auf das Zimmer geeilt. Guthmann hat Gaston gar nicht bemerkt, so sehr ist er ins Geschriebene vertieft.

«Hier ist ihre Brotzeit, Herr Guthmann», sagt Gaston sanft und stellt den Teller auf den Beistelltisch aus Mahagoni.

Guthmann schaut flüchtig auf und bedankt sich.

«Gaston, was ist das? Ich habe es eben auf meinem Tisch gefunden. Gestern lag hier keine einzige Seite, und jetzt das. Ist das von dir? Ausser uns beiden ist niemand im Haus, oder wurde eingebrochen? Hast du jemanden gesehen gestern? Kam es per Post?»
«Nein, Herr Guthmann, davon weiss ich nichts. Ich nehme an, Sie haben das geschrieben.»
«Mein Gott, Gaston, wenn dem so wäre! Hier liegt ein Meisterwerk auf meinem Schreibtisch! Unten auf der Veranda fiel mir ein, dass ich unbedingt von Scheffel einen Brief mit meiner neuen Idee für einen Roman aufsetzen muss, und dann fand ich das hier. Ein fertiges Manuskript!»
«Mein Herr, keinesfalls möchte ich ihnen schlechte Gesundheit wünschen. Denken Sie, es ist möglich, dass Sie geschlafwandelt haben und dieses Manuskript ohne Erinnerung daran verfasst haben?»
«Schmeichle mir nicht, Gaston, es ist nicht meine Handschrift.»
«Herr, ich ziehe bloss Schlüsse.»
«Hältst du es denn für möglich?», fragt Guthmann aufgeregt. «Denkst du, ich wäre dazu in Stande?»
«Warum nicht, mein Herr, so viel ich weiss, sitzen Sie jeden Tag in diesem Zimmer und arbeiten in Gedanken. Jetzt haben sich die Gedanken wie im Rausch auf das Papier ergossen.»
«Es muss so sein, Gaston.»
«Es ist so, mein Herr.»
«Es war niemand hier in der Nacht?»
«Wie jeden Abend schliesse ich das Arbeitszimmer ab, sobald Sie sich ins Gemach zurückgezogen haben. Sie wissen gut, ausser uns beiden ist niemand im Haus, und soweit ich weiss, besitzt keiner ausser uns zwei den Schlüssel zu diesem Zimmer.»

Guthmann kneift argwöhnisch die Augen zusammen.

Du bist entlassen!

«Warum lügst du mich an, Gaston! Du hast es heimlich geschrieben und mir hingelegt, damit ich mich besser fühle! Damit hast du jegliche Grenze des Respekts überschritten. Deine herablassende Art, mir zu zeigen, dass du trotz deines niederen Standes besser bist als ich, macht mich krank. Raus! Du bist entlassen!»
«Herr Guthmann, Sie sind in Rage. Seien Sie vernünftig. Sie wissen genau, dass ich keine höhere Bildung genossen habe. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und konnte bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr weder lesen noch schreiben. Bis heute ist meine Handschrift krakelig und unbeholfen. Sie tun mir keinen Gefallen, mir derartige Fähigkeiten zu unterstellen und mich dann wegen einer falschen Anschuldigung zu entlassen! Sie delirieren.»
«Zeig es mir, schreibe hier einen Satz. Dann werden wir sehen, wer von uns beiden der Lügner ist.»
«Wie Sie wünschen. Wo darf ich schreiben?»

Gaston beugt sich vor, nimmt die Füllfeder, die deutlich unter der nächtlichen Eskapade gelitten hat und kritzelt auf das Papier: «Das ist nicht von mir.»

Herr Guthmann untersucht das Ergebnis genau. Er vergleicht. Und findet keinerlei Übereinstimmung. Erleichtert atmet er auf.

Du schmeichelst mir, Gaston

«Nun denn, dann muss es so gewesen sein. Ich selbst bin der Autor dieser Zeilen. Noch will ich es nicht recht glauben. Du verstellst nicht deine Handschrift, Gaston? Aber es gibt die Geschichten der Mondsüchtigen! Sie sind zu erstaunlichen Taten imstande. War das doch ich selbst am Ende? Tatsächlich sieht es ein wenig aus wie meine eigene Hand. Wenn nun der irre Halbschlaf seinen Teil daran tat? Es ist möglich!»
«Ich bin davon überzeugt, mein Herr. Wer sonst könnte eine derartige Leistung bringen? Ein ganzes Buch in einer Nacht!»
«Du schmeichelst mir schon wieder, Gaston. Es sei dir heute verziehen, wenn du die Wahrheit sagst.»
«Warum sollte ich nicht?»
«Wir müssen umgehend Herr Meyer in der Schweiz kontaktieren. Er wird einen Weg wissen, dem natürlichen Verlauf der Dinge ihren Anstoss zu geben. Lass mich jetzt alleine.»

Gaston war zufrieden mit dem Fortschreiten der Ereignisse. Sicher würde jetzt eine Zeit anbrechen, in der in diesem einsamen Haus mehr erlebt werden konnte. Bedeutende Persönlichkeiten würden hier Einzug halten. Feste und Empfänge würden abgehalten werden, mit reichen Büffets, Champagner und den neumodigsten Cocktails. Vielleicht musste sogar ein zweiter Kühlschrank angeschafft und die Küche erweitert werden. Was es jetzt nicht alles zu tun gab! Auf jeden Fall bekäme Gaston einen Stab an Bediensteten, der ihm unterstellt war und den er nach bestem Wissen leiten würde. Was für ein grosser Tag für dieses Haus am schönen Wannsee.

Gaston ging zurück in die Küche, wo er still über sein neues Glück sinnierte. Er blickte aus dem Fenster über den See. Es war über Mittag bereits ein bisschen bewölkt geworden, jetzt zeichnete sich ein Sturm für den Nachmittag ab. Das störte Gaston überhaupt nicht. Er mochte es, wenn die Wolken brachen. Bald würde eine kältere Jahreszeit beginnen.

Gaston spazierte über den Hof ins Gärtnerhaus, wo er wohnte. Das eine oder andere Blatt war schon gelb geworden und nur hier und da hielten sich letzte grüne Bastionen, die an den fallenden Sommer erinnerten. Die Buchecken knackten unter seinen Schritten. Herr Guthmann war immer grosszügig mit ihm gewesen. Es fehlte ihm hier an nichts.

Gaston packte seine Sachen und ging.

Erst als er in seiner eigenen Wohnung gestanden hatte, umgeben von seinen eigenen Sachen, hatte er erkannt, was geschehen war. Guthmann hatte ihn der Lüge bezichtigt. Die Unterstellung schmerzte ihn sehr. Lange Jahre hatte er Guthmann treu gedient. Wie leichtfertig Guthmann ihn entlassen wollte; noch bevor der Umstand vollständig aufgeklärt gewesen war! Ihm wurde klar, dass es ihm jederzeit wieder so ergehen könnte, und dann stünde er mit leeren Händen auf der Strasse. Diesen Verlust konnte und wollte er nicht auf sich nehmen. Hier am Wannsee verlor er bloss seine Zeit. Er besass nicht viel, aber seinen Stolz liess er sich nicht nehmen.
Bald stand Gaston am Bahnhof Wannsee.

 

3.

Der Zug fuhr ein und Gaston setzte sich an einen Fensterplatz, mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Noch ein letztes Mal konnte er so einen Blick auf die Villa seines ehemaligen Meisters werfen, in der er so viele Jahre seines kümmerlichen Lebens verschwendet hatte. Er wollte sich an das Gute dieser Zeit erinnern, aber er konnte Guthmann seine Unbedachtheit nicht vergeben. Er war Diener gewesen, nicht weil er nichts Besseres hätte tun können, sondern weil er an die natürliche Einrichtung der Stände geglaubt hatte. Die Oberschicht war tugendhaft und ehrenvoll, die Bediensteten nahmen sich daran ein Beispiel und glänzten in ihrem Spiegelbild. Charakterschwächen waren in diesem Gefüge unverzeihlich. Sobald Gaston bewusst wurde, dass Guthmann ihn nicht schätzte, obwohl das sein hart erarbeiteter und ehrlicher Lohn gewesen wäre, verlor Gaston jeglichen Respekt vor seinem ehemaligen Herrn. Ein neuer Kühlschank war Gaston nicht so wichtig wie seine eigene Person.

Die Oberschicht war tugendhaft und ehrenvoll, die Bediensteten nahmen sich daran ein Beispiel und glänzten in ihrem Spiegelbild.

Der Zug fuhr um den Rank, das Herrenhaus war jetzt ausser Sichtweite. Gaston atmete auf. Es fiel ihm ein Stein vom Herzen. Die restliche Fahrt verbrachte er in Gedanken an sein zukünftiges Leben. Er hatte keinen Ort, wo er hingehen konnte, keine Freunde, mit denen er Kontakt pflegte. Er war ganz alleine in dieser Welt.

Schneller als erwartet war Gaston in Berlin. Diese moderne Technik! Es sollte noch mehr davon geben. Gaston nahm seinen Koffer und ging aus dem Bahnhof direkt in die nächste Kirche. Er suchte Trost in den hohen Hallen, die ihn während seiner Kindheit im Waisenhaus begleitet hatten. Er stiess die schwere Holztüre auf. Sofort durchströmte ihn das sakrale Wohl und es schauderte ihn vor inniger Wärme. Brannten nicht diese Kerzen so liebevoll? War nicht die ganze Kirche von herrlichem Weihrauchduft durchtränkt? War nicht Jesus Christus am Kreuz für ihn gestorben? Gab es denn einen Grund, warum es ihm schlecht gehen sollte, wenn er sich in die schützenden Arme des heiligen Geistes begeben konnte?

Brannten nicht diese Kerzen so liebevoll? War nicht die ganze Kirche von herrlichem Weihrauchduft durchtränkt? War nicht Jesus Christus am Kreuz für ihn gestorben?

Jetzt überkam es ihn. Vor seinem geistigen Auge zogen Bilder von unwahrscheinlicher Schönheit vorbei. Wie er in einem einsamen Kloster in Südfrankreich den Kreuzgang beging, den Kopf voll mit komplexen, paradoxen Auslegungen der heiligen Schrift. Wie er bereits um vier Uhr in der anbrechenden Morgendämmerung die Glocken zum Gebet läutete, nur um danach in den Klostergärten frischen Lavendel zu pflücken. Gaston spürte in seinem ganzen Körper, wie er eingenommen wurde. Er gab sich hin.

*

War es nicht schon an der Zeit für die Vesper? Frater Emanuel hatte ihn doch erst ermahnt, es nicht wieder zu versäumen. Aber Gaston war so eifrig in seinen Bibelstudien. Er war sich sicher, innerhalb der nächsten vier Wochen einen Gottesbeweis fertig zu stellen. Sollte es da nicht verzeihbar sein, einige Vesper zu verpassen? Gaston hatte sich in der Bibliothek verbarrikadiert. Besonders Thomas hatte es ihm angetan. Er studierte dessen Relation zu Aristoteles und den persischen Gelehrten der Antike.

Hier hatte er sich also wiedergefunden, in den schützenden Armen des Glaubens. Er war ein guter Bruder. Pflichtbewusst in der Erfüllung seiner Aufgaben gegenüber dem Herrn, fantasievoll in der Begründung seiner Existenz. Nur am Rande erfuhr er mehr, was sich im Rest der Welt abspielte. Dass Kühlschränke zur Massenware geworden waren; dass Guthmann ein weltbekannter Autor war; dass die Zeit der europäischen Monarchien sich ihrem Ende zuneigte; dass in Lörrach die Sozialistische Republik ausgerufen worden war.

All das interessierte Gaston herzlich wenig. Er konnte für immer in den klösterlichen Gemäuern von St. Aix bleiben, zufrieden mit dem wenigen, das ihm nicht gehörte. Nur einmal wurde er in seinem ewigen Frieden unterbrochen. Das war an dem Tag, als Guthmann ihn fand.

Gaston nahm gerade ein Kaninchen aus, das er am Morgen aus dem Gehege geerntet hatte, als der Novize Jérôme aufgeregt zu ihm eilte: er habe Besuch. Gaston wischte seine blutverschmierten Hände an der Schürze ab. Töten bereitete ihm keine Freude, aber es musste sein. Gaston war verwundert. Wer könnte ihn so unvermittelt aufsuchen? Es gab im Grunde nur eine Option.

Gaston wischte seine blutverschmierten Hände an der Schürze ab.

Guthmann stand im Hof. Mit seiner edlen Kleidung, nach der jüngsten Mode der Hauptstädte Europas, weltmännisch im eng geschnittenen Anzug wirkte er fehl am Platz. Nervös strich Guthmann seine Hände am Jackett. Er lächelte freudig, als er Gaston erkannte.

«Wie kann ich dir helfen», fragte dieser.

«Guten Tag, mein lieber Gaston!», entgegnete Guthmann überschwänglich. «Wie sehr du mir gefehlt hast seit dem Tag, an dem du spurlos verschwandest! Kein Auge habe ich in jener spätsommerlichen Woche am Wannsee zugetan. Immer habe ich mich gefragt: Wo ist Gaston bloss geblieben?»

«Spar dir deine falsche Freundlichkeit, Guthmann», sagte Gaston kühl. «Du hast dich gefreut, das Manuskript zu deiner alleinigen Verfügung zu haben, ohne Zweifel an seinem Ursprung.»

«Ich war entsetzt! Hätte es nicht sein können, dass du entführt wurdest? Und das kurz nach dem mysteriösen Auftauchen meines Buches. Geister haben meine Nächte terrorisiert.»

«Es ist dir nicht zum Schaden geraten, wie ich gehört habe.»

Guthmann lachte kehlig. «Das ist bis in diese abgelegenen Winkel gelangt?», fragte er und schwieg betroffen, als er seine Übertretung bemerkte.

Gaston gab sich unbeeindruckt. «Komm zum Punkt, was willst du hier?»

«Du weisst, ich habe dieses Buch nicht geschrieben. Du hast mir das eingeredet.»

«Und wenn schon, was macht das für einen Unterschied? Hast du nicht bekommen, was du immer wolltest? Weltruhm, ein gefeierter Schriftsteller zu sein?»

Guthmann stieg unbeholfen von einem Fuss auf den anderen. «Was nützt mir das, wenn es nicht mein Verdienst ist?»

«Die Welt wartet auf dein nächstes Buch, richtig? Deswegen bist du hier, damit ich dir ein neues schreibe.»

«Also doch, du warst es!», rief Guthmann aufgeregt. «Ich wusste es von Anfang an!»

«Ja, ich habe das Manuskript geschrieben. Komm mit, wir wollen spazieren.»

«Spar dir deine falsche Freundlichkeit, Guthmann»

Gaston nahm Guthmann am Arm und sie verliessen den Kasten der alten Mauern. Die Landschaft erstreckte sich gewaltig, sie versanken darin. Wie Wellen schlugen die Ährenfelder der Provence über ihnen zusammen. Die Küste fiel steil ab, und unten züngelte das Meer an den scharfen Felsen. Sie gingen eine Weile in dieser Szene, bis Gaston auf einer Erhebung stehen blieb.

«Spürst du diese Weite?», fragte Gaston, aber Guthmann antwortete nicht. Er war nicht zum Schwelgen hier.

«Nun, es mag dich erstaunen, aber so wahr mir Gott helfe, wusste ich an diesem Morgen am Wannsee nicht, was in mir steckte. Wer ich bin. Ein Monster.»

Guthmann schaute ihn fragend an.

«Viele Jahre wusste ich nicht um meine Gabe. Um meinen Fluch. Dir wird die Ironie nicht entgangen sein, dass ich jetzt hier in einem Kloster lebe, als das unheilige Wesen, das ich bin.»

«Ich bin froh, dass du deinen Weg zu Gott gefunden hast, Gaston.»

«Leider kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich habe keine Manuskripte für dich.»

«Dann schreibe ein neues! Damals hast du das Buch in einer einzigen Nacht geschrieben.»

«Das war erst der Anfang, mein lieber Herr. Nach dem ich dich am Wannsee verlassen hatte, bin ich nach Berlin gefahren. Dort wartete niemand auf mich. Es zog mich in die nächste Kirche. Die Kraft Jesu durchströmte mich und ich kippte ein. Das war der Moment, als ich zu ahnen begann, dass ich eine Bestie bin.»

«Gaston, ich verstehe nicht.»

«Ich habe keinen Kontrolle darüber!», schrie Gaston ihn jetzt an. «An jedem ersten Morgen nach dem achten vollen Mond eines Jahres finde ich ein Manuskript auf dem Schreibtisch. Dunkle Magie treibt es an.»

«Wo sind die Manuskripte, Gaston?»

«Ich habe sie alle vernichtet. Ausnahmslos den Flammen verfüttert. Die Brut des Teufels verdient es nicht, im Antlitz Gottes zu bestehen. Der einzige Grund, warum ich mir nicht selbst ein Ende setze, ist die Furcht vor SEINER Strafe. Gott hat mir dieses Leben gegeben, ER verzeiht mir meine Sünden.»

«Du bist irre geworden, Gaston! Hast du den Verstand verloren?»

Du kannst dir den Schrecken in den Augen meiner Brüder vorstellen

«Sei still! Was weisst du von meinem Schmerz? Lange Jahre habe ich mich in jenen Vollmondnächten ans Bett fesseln und die Glaubensbrüder neben mir wachen lassen. Mit schweren Eisenketten befestigt, wähnte ich mich sicher. Aber nichts hat genützt. Von Satan selbst bewohnt, habe ich mich mit seiner höllischen Kraft von allen Fesseln befreit und gewütet, bis ich Stift und Papier in Händen hielt. Und war keines in Reichweite, manifestierte es sich aus einem grün bis violettem Licht. Mein Gesicht verfärbte sich schwarz, wie verbrannte Holzkohle und es stank nach Schwefel und versengtem Fleisch. Manche behaupten sogar, es regnete in jenen Nächten flammende Meteoriten. Mit unheiliger Geschwindigkeit, zu schnell für das sterbliche Auge, schrieb ich jedes einzelne der Blätter voll und gab bis in die frühen Morgenstunden keine Ruhe. Mein Körper begab sich zurück ins Bett und lag nicht fünf Minuten, bevor ich wieder aufwachte, mit dröhnendem Kopf und trockenem Mund, ohne Wissen, was geschehen war. So wurde es mir von den Augenzeugen berichtet, denn selbst habe ich keine einzige Erinnerung daran. Es bleiben nur die Wunden an den Fingern, an den Gelenken, wo die Seile und Ketten waren.

Du kannst dir den Schrecken in den Augen meiner Brüder vorstellen, als sie dieses ungeheure Schauspiel miterleben mussten. Beinahe hätten sie mich auf den Scheiterhaufen geworfen. Sie versuchten, mir die schrecklichen Dämonen mit einem angereisten Exorzisten auszutreiben, aber es half nichts. Im nächsten Jahr wiederholte sich der eisige Besuch aus der Unterwelt. Sie liessen mich am Leben, aber verbannten mich in dieses einsame Kloster, wo ich alleine bin, mit nur einem einzigen Novizen an meiner Seite. Wenn es wieder soweit ist, verbiete ich ihm, in meine Nähe zu kommen. Das Leben ist hart, aber ich bin glücklich. Es freut mich, dass du den langen Weg hierher geschafft hast und es tut mir leid, dass ich dich so sehr enttäuschen muss. Ich bitte dich, wahre mein Geheimnis und mein Gesicht.»

Sein ehemaliger Meister stand mit offenem Mund neben ihm und starrte Gaston an. Offenbar war ihm die drastische Schilderung der unheimlichen Mächte in Mark und Bein gedrungen. Gaston blickte stur auf das offene Meer. Guthmann reiste mit dem nächsten Zug wieder ab.

Gaston fuhr an jenem Nachmittag beruhigt mit seiner angefangenen Arbeit fort. Er hackte das Kaninchen in Stücke und gab es in den Feuertopf. Zusammen mit den Kräutern aus dem Garten liess er es bis am Abend schmoren. Er ging auf sein Zimmer, das inzwischen bedrängend voll mit Papierstapeln war, und schrieb weiter.

Carlo Spiller schreibt Prosa, Lyrik und Theatertexte.
Aktuellste Literatur in drei Teilen. Die Fortsetzungsgeschichte in der Fabrikzeitung.

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