Das chinesische Sozialkreditsystem (shehui xinyong tixi) ist weltweit eine der meistbeachteten politischen Visionen des «datifizierten Bürgers». Dies hat viele Gründe: Die Grösse (alle Bürger sollen bewertet werden), die zeitliche Nähe (bereits 2020 soll das System landesweit implementiert sein), sowie die ungeklärte Frage, was ein solches System in der Hand einer autoritären Regierung bewirken wird. Vieles ist noch unklar, denn ein einheitliches Sozialkreditsystem gibt es noch gar nicht. Im Jahr 2014 veröffentlichte der Chinesische Staatsrat ein Dokument, das ein landesweites Bewertungssystem für alle Bürger, Unternehmen, und Organisationen vorschlägt. Als Grundlage für die Beurteilung sollen Informationen zu Finanzen, sozialem Verhalten und Konsum dienen. Das Ziel dieses Sozialkreditsystems ist es «den vertrauenswürdigen Menschen Vorteilen zu beschaffen und Vertrauensbrecher zu bestrafen». Medienberichte der letzten Monate liefern vorläufige Einblicke in wie dieses Ziel umgesetzt werden soll. So gibt es mittlerweile schwarze Listen über Bürger, die einem Gerichtsbeschluss nicht nachkommen. Landet man auf einer solchen Liste, kann man nicht mehr mit dem Flugzeug reisen oder im Zug in der ersten Klasse fahren. Wie so oft in China, werden auch die Pläne für den Sozialkredit experimentell entwickelt. Momentan gibt es 30 verschiedene Versionen, die von lokalen Regierungsstellen ausprobiert werden. Darüber hinaus haben auch Chinas grosse Internetfirmen die Erlaubnis erhalten, eigene Sozialkreditsysteme zu erarbeiten. Der sogenannte Sesamkredit (Zhima) des chinesischen Internetriesen Alibaba ist das vermutlich erfolgreichste Beispiel. Hier werden Kunden mit einem geheimen Algorithmus bewertet, der Finanzdaten, aber auch das soziale Netzwerk und Kaufverhalten berücksichtigt. Sesam­kredit ist ein kommerzielles Projekt und es ist noch offen, ob oder in welchem Ausmass solche Ansätze mit dem staatlichen Sozialkredit zusammengeführt werden.

Im Westen wird vor dem chinesischen Kreditsystem gewarnt. Beispielsweise titelte der Economist «China erfindet den digitalen totalitären Staat» und die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht von «totaler Kontrolle». Es ist aber nicht nur die Sorge um die Zukunft des chinesischen Bürgers, die uns umtreibt, sondern auch die Angst, dass der datifizierte Mensch die Stabilität oder sogar das Überleben der Demokratie gefährdet. In diesem Sinne fragte die Neue Züricher Zeitung: «Ist Chinas Punktesystem eine Warnung für andere Länder?» Die chinesische Presse ist da weniger kritisch und sieht das Sozialkreditsystem als Chance, der Gesellschaft das Vertrauen ineinander zurück zu geben. Die chinesische Global Times weist westliche Warnungen als unzutreffend zurück und betont, dass das System lediglich «nicht vertrauenswürdige» Bürger bestrafe.

Es wäre nun ein Leichtes, die chinesische Presse als Sprachrohr eines autoritären Staates abzutun, und zu vermuten, dass Bürgern keine Wahl gelassen wird. Wer aber oft in China reist, wird bestätigen können, dass viele Menschen tatsächlich das Sozialkreditsystem als einen Hoffnungsträger sehen. In nahezu jedem Gespräch – ob mit einem Taxifahrer oder einem Universitätsprofessor – erfährt man, den Menschen in China fehle es an Vertrauen (xinyong), an Moral (daode) und einem Sinn für das Gemeinwohl (gongdexin). Es ist schwer zu sagen, ob diese einhellige Ansicht durch eine zensierte und gesteuerte öffentliche Meinung gefördert wird. Der Glaube an eine bessere digitale Welt aber geht deutlich tiefer als blosse Propaganda. Wo wir im Westen die Entmündigung des Menschen durch digitale Überwachung sehen, erleben chinesische Bürger die Macht, gemeinsam etwas zu verändern. Die digitale Welt scheint ein Gefühl des «wir» und des «gemeinsam» zu geben, das im Alltag schmerzlich vermisst wird. Um dies besser zu verstehen, muss man sich einige kollektive digitale Erlebnisse in China vor Augen führen:

Am 29. Oktober 2008, zu einem Zeitpunkt als das Internet in China rasant zu wachsen begann, besuchte Lin Jiaxiang, ein knapp 60 Jahre alter Parteifunktionär, ein Fischrestaurant in Shenzhen, nahe der Grenze zu Hongkong. Er bat die 11-jährige Tochter des Restaurantbesitzers ihm den Weg zur Toilette zu zeigen. Dort angekommen, versuchte er das Mädchen in die Toilette zu zerren; sie entkam und lief zu ihren Eltern. Als der Vater, den Mann zur Rede stellte, drohte dieser: «Ich bin vom Transportministerium! Mein Rang ist dem eures Bürgermeisters gleich! Ihr hier seid nicht mehr für mich als ein Furz! Möchtest du es mit mir aufnehmen? Möchtest du sehen was ich dir antun kann?» Die Szene wurde von einer Sicherheitskamera aufgenommen und später über soziale Medien verbreitet. Die Empörung war landesweit gross, und viele Internetusers fingen an, sich selbstironisch als Furzbürger (pimin) zu bezeichnen. Die digitale Medienaufmerksamkeit führte zu Lins Entlassung und der «Furzbürger» avancierte zum Inbegriff des «einfachen Internetusers» und einer virtuellen Gemeinschaft, die mehr Gerechtigkeit und Fairness fordert.

Der Fall Lin Jiaxiang steht am Anfang eines Phänomens, das in China die «Menschenfleischsuchmaschine» (renrou sousu) genannt wird. Hierbei arbeiten Internetuser zusammen und sammeln Informationen, um Missstände oder Korruption aufzudecken. Ein weithin bekanntes Beispiel dieses chinesischen crowd sourcing ist die kollektive Beweisbeschaffung, um einen bestechlichen Parteifunktionär zu Fall zu bringen. Es handelte sich hierbei um Yang Dacai, der Leiter der Behörde für Arbeitssicherheit in der Provinz Shaanxi. Im Jahr 2012 besichtigte Yang eine Verkehrsunfallstelle, an der mehrere Menschen ums Leben kamen. Der Parteifunktionär wurde dort fotografiert; lächelnd. Wieder ging ein Bild durch die chinesischen sozialen Medien, und wieder waren Menschen über den fehlenden Respekt und die fehlende Moral der politischen Elite erbost. Unangebrachtes Lächeln ist jedoch kein kriminelles Vergehen. Doch konnte man auf dem Foto sehen, dass Yang eine teure Armbanduhr am Handgelenk hatte. Internet­users begannen nach weiteren Bildern von Yang Dacai zu suchen, und fanden heraus, dass er insgesamt 11 Luxusuhren besass. Eine Untersuchung wurde eingeleitet und am Ende wurde «Bruder Armbanduhr», wie er von den Furzbürgern genannt wurde, wegen Bestechung zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Kollektive digitale Erlebnisse dieser Art gibt es viele. Sie tragen zur Hoffnung bei, dass Algorithmen Chinas Vertrauenskrise lösen können. Doch auch wenn man aus dieser Perspektive eine positive Einstellung zu Überwachungstechnologien nachvollziehen kann, so scheint es weniger verständlich, dass Datifizierung in den Händen des Staates so wenig Sorge bereitet. Für religiöse Gruppen, Minderheiten, und andere potentielle «Unruhestifter» wird ein digitaler Alptraum Wirklichkeit. Mehr Gerechtigkeit bringt der Sozialekredit nämlich nur dem, der weder von der Linie abweicht noch gewisse Grundprinzipien in Frage stellt, so wie das Machtmonopol der Kommunistischen Partei. Doch der datifizierte Bürger muss noch nicht einmal aktiv von der Norm abweichen, um verdächtig zu werden. In der Welt von Big Data reicht es, ein hinreichend ähnliches Profil zu haben wie potentielle Staatsfeinde. Wie nahe man den Merkmalen eines Unruhestifters sein muss, bestimmt der Algorithmus, und der Algorithmus repräsentiert den Willen der poli­tischen Elite. Da kann es schon reichen, Muslime zu sein, um ein Risiko darzustellen. In Chinas neuer digitalen Gerechtigkeit wird es nicht genug sein, sich nichts zu Schulden kommen zu lassen. Und vermutlich wird es auch einer privilegierten Elite nicht schwerfallen, in jedem Fall virtuell gut dazustehen. Diese Fragen diskutiert man aber nicht öffentlich, so würde man vermutlich selbst bereits zum Unruhestifter.

Viele Menschen in China sehen sich benachteiligt und ungerecht be­handelt in einem politischen und wirtschaftlichen Machtgeflecht, das Privilegien und materielle Vorzüge ungleich verteilt. Die Risiken technologischer Fehlbewertung scheinen da vergleichsweise gering. Doch wer mit dem chinesischen Taxifahrer oder dem Univesitätsprofessor die Frage des Sozialkreditsystems zu Ende diskutiert, wird feststellen, dass die Vertrauenskrise und die fehlende Moral menschlich und nicht systembedingt sind. Es geht also nicht darum, politische Institutionen zu verändern, sondern den einzelnen Funktionär, Manager, oder Nachbarn zu mehr Transparenz und Verantwortlichkeit zu erziehen. So wird im Gespräch der zu lösende Knoten immer noch ein Stückchen weiter vor sich hergeschoben. Doch am Ende der Datenkette kommen alle zum selben Schluss: Es braucht vertrauenswürdige und moralisch einwandfreie Politiker, die dieses System bauen und lenken. Wo diese guten Menschen herkommen sollen und was ihre Güte aufrecht erhält, steht auf einem anderen Blatt.

Stefan Brehm und Nicholas Loubere forschen am Centre for East and South East Asian Studies an der Universität Lund in Schweden

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert