Kürzlich vernahm ich, Ritalin könne auch bei Gewichtsproblemen zur Anwendung kommen, da es den Appetit mindere. Noch vor Erreichen des letzten Abschnitts dachte ich «geht’s noch!» in drei Sprachen und hätte bestimmt einen Leserbrief geschrieben, wär’ ich nicht kurz darauf von etwas abgelenkt worden, an das ich mich nun nicht mehr erinnern kann, aber es tut zum Glück nichts zur Sache, zu der ich im Übrigen gleich komme. An der «Mehr Ritalin, weniger Appetit»-Idee störte (und stört, keine blosse Angelegenheit des Präteritums) mich, dass ein Medikament, kein Vitamin-Kügelchen, für einen ganz anderen Zweck als den eigentlich intendierten verwendet werden soll. Als wär’s was, das man einfach so schlucken kann, und der Körper nimmt sich dann schon, was er braucht; der Rest wird nebenbei zu Dünger für starke Reden. Und nun muss ich, jenen Artikel noch vor mir sehend, einmal mehr vor meiner eigenen Tür kehren.

Es war Frühling des Jahres 2005, oder war es der Herbst, als ich mir versprach, niemals zu gebären. Amsterdam lockte mit warmen Poffertjes und ebenso warmen Heimatgefühlen, für die mit ein wenig Fantasie bekanntlich auch geringe Verwandtschaft genügt. Meine Mutter war ein wenig hilflos. Das Kind, vierzehn Jahre, krümmte sich vor Schmerz. Es hielt sich schon lange nicht mehr den Bauch, nur noch das Gesicht, da bestand noch Hoffnung. Der Schmerz ist überall im jungen Körper, er schwappt auch auf die Mutter über. Die Bettlaken feucht vom fieberlosen Schweiss und es gab nichts mehr zu erbrechen. Es klopfte an der Tür des Hotelzimmers, eine Frauenstimme möchte wissen, ob sich in der Stille jemand verbirgt. Meine Mutter, Sorge im Gesicht und wohlklingendes Holländisch im Mund, antwortete. Ich war nicht wirklich dabei. «Ich werde niemals gebären, wenn das schon so weh tut.» Der Schmerz traf mich in seinem Ausmass unvorbereitet, was ich in der Folge zu verhindern wusste und darum grundsätzlich Schmerzmittel auf mir trug, eine Entscheidung, die nicht ganz witzlose Blüten tragen sollte.

Zum zweiten Mal überrascht von der Macht, die diese, sagen wir 150 Milliliter Blut über mich haben sollen (es fühlte sich an, als müsste ich mindestens die Hälfte meines Gesamtbestandes verlieren), liess ich den Lehrer wissen, dass ich die Stunde verlassen müsse. Überhaupt. Worte formen. Ich nahm eine weitere Schmerztablette (es war vielleicht die dritte) in der Hoffnung auf ein wenig Abklingen. Ich will nicht keinen Schmerz, derartige Ansprüche hat man ja nicht. Ich will nur nicht diesen Schmerz. Auf alle Fälle nahm ich eine weitere Tablette. Und ich glaube, es war eine andere als diejenige, die ich am Morgen schon genommen hatte, und ich glaube ebenfalls, mich zu erinnern, ein paar Stunden später auf einer Packung der beiden oder drei oder vier, die es dann insgesamt gewesen waren, gelesen zu haben «nur alle 48 Stunden eine Tablette einnehmen». Die Details sind nicht mehr so deutlich. Dazwischen liegt auch eine Matura und ein schön gegärtes Studium. Nun gut. Der Punkt ist, es war zu viel. Mir war plötzlich sehr heiss, obwohl es kühles Nass regnete. Ich setzte mich draussen auf eine Mauer, liess den Regen meine Arme benetzen und fühlte mich von der Sonne, die nur schwach durch die Wolken drückte, stark geblendet. Ich hörte Stimmen mit Verspätung, wenn Leute vorbeiliefen. Irgendetwas am Laub des nebenstehenden Baumes verzückte mich ungemein. Es ging mir nicht schlecht. Ich hatte einen Trip. Wegen der Medikamente. Wegen der Schmerzen. Ich entsinne mich eines wunderhübschen Mosaiks am Boden, auf das ich meine Freundin aufmerksam machen musste, als sie mich nach Beendigung der Stunde abholte, sodass wir etwas in unserer jungen Mägen bekämen. Man soll Schönes ja teilen. Sie lachte – es war eine Pfütze. Eine Lehrerin brachte mich ins Lehrerzimmer, meine Freundin brachte mir eine Banane, ich schlief für knapp eine Stunde. Ich glaub’, dann kam eine Doppelstunde Deutsch.

Ob ich sexuell aktiv sei, fragt mich die Ärztin, und noch heute kommen mir beim Gedanken an diesen Moment fast die Tränen vor Peinlichkeit. Meine Mutter sitzt neben mir und wir sehen uns an. Sie verlässt den Raum. Oh, ich habe ihr nie dafür gedankt, eigentlich. Am Ende verschreibt die Ärztin mir die Pille, die ich, um auf den Anfang zurückzukommen, nicht anti-baby, sondern anti-ich-sterb’-gleich nehme. Zehn Jahre. Da sitz ich nun, mit meinen jungen fünfundzwanzig Jahren, und kann schon sagen, ich nehme etwas seit zehn Jahren. Und hab dafür bis jetzt etwa 3’000 Franken bezahlt.

Was mich stört an der Pille ist ihre Selbstverständlichkeit. Die sie für mich hat. Die sie auch für viele Partner hat. Mich stört meine Ungestörtheit. Ich hinterfrage jedes Aspirin und esse keine Tiere, nicht nur, aber auch, weil ich nicht mitessen will, was man ihnen zu essen gab. Ich versuche, nicht zu nah an jegliche Arten von Staub zu kommen, ziehe an der Zigarette meist bewusst und mal beschämt, alles in allem zum Glück nicht sehr häufig. Aber das gelbliche kleine Ding, das ich schlucke, jeden Abend? Huere schlimm wäg eimal. Oder eben ungefähr 3360 Mal, wenn mich meine bescheidenen Rechenkenntnisse nicht im Stich lassen. Die Pille ist Teil meines ganzen Daseins als Frau; sie ist tägliche Normalität, seit ich mich als Frau empfinde und nicht mehr als Mädchen, also Kind. Meine Brüste sind mit ihr aufgewachsen. Der Satz «Ja, die Pille» rollt über die Zunge, bevor mich der Apotheker fragen kann, ob ich «noch andere Medikamente» nehme. Die Pille, ich weiss ich sollte, aber ich hinterfrage sie kaum. Weil ich nicht will. Weil sie bis jetzt so gut funktioniert hat. Weil sie so schnell wieder aus dem Blick ist.

Die Pille, prompt jene Marke, die mich schon so lange begleitet, hat es in diesen Jahren mehrmals in die Zeitung geschafft. Die entsprechenden Hinweise stehen auf dem Beipackzettel, den ich zuletzt einmal gelesen hatte, bevor Leggins ihren Weg zurück in unsere Schränke fanden.

Einmal, im Spital, wo ich mich zum Glück selten finde, fielen unter den mutmassenden Ärzten die Worte «Lungenembolie» und «Thrombose». Ich, von (anderen) Bauchschmerzen benebelt, nahm sie nur durch einen Schleier wahr, aber doch genug, um zu denken: «Wie hiess das Mädel noch, das jetzt im Rollstuhl sitzt», und: «Was wohl mit den Lungen passiert, wenn sie embolieren» und, für einmal, und dann auch nie mehr: «Das ist doch ein Scheiss, mit dieser Pille».
Es war dann nichts. Also weiter.

Alternativen gingen mir schon häufig durch den Kopf. Auch durch das eine oder andere Gespräche mit meiner Gynäkologin. Aber alle sind sie Alternativen zur Schwangerschaftsverhütung, und ich fürchte mich zugegeben masslos vor der Rückkehr des Schmerzes. Derart, dass ich ein Absetzen noch nicht einmal probiert habe. Und ich hab’ denn auch Glück; ich vertrage die Pille gut. Ich leide nicht unter den starken Stimmungsschwankungen (grundsätzlich nach unten), von denen mir Freundinnen berichten. Ich kann mich nicht erinnern, Änderungen an meinem Körper festgestellt zu haben, die auf die Einnahme zurückzuführen wären. Von Vitaminmangel weiss ich zwar zu berichten, kann selben aber nicht mit gutem Gewissen auf die Pille schieben. Weder Brustschmerzen noch Atembeschwerden bin ich begegnet und Wahrnehmungs- beziehungweise Sehstörungen kenne ich nur im Sinne Fielmanns. Und, trotz meiner Tendenz, Alltägliches aus den Augen zu verlieren, habe ich sie bis jetzt so selten vergessen, das man sich wundern darf, warum mir regelmässiges Wassertrinken so schwerfällt.

Ich wünschte mir, Menstruationsschmerz würde genug ernstgenommen – Studien, die das schlimme Ausmaß der Krämpfe belegen, gibt es zu Genüge – um die Pille nicht als einzige Fluchtmöglichkeit zu haben. Ich wünschte, schluckbare und also beim Sex nicht störende Verhütung wäre nicht allein Sache der Vulva. Ich wünschte, der Satz «aber sie sagte, sie nähme die Pille» hätte keine Gültigkeit. Ich wünschte, es wäre nicht sogar für mich dermassen selbstverständlich, dass ich allein die Bezahlung übernehme; ich wünschte, dass es die Pille für alle Beteiligten gäbe und die Entscheidung, wer sie nimmt – wenn denn einer – wäre eine gemeinsame und die Finanzierung auch. Ich wünschte, die Pille selbst verlöre wieder an Selbstverständlichkeit und gewänne dafür an Zugänglichkeit – für Frauen überall; auch im Sinne der Bezahlung.

Ich wünsche mir ein Gespräch.

Ich wünsche mir ein Gespräch. Dass die Pille im Gespräch bleibt. Dass «das Gespräch» jetzt nicht vorbei ist, nur weil es die Pille gibt und sie ja zugegebenermassen gut funktioniert zur Schwangerschaftsverhütung. Ich verlange, dass sich auf der kleinen, in meinem Fall weiss-gelben Schachtel nicht zu sehr ausgeruht wird.

Am Rande. Die Schmerzen sind nicht weg. Aber sie sind leiser. Sanft. Ich hab’ sie fast ein wenig lieb. Sie sind, wenn man bedenkt, dass es sich hier gewissermassen um innere Blutungen handelt, auch nicht ganz abwegig. Mit so viel Natur kann ich leben. Und doch; Verhütung bleibt bei mir vorrangig Schmerzverhütung.

Maaike Kellenberger studiert Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft. Sie ist aktiv im Netz und lebt in Zürich.

Ein Kommentar auf “Die Geschichte einer Verhütung

  1. Kon Jong Dom sagt:

    Nichts ist selbstverständlich.

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