Ich liege am Strand in der Toskana und habe vor Faulheit ein schlechtes Gewissen. Mir fällt der Soziologe Goffman ein, der seinerseits einmal an einem schottischen Strand lag, Leute beobachtete und so seine Rollentheorie erfand. Diese besagt in etwa, dass alle Menschen ständig Rollen spielen, als wären sie Figuren in einem Theaterstück. Dazu tragen sie passende Kostüme (z.B. Anzug oder Hooters-Uniform) und verhalten sich entsprechend Ort und Situation. So spielt einer beim Dinner den noblen Knigge-Kenner, während er beim Männerabend laut rülpst, und sich in unbeobachteten Momenten sogar in der Hose kratzt und danach an seinen Fingern riecht.

Ich schaue also genau, versuche die Bühne zu sehen und die Rollen zu verteilen – und merke, wie mir die Theorie mehr einleuchtete als jetzt die Praxis. Ist es vielleicht schwerer, Rollen festzumachen, wenn die Kleider fehlen?

Zum einen sehe ich plötzlich nur noch Behinderte. Der Mann im Rollstuhl, der im Sonnenschirmschatten mit ausgestrecktem Finger auf seinem Computer rumfährt und eine Schnute zieht. Die «geistig Behinderte», die ihrer Mutter den Hut vom Kopf schlägt, von ihr angeschrien wird und grinst. – Es scheint vermessen, hier sagen zu wollen, sie würden eine Rolle «spielen». Oder nicht?

Dann eine Frau, die ihre alte Mutter im Rollstuhl durch den Sand schiebt. Die Bademeisterin klettert vom Turm, um zu helfen, den Stuhl auf den Holzsteg zu hieven. Über den heissen Sand geeilt kommt noch ein Mann, der ebenfalls mit anpackt. Es kommt mir zynisch vor, hier zu sagen: Der tut das nur, damit andere seine Heldenhaftigkeit sehen können. Und wenn schon!

Schaue weiter: Die Verkäufer. Die wenigsten sind Italiener; diese schieben bunte Kühlwagen vor sich her, in denen sie Früchte und Gelati lagern. Sie rufen mit lauten Papageienstimmen. Alle andern sind «Marocchini», also jene, die von südlicher als Sizilien her kommen. Die tragen ihre Kleider-Tücher-Schirme-Uhren-Stühle-Trommeln auf Rücken und Schultern und Köpfen durch die Schweinehitze. Sie rufen nicht, sie schleichen durch die Wege der Sonnenschirme und lassen, wenn sie nicht mehr können, ihre schweren Bündel in den Sand fallen.

Während die italienischen Verkäufer ihre Cocobello-Stimme nach der Arbeit (hoffentlich!) ablegen können, so stelle ich mir das bei den schwarzen Verkäufern schwieriger vor – schon nur, weil zumindest in den italienischen Strandregionen jeder Schwarze eben als Strandverkäufer, als «Marocchino» abgestempelt wird.

Und die Bademeisterin? Sie hat zwar ein Kostüm, aber sie hat doch auch die richtige Verantwortung. Obwohl, mein Bademeister-Cousin zeigt auf ein Schiff im Wasser und sagt: Wenn einer so weit draussen am Ertrinken ist, fahren wir mit dem Boot hin, damit die Leute denken, wir würden ihn retten. Aber eigentlich fahren wir bloss da raus, rufen die 117 und sagen: Irgendwo hier ist einer ertrunken.

Soviel zum Schauspiel.

Und zuletzt: Was ist mit den Pokémon-Jägern? Die mit gesenktem Kopf über die Promenade schleichen, den Blick im leuchtenden Smartphone-Bildschirm verloren. Spielen die noch? Oder werden sie vielmehr gespielt, gezogen von der Verheissung einer Verschmelzung der öden materiellen mit der farbig-magischen virtuellen Realität?

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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