Der Winter schmilzt langsam zum Frühling und die Weltreisenden kehren zurück. Noch ganz aufgekratzt, back in der Zivilisation zu sein, zeigen sie den Daheimgebliebenen, was wir verpasst haben: Tiefblaues Meer, bewaldete Felsen, einsame Strände mit verwehten Palmen, See voller Quallen, Robinson-Glamping auf privater Insel inklusive Koch und Haushälterin. Ich vergehe vor Neid und langweile mich gleichzeitig.

Nachdem wir uns durch die ganzen Fotos geklickt haben, vergehen die Braungebrannten unter lautem Geseufze in Nostalgie beim Anschauen ihrer wackligen Handyvideos vom Fischen mit Einheimischen. Wir Bleichen verziehen uns in die Küche, wo bald eigene zurückliegende Thailand-, Hawaii-, Südamerika- und Australienreisen abgespult werden. Und du, fragt einer, und plötzlich schauen alle mich an, warst du auch schon reisen? Ich schüttle den Kopf. Natürlich bin ich unterwegs, aber das ist für sie nicht «reisen». Ich war noch keine Monate in einem Entwicklungsland backpacken und surfen und mit Würmern unter der Haut zurückgekehrt. Fragende, ja entsetzte Gesichter: Warum nicht?

Und zum ersten Mal frage ich mich selber: Ja, warum eigentlich nicht? – Keine Zeit, CO2, pervers dekadenter Armutstourismus, no need für Selbstfindungstrip? – Aber im Ernst: Vergeude ich etwa gerade mein Leben?

Träume ich nicht jede Nacht geradezu obsessiv vom Meer, von Pfahlbauhäuslein, umgeben von warmem dunklen Wasser mit unbekannten Kreaturen? Eine Freundin hat einmal gesagt, es sei ihr Albtraum, sich plötzlich in einem entlegenen Ort mit einer komplett fremden Sprache und Kultur wiederzufinden. Ich kann das irgendwie nachvollziehen. Trotzdem stapfe ich zurück zu den Gejetlaggten, die noch Sand in den Ohren haben und gerade Schnorchel-Unterwasseraufnahmen bestaunen, und rufe: Es ist so ungerecht, ihr geht und livt einfach meinen Dream! Was habe ich in dieser Zeit gemacht? Am Computer gesessen und Kolumnen geschrieben?

So wie’s aussieht, habe ich eben doch etwas verpasst. Liegt das an falschen Freunden? In meinen Kreisen gilt «reisen» wie oben definiert als spiessig. Das tun Arzttöchter vor dem Jusstudium und Paare, bevor sie heiraten und Kinder kriegen – la pura vida noch einmal voll auskosten, damit man später nichts bereut. Aber irgendwie geht’s heute nicht mehr darum. Man macht nicht eine Weltreise im Leben, alle machen ständig und immer wieder ganz viele Weltreisen: meine Timeline ist voll von verbrannten Nasen in karibischen Cocktailbechern. Warum auch nicht? Wenn das Mittelmeer an Reiz verliert, weil ständig Flüchtlinge angeschwemmt kommen, wenn man in der Türkei verhaftet und in Tunesien am Strand abgeknallt wird, und der Zürichsee im Januar einfach nicht so chillig ist… Warum nicht 10 Stunden um den Globus jetten, um auf einer einsamen Insel Tschausepp zu spielen?

Ich schau jetzt mal nach Flügen im 2018 nach Indien. Holy Smoke!

Michelle Steinbeck ist Autorin und Redaktorin der Fabrikzeitung.

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