Regulierung ist eine gesellschaftliche Antwort auf eine Vertrauenskrise. Werden Gemeinschaften so gross, dass die herkömmlichen Verfahren zur Vertrauensbildung – wie etwa Gespräche, Beziehungen, Erfahrungen – nicht mehr ausreichen, entwickeln sie Instrumente, um Sicherheit über Regeln zu erlangen. Führt eine WG ein System mit Sanktionen für diejenigen Mitbewohnerinnen und -bewohner ein, welche sich nicht an Abmachungen halten, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie in einer Vertrauenskrise steckt. Komplexe Gesellschaften agieren so gesehen ständig unter Bedingungen der Unsicherheit, sobald Handlungen und gesellschaftliche Institutionen den Rahmen persönlicher Beziehungen überschreiten.

Die Geschichte des Geldes ist ein Feld, auf dem sich die künstliche Herstellung von Vertrauen in Gesellschaften studieren lässt. Geld ist selbstreferentiell, wie John Searle in ‹The Construction of Social Reality› festgestellt hat: Es ist das, wovon alle glauben, dass es Geld sei. Der Wert von Geld wird heute nicht mehr über seine Materialität oder eine Garantie hergestellt, sondern über das Vertrauen von Menschen in ihr Zahlungsmittel. Dieses Vertrauen ist bei Währungen durch die Volkswirtschaft und ihre Nachfrage nach Geld in der Regel gerechtfertigt. Letztlich ist Geld heute aber lediglich eine Datenbank auf einem Server. Eine Zahl auf einem Bankkonto legt ein Guthaben fest, dem nichts Reales entspricht. Weil wir – und alle anderen – aber daran glauben, dass diese Zahlen eine Bedeutung haben, funktioniert dieses sogenannte Fiat-Geld («fiat» heisst auf Latein «es werde», es handelt sich also um Geld, welches eine Zentralbank aus dem Nichts schaffen kann).

Ein Anteil an dem Vertrauen, das Geld und den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten entgegengebracht wird, hat die extreme Regulierung: Wie eine Banknote auszusehen hat, was Banken mit Geld machen dürfen und was nicht, wie die Nationalbank operiert – all das ist durch Gesetze und Reglemente streng kontrolliert. Wenige Menschen verstehen diese Mechanismen, aber sie wissen, dass es sie gibt. Die Geldmenge wird von der Nationalbank zwar vergrössert oder verringert, doch diese Möglichkeit wird weder zufällig noch willkürlich verwendet, sondern folgt bestimmten Kriterien und wird durch den internationalen Währungsmarkt bestimmt.

Durch den Medienwandel im Rahmen der Digitalisierung hat sich das Vertrauensproblem verschärft: Im Netz interagieren Unbekannte miteinander. Wie lässt sich hier Vertrauen herstellen? Eine provisorische aktuelle Antwort lautet: Durch Technologie. Gibt ein Verfahren Sicherheit, dass alle Agierenden sich an bestimmte Regeln halten, braucht es grundsätzlich keine Regulierung mehr. Betrachtet man dabei wieder die Zahlungsmittel, dann zeigt die Währung Bitcoin, wie die Funktion von virtuellem Geld ohne Regulierung erbracht werden kann.

Bitcoins und andere ähnliche digitale Währungen nutzen eine Blockchain. Sie besteht aus Dateien, die verschlüsselt und anonym alle Transaktionen eines Systems aufzeichnen. Man kann sich das am Beispiel eines Uno-Spiels vorstellen: In der ersten Datei stünden verschlüsselt alle Karten, die am Anfang verteilt wurden. Wird die erste Karte ausgespielt, entsteht eine zweite Datei, indem dieser Spielzug der ersten verschlüsselt hinzugefügt wird. Aufgrund der Verschlüsselungsmethoden kann niemand sehen, wer welche Karten besitzt oder wie der Aufnahmestapel sortiert ist, aber alle können sicher sein, dass niemand das Spiel manipuliert hat.

Diese Technologie, die mit grosser Sicherheit alle Transaktionen aufzeichnet, aber trotzdem allen Beteiligten Anonymität garantiert, funktioniert dezentral: Die Dateien befinden sich bei den Benutzerinnen und Benutzern des Systems. Sie könnten theoretisch mit ihren Rechnern selbst die nötigen Transaktionen und Überprüfungen vornehmen und brauchen weder einen Server noch eine Verwaltung dazu. Kurz: Vertrauen schafft auf der Blockchain eine anonymisierte Totalüberwachung.

Bitcoins verwenden die Blockchain-Technologie genau so: Wer Bitcoins besitzt, kann sicher sein, dass alle Transaktionen korrekt ablaufen und gespeichert sind, ohne dass es eine Bank gibt, die dafür einsteht. Zahlungen werden zwar gespeichert, wer sie aber ausführt und wem sie gutgeschrieben werden, lässt sich im System nicht nachvollziehen. Bitcoins sind als System anonym, dezentral und sicher.

Rund um Bitcoins und die Blockchain ist eine ganze Start-up-Industrie entstanden. Die Walliser Gemeinde Gondo bietet Unternehmen in dieser Branche günstigen Strom an, weil die Rechenprozesse bei der Arbeit mit digitalen Währungen viel Energie verbrauchen. So werden die Knappheit der Währung und ihr langsames Wachstum sicher-gestellt. Der SVP-Nationalrat Franz Grüter hat im Sommer 2016 eine mittlerweile abgelehnte Motion eingereicht, im Bankgesetz formulierte Sorgfaltspflichten und Eigenmittelanforderungen für die Bitcoin-Branche auszunehmen. In der Motion heisst es:

«Blockchains ermöglichen dank ihrer lückenlosen und nichtveränderbaren Historie den unwiderlegbaren Nachweis von Transaktionen. Damit könnten viele Geschäfte direkt zwischen zwei Vertragsparteien abgewickelt werden, die bislang einen Mittelsmann erforderten (z.B. Zahlungsdienstleister). Die Technologie birgt viel Potenzial, welches aber nur ausgeschöpft werden kann, wenn die entsprechenden Innovationen auf dem Markt getestet werden können. Die Schweiz hat die Chance, zu einem weltweit führenden Standort für Blockchain-Start-ups zu werden. Eine Praxis, die dies zurzeit behindert, ist die weite Auslegung des Einlagebegriffs gemäss der Bankengesetzgebung.»

Die Verknüpfung des Innovationspotentials von digitalen Währungen mit Deregulierung ist eine global verbreitete Forderung. Forschende im Bereich der Innovation wie der Koreaner Hang Sik Park fordern für den Umgang mit Digitalisierung generell umfassende Deregulierung.  Betrachtet man jedoch die Funktion von Bitcoin genauer, erscheint diese Tendenz nicht unproblematisch: Mit Bitcoins zu bezahlen ist heute unpraktisch. Das hat zwei Hauptgründe. Die Währung hat in den letzten Jahren eine starke Kurssteigerung erfahren. 2010 bezahlte jemand mit 10’000 Bitcoins für zwei Pizzas. Heute entspräche der Kaufpreis rund 130 Millionen Franken. Erfährt eine Währung einen solchen Zuwachs, ist es unvernünftig, sie im Alltag zu verwenden. Bitcoins sind eine Anlage, keine brauchbare Währung. Zweitens ist der Speicher von Bitcoins bewusst beschränkt, um zu verhindern, dass nur spezialisierte Unternehmen mit Grossrechnern Bitcoins verarbeiten können. Der kleine Speicher führt jedoch dazu, dass Transaktionen sehr lange dauern und viel kosten. Würde man heute die zwei Pizzas mit Bitcoins bezahlen, würde allein der Bezahlvorgang im Durchschnitt über eine Stunde dauern und möglicherweise über 10 Franken Transaktionsgebühren kosten – die Gebühren erhalten diejenigen Bitcoin-User, welche die Transaktion im Rechenverfahren bestätigen. Sie stellen Server zur Verfügung, welche die Transaktion im System festhalten und so ihre Sicherheit garantieren. Aufgrund der Verschlüsselungsverfahren können diese Prozesse sehr rechen- und stromintensiv sein. Deshalb entstehen dafür spezialisierte Angebote, die in der heutigen Praxis der theoretischen Bitcoin-Idee widersprechen. Kurz: Damit ich mit Bitcoins eine Pizza zahlen kann, muss jemand diesen Zahlvorgang ins System einschreiben. Diese Dienstleistung muss bezahlt werden, damit sie jemand erbringt.

Bitcoins sind deshalb im Alltag ein untaugliches Zahlungsmittel, selbst wenn es in Zürich einen Bitcoin-Bankomaten gibt und durch Bitcoin gedeckte Kreditkarten überall einsetzbar sind. Ihre häufigsten realen Anwendungen stehen denn auch in direktem Zusammenhang mit der Deregulierung:

Ende 2017 hat ein Altersheim in Schöftland zugegeben, Erpresser in Bitcoin bezahlt zu haben. Diese haben über einen Hackerangriff die Daten des Informatiksystems verschlüsselt und sie erst gegen Bezahlung freigegeben. Das Verfahren nennt sich Ransomware-Angriff. Bitcoins sind wie geschaffen für solche Transaktionen: Die Kriminellen können anhand der Transaktion nicht identifiziert werden, erhalten aber eine grosse Sicherheit für den Umgang mit dem Lösegeld.  Ein positiveres Beispiel sind Remittances: Arbeitsmigrantinnen und -migranten schicken Geld an ihre Verwandten. Dafür bezahlen sie oft hohe Gebühren und der Prozess verläuft schleppend. Bitcoins versprechen hier direktere, also günstigere und schnellere Verfahren und werden zunehmend auch dafür eingesetzt. Gleichwohl ersetzen sie in diesem Prozess herkömmliche Währungen nicht, sondern dienen als Mittler für Überweisung und das Wechseln exotischer Währungen.

Der Versuch, Vertrauen im Währungssystem zu deregulieren, ist zumindest bei Bitcoins bislang noch nicht gelungen. Statt ein von staatlicher und politischer Kontrolle unabhängiges Währungssystem zu bauen, wurde ein Zahlungsmittel geschaffen, das kriminelle Handlungen erleichtern kann und nebenbei ungefähr so viel Strom verbraucht wie der ganze Staat Dänemark. Der Hype um Bitcoin hat zwar zu einer Anlageblase geführt, die den Wert der Währung inflationär gesteigert hat. Doch die Funktion einer Währung, ein stabiles Zahlungsmittel für Menschen zu schaffen, die einander direkt nicht vertrauen können, ist gerade auch deswegen nicht gegeben.

Philippe Wampfler ist Lehrer, Kulturwissenschaftler und Experte für Lernen mit Neuen Medien. Er schreibt regelmässige für verschiedene Blogs und Zeitungen über Schulen und Social Media.

3 Kommentare auf “Vertrauen und Technologie

  1. Pia Ammann sagt:

    Hallo Philippe! Bin als Ex-Bankerin genau Deiner Meinung. Danke für diesen Artikel! GLG Pia

  2. Samuel Waldburger sagt:

    Mich erinnern das Vertrauen in Technologie und die Erwartung, dass aufgrund der Eigenheiten der Technologie alle sich an die Regeln halten werden, an die (anonyme) göttliche Allwissenheit, die ja auch grosses Vertrauen genossen hat.

  3. Remo sagt:

    Das mit dem Stromverbrauch dürfte sich im Solarzeitalter wohl als Nebenargument erweisen. Das ganze Internet verbraucht jedes Jahr viel mehr Strom um Strom. Ohne Bitcoin. Allein die ganzen Videos, die heruntergeladen werden usw.

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