Im September 2013 fand im St. Petersburger Achmatowa-Museum eine gutbesuchte Ausstellung deutscher Künstler statt, die Daniil Charms gewidmet war. Der Titel lautete «Freunde des Unsinns». Ein Kulturkorrespondent, der die Veranstaltung im russischen Fernsehen kommentierte, zeigte sich höchst verwundert: «Wann haben die Oberiuten Unsinn produziert? Im Gegenteil – sie suchten doch nach Formen, um an den Sinn heranzukommen». Es ist erstaunlich, eine so klar formulierte Erkenntnis aus dem Munde eines Reporters zu hören.

Im Westen werden die Werke Charms‘ und der übrigen Oberiuten oft genug mit dem Begriff des «Absurden» etikettiert. Damit aber wird ihre Kunst stillschweigend mit jenen literarischen Strömungen in Verbindung gebracht, die hinter dem Weltgeschehen einzig die Leere vermuten, das große Nichts. Mit Autoren, die – vom Geist des Existentialismus erfaßt – den Menschen als ein in die sinnfreie Welt geworfenes Wesen begreifen wollen. Denn im klassischen Absurden Theater eines Ionesco, Beckett oder Albee reden die Personen aneinander vorbei, wodurch ihre Kommunikation als Scheinkommunikation, der Kontakt als nackte Bezugslosigkeit entlarvt wird. Der Sinn, den sich die Menschheit emsig zusammenleimt, bricht ein und offenbart einen dahinter klaffenden gähnenden Abgrund – die kaum zu ertragende Absurdität. Leicht läßt sich eine ähnliche Disparatheit auch im Charmsschen Werk ausfindig machen, womit seine Nähe zu den erwähnten Enttäuschten offensichtlich bewiesen wäre. Aber das Offensichtliche trügt. Denn Charms ist ausdrücklich kein Nihilist. Zwar kennt auch er jenes große Nichts, doch ist dieses Nichts für ihn keineswegs sinnlos, vielmehr umgekehrt – der Sinn an sich.

Seinem Wesen nach ist Charms ein Mystiker. Das Nichts fungiert ihm nur als ein notwendiger überzeitlicher Moment der Sammlung, als ein transzendenter Augenblick, welcher der Schöpfung vorausgeht, als ein Punkt, wo der Geist in sich selbst versinkt, bevor er sich willenhaft manifestiert. «…wenn ich blind und taub geworden bin und alle meine Sinne verloren habe, wie kann ich dann all das Schöne verstehen? Alles ist verschwunden, und nichts ist mehr da für mich. Aber dann kehrt mein Tastsinn zurück, und sofort erscheint beinahe die ganze Welt aufs Neue. Mein Gehör ist wieder da, und die Welt ist sehr viel besser geworden. Alle weiteren Sinne sind zurückgekehrt, und die Welt ist noch größer und besser geworden. Die Welt beginnt zu existieren, kaum habe ich sie in mich hineingelassen. Mag sie auch noch in Unordnung sein, aber sie existiert trotzdem! Ich begann die Welt in Ordnung zu bringen. Da entstand die Kunst. … Ich erschaffe die Welt, und das ist das Wichtigste an mir. … In alles, was ich tue, lege ich das Bewußtsein, ein Schöpfer der Welt zu sein», schildert Charms in seinem Brief an Klawdia Pugatschowa vom 16. Oktober 1933, einem Dokument, das möglicherweise die tiefsten Einsichten in sein Denken gewährt. Was hier beschrieben wird, ist der Prozeß der sinnstiftenden Kontemplation. Die Worte muten mittelalterlich an und könnten ohne weiteres der Feder eines Hugo von Sankt Viktor oder eines Bernhard von Clairvaux entflossen sein. Wie ähneln sie zum Beispiel den Sätzen Meister Eckhardts: «In meiner Geburt, da wurden die Dinge geboren, und ich war die Ursache meiner selbst und aller Dinge. Und hätte ich es gewollt, ich wäre nicht, und auch alle Dinge wären nicht; und wäre ich nicht, so wäre auch «Gott» nicht. Daß Gott «Gott» ist, davon bin ich die Ursache» (Deutsche Predigten, 52).

Auch bei Charms existiert zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Wesensgrund kein prinzipieller Unterschied. Nachdem im Gedicht «ich hob die Augen immer höher und höher» das lyrische Ich alle Gleichnisse und Spiegelungen von Gott, Welt und Mensch um- und umgewendet hat und am Ende ins «Paradeis» eingeht, begegnet es dort, einigermaßen erstaunt, eben jenem schöpferischen Nichts: «…und ich / hebe die Augen immer höher und höher / und seh daß ich geschaffen bin nach Gottes Bild und Gleichnis / und schweif durchs Paradeis / und es ist niemand dorten / und rufe aus wo ist denn Gott / und Gott antwortet mir / Gott das bin ich».

Auch anderen russischen Poeten war diese geistige Rückbesinnung nicht fremd, so dem klassizistischen «Gnostiker» Wladislaw Chodassewitsch: «Und ich erschaffe aus dem Nichts / mir Deine Berge, Wüsten, Seen, / die Glorie Deines Sonnenlichts, / das also schmerzlich anzusehen» («Der Äther bebt …») oder dem beinahe prophetenhaften Dichter und Bildhauer Maximilian Woloschin: «Wenn es dir schließlich gelingt, auch das Bewußtsein in dir zu löschen, / dann / wird aus der Tiefe des Schweigens heraus / das Wort geboren, / das in sich trägt / die ganze Fülle des Bewußtseins, des Willens, des Gefühls … / So von der Macht / des kleinen, gedächtnislosen Ichs befreit, / erkennst du, daß alle Erscheinungen / Zeichen sind, / durch welche du dich deiner selbst entsinnst … / Wenn du begreifst, / daß du kein Sohn der Erde bist, / sondern ein Wanderer in den Welten, / daß Sonnen und Gestirne in deinem Inneren / entstanden und erstarben» («Der Geselle»).

Das große Nichts betrachtet Charms also nicht als eine Sinnleere, sondern im Gegenteil eine Sinnüberfülle. Und die Ursprünge dieser Anschauung liegen für das christliche Abendland in den Schriften des geheimnisumwitterten Heiligen Dionysius Areopagita, dem Begründer der «negativen Theologie», in welcher sich Gott allen Zuschreibungen entzieht, ja, noch nicht einmal als existent zu bezeichnen ist, bestenfalls als «nicht-nichtexistent». Somit hat dieses Nichts für Charms eine ganz und gar andere Bedeutung als für Autoren wie Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Und wenn er in seinen Werken Mittel der Disparatheit verwendet, wenn er in seinen Szenen die Menschen aneinander vorbei reden läßt, dann unterscheidet sich hier die Absicht von derjenigen des späteren Absurden Theaters. Ziel ist nicht die Zerstörung der konventionellen Ordnung und das Aufzeigen einer dahinter liegenden Unsinnigkeit. Vielmehr entpuppt sich die konventionelle Ordnung als eine Scheinordnung, gemessen an der Unbedingtheit der göttlichen Wahrheit, die jedes Sein übersteigt.

Jenes göttliche Nichts, als ein Stadium vor der Schöpfung, enthält alle Dinge potentiell in sich – freilich noch ungetrennt. Im bereits oben zitierten Brief an Klawdia Pugatschowa schreibt Charms: «Erst hier habe ich den wahren Unterschied zwischen Sonne und Kamm verstanden, aber zugleich habe ich erfahren, daß sie ein und dasselbe sind». In diesem Satz finden wir nun den Schlüssel zur Charmsschen Absurdität: Da alle Dinge im Kern – auf der metaphysischen Ebene – eins sind, sind ihre sinnlichen Erscheinungsformen nur unterschiedliche Anblicke desselben. Dies ist dem menschlichen Verstand unbegreiflich, wirkt verstörend – eben absurd. Und meistens wird im Charmsschen Werk die illusorische Stabilität der Welt durch ein Wunder erschüttert. Nur aus der Perspektive der Relativität ist das Wunder eine Abweichung von der Norm, eine Unmöglichkeit. Aus der Perspektive des Absoluten und Unbedingten ist es eine Notwendigkeit und beinhaltet in sich sehr viel mehr Wahrheit, als die sogenannte Realität.

In diesem Punkt ähnelt Daniil Charms seinem Zeitgenossen Hugo Ball, einem der Begründer des Dadaismus. Auch der Dadaismus wird ja gern als eine Revolte des Nonsens gegen den Sinn verstanden. Dabei greift Hugo Ball ebenfalls auf Dionysius Areopagita zurück (dessen Textkorpus er sogar herausgibt). In seinem Buch ‹Die Flucht aus der Zeit› von 1921 scheut er sich nicht, selbst den Namen «Dada» auf folgende überraschende Art zu entziffern: «Als mir das Wort Dada begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D. A. – D. A.». Und in seinem Vorwort zu den Werken des Areopagiten sagt er etwas, das sich gerade im Hinblick auf seine Experimente mit der phonetischen Poesie als sehr aufschlußreich erweisen könnte: «Die Sprache Gottes bedarf nicht der menschlichen Sprache, um sich verständlich zu machen. Unsere vielgepriesene Seelenkunde reicht nicht hierhin. Eher noch die versunken ächzende Stummheit der Fische. Die Sprache Gottes hat Zeit, viel Zeit und Ruhe, viel Ruhe. Darin unterscheidet sie sich von der Menschensprache. … Die göttliche Sprache bedarf nicht der menschlichen Billigung. Sie sät ihre Zeichen und wartet. Alles Menschliche ist ihr nur Anlaß».

Spricht hier nicht ein Geistesverwandter? Jemand, der jenem Philosophen gleicht, von dem Charms 1937 schreibt: «Der Philosoph schlug die Trommel und schrie: «Ich produziere philosophischen Lärm! Diesen Lärm braucht niemand, er stört sogar jeden. Aber wenn er jeden stört, dann heißt das, er ist nicht von dieser Welt. Und wenn er nicht von dieser Welt ist, dann ist er von jener Welt. Und wenn er von jener Welt ist, dann werde ich ihn produzieren.» … Noch lange lärmte der Philosoph.»

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