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«Was machen Sie hier?»
Torry Wischer betrat das weite, leere Büro. Holger, ein fast kreisrunder Übersexueller mit korallenfarbener Haut sass auf einem der verlassenen Bürostühle und war gerade dabei, ein überdimensional grosses Sandwich aus Seetangbrot auszuwickeln.

«Pause. Kann mir das Gequatsche von denen auf dem Balkon nicht anhören.» «Man darf hier nicht rein, ist gesperrt, ausserdem sind unsere Mitarbeiter dazu angehalten, ihre Pausen gemeinsam auf unseren extra dafür eingerichteten, virtuellen Lounge-Balkonen zu verbringen… Versuchen Sie’s doch mal.» Er sagte das fast mit Wärme. «Aber essen Sie ruhig erstmal fertig.» Holger hob die Augenbrauen seines unkenntlich gemachten Gesichtes und biss in sein Algenbrot.

Torry Wischer lief an der Fensterfront entlang, dort waren unendlich hohe, graue Gebäude zu sehen, darüber der aus gelblichen Glasröhren bestehende Pseudo-Atmosphärenbau von Neu-Europa und darüber die Galaxie, als liliafarbene und blaue Dunstschwaden und weiss leuchtende Spiralen.

«Hier gab’s im April einen Wasserschaden, deshalb mussten wir das Büro räumen. Ist sowieso alles Chaos seitdem. Ständig kündigen die Leute und es kommen neue, die Teleinituionsverbindungen brechen ab, obwohl das eigentlich nicht passieren dürfte, wenn der Auftraggeber das mitkriegt können wir den Laden hier dicht machen… – Egal. Schauen Sie, da an der Decke, da ist das Wasser rausgekommen, bis zu den Knien stand einem das hier…Was ist denn das für ein Kabel?» Als Torry Wischer die Hand ausstreckte, um nach dem fluoreszierenden biochemischen Kabel zu greifen, schien Holgers aufgepumpter Körper kurz in sich zusammenzufallen, nur um sich dann erneut aufzublähen.

«Wie geht es Ihrem Hund…äh…Benny?» «Bolle, meinen Sie?», sagte Torry Wischer, seinen Blick immer noch auf den Spalt in der Sytropordecke geheftet, aus dem das Kabel heraushing.

«Ja…ähm…Bolle.» Endlich drehte Torry Wischer sich um. «Tja, was soll ich sagen, Bolle hat’s einfach im Blut, aber er will nur Unsinn machen. Gestern kam ich nach Hause und er hatte alle Klamotten von der Wäscheleine runtergeholt, fragen Sie mich nicht wie, und zu einem Berg in der Küche aufgetürmt. Ich komm nach Hause und dann sitzt der da auf dem Berg und schaut mich so zufrieden an, ich hab so gelacht…» «Haha…ja, Bolle..ehm…echt ein Champion.» «Hmh. Kommen Sie, ich bringe Sie zum Balkon. Kommen Sie sonst klar hier?» «Ja. War den ganzen Vormittag eine Metalldetektorschleuse am Flughafen von Neu-Brighton. War ok. Niemand hasst einen Metalldetektor und keiner erzählt einem Metalldetektor seine Probleme. Schlimm sind nur Spiel- und Ziga-
rettenautomaten.» «Ah, die Automaten mochte ich
immer. Grössere Herausforderung. Arbeite gerne mit Menschen, wissen Sie, mit allen Menschen. Deshalb bin ich auch Teamleiter geworden. Schauen Sie, wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Wenn Sie wirklich gut werden wollen in diesem Job, müssen Sie jedes Gerät gleich ernst nehmen. Wenn Sie eine Metalldetektorenschleuse sind, stellen Sie sich vor, dass sie der Kunde sind, der durch die Schleuse läuft. Was er sieht, was er will, was er braucht, was er nicht will. Klar, wenn jemand vor einem Spielautomaten in Tränen ausbricht, weiss jeder, dass er sich anstrengen muss, aber nur, wenn Sie diese Anstrengung konstant aufrecht erhalten, bei jedem Gerät und jedem Kunden, auch in den scheinbar simpelsten Fällen, nur dann können Sie überdurchschnittliche Empathieleistungen erzielen.» «Hmh.» «Gut, dann bring ich Sie mal zum Balkon.» Gunni und Wilhelm-Achim Cashew sassen rauchend auf Korbstühlen neben einem billig animierten tropischen Wasserfall, Astrolodid sass am anderen Ende des Raumes, unter einer verpixelten Orchidee, die so gross war wie ein Bürostuhl und stopfte Zigaretten. Holger grüsste und setzte sich dann schweigend auf einen der weissen Palstikliegestühle. Astrolidids Gesicht war sehr rot, und ab und zu warf sie einen abfälligen Blick auf Wilhelm-Achim Cashew, der gerade über den Ursprung der Verbindungsabbrüche fachsimpelte und dabei seine drei verbliebenen, verschimmelten Zahnstumpen enthüllte.

«Ich sage euch, die haben einen T-Adapter mit einer holographischen Verdopplungsklemme installiert, an fünfzehn Stellen innerhalb des Büros, und jetzt verdoppeln sie die Leitung, während wir in der Line sind, und legen dort sonstwas hinein, die können die Geräte alles sagen lassen in dem Moment, wo wir nicht in der Leitung sind, deshalb machen die das. Das ist die Konkurrenz, sag ich euch, die wollen illegale Werbung in den Geräten platzieren. Das ist der Grund. Wenn die mich mal ranlassen würden, ich würde herausfinden wo die Verdopplungssoftware andockt, sie dann zurückverfolgen und mit den Progrmamiercodes aller illegalen Superfirmen vergleichen und morgen wäre das Problem gelöst. Damals, in Alt-München –» «Achim. Ich bin nur eine Mutti und weiss nichts über Technik, aber dass du irgendwas herausfinden wirst, was die Technikabteilung nicht gefunden hat, kann ich mir nicht vorstellen. Worüber wir uns Gedanken machen sollten, ist, dass wir unsere Arbeit ordentlich machen, so mein ich das.» «Aber der biomechanische –» «Was passiert eigentlich wirklich Gunni, wenn man aus der Line fällt?», fragte Astrolidid.

«Das Gerät ist empathielos, bis jemand bemerkt, dass es sich komisch verhält, nicht richtig auf den Kunden eingeht, sowas, und dann den Fehler an uns meldet. Natürlich zeichnen wir die Vorfälle auf und könnten sie direkt an den vor Ort zuständigen Techniker melden, aber dann würden unsere Auftraggeber Wind davon bekommen und dann ist der Laden hier zu. Stell dir vor, jemand hat Liebeskummer, geht in eine Bar, erzählt dem Getränkeausschanksandroiden, was passiert ist, rechnet mit der Empathie und Anteilnahme des Barroboters, ja ist darauf angewiesen, und der Barroboter ist dazu nicht im Stande und leiert nur die Preisliste und Cocktailrezepte herunter. Die Person könnte sich umbringen, jemand anderen umbringen! Oder ein Spielsüchtiger hat all sein Geld am Spielautomaten verloren und der Automat kann ihn danach nicht trösten. Niemand könnte dafür haften.» «Und was ist, wenn Leute sterben?», sagte Holger ruhig.

«Ich sag nicht, dass das in dem Laden hier gut läuft, dass das fair wäre, ich versuche nur zu verstehen, wie unser Unternehmen denkt. Du musst dich in ihre Position versetzen –» «Also, wenn ich in der Position des Unternehmens wäre, ich würde als allererstes im Technik-Team aufräumen, all diese unfähigen Idioten rausschmeissen und dann eine Suchaktion machen –» «Du kannst nichts», sagte Astrolidid, «gar nichts», und verliess wütend den Raum. Wilhelm-Achim Cashew sah weniger verletzt als einfach irritiert aus, aber nur kurz, denn sofort danach kam Torry Wischer herein und bat Cashew, mit ihm mitzukommen, er wolle etwas besprechen. «Ich werde nacheinander mit Ihnen allen reden, gleich mit Astrid, dann mit Gunni und anschliessend mit Ihnen, Holger. Ihre Mittagspause ist in fünf Minuten vorbei, bitte denken Sie daran. Dankesehr.»

«Und was haben Sie vorher gemacht?» «Hmh.» «Ich war Versicherungsvertreter. War kein schlechter Job. Irgendwann ist meine Chefin zu mir gekommen und hat gesagt, ich darf nur noch Kleingärten vertreten. Da freut sich keiner, wenn man das Wort Kleingärtern hört. Hab dann angefangen, Motivationsschulungen zu machen, Sie wissen schon, wo man lernt, seine Ziele zu fokussieren und wie man ein guter Verkäufer wird, und naja, meine Freunde haben sich dann von mir abgewendet, weil sie gesagt haben, ich würde denen auch meine eigene Oma verkaufen und irgendwie lief es dann sehr schlecht, und jetzt bin ich hier. Ist aber okay. Kennen Sie Aquascaping? Aquariengestaltung? Ich hab eins gemacht, Thema Tibet. Mit Shrimps. Ich will eine Zoohandlung aufmachen, wissen Sie… Ah, Mist, wir müssen rein.» Holger öffnete die Kunststofftür des Teleintuitionstransmitters und betrat die Line. Es war ein schreckliches Gefühl, darin zu sein, man sah verwaschen das Büro, in dem man sich befand und die Rückwände der anderen Teleintuitionsapparaturen, Stimmen klangen auf- und wieder ab, manchmal hörte man die Geräusche von Flugzeugen, klirrenden Gläsern oder Spielautomaten, verwaschene Gesichter von Kunden tauchten aus dem grellen, nebeligen Wirr-warr auf, und Holger musste versuchen, ihre Bedürfnisse zu identifizieren, sich vorzustellen, was sie gerade erlebten. Man verlor jedes Gefühl für Zeit und Ort. Grob spürte Holger, ein Glücksspielautomat in einem Molekurlarimbissrestaurant zu sein, der Kunde hatte gewonnen und er versuchte, sich für den Kunden zu freuen. Zwischendurch kam Holger sich wie ein Gebirge vor, und er konnte seine eigenen Gedanken nicht mehr betreten, es war keine Zeitwahrnehmung möglich. Holger fühlte, wie er in einen Informationsschalter vor einem Skilift hineinglitt, als sich die Tür seiner Teleinitionsapparatur öffnete. Vor ihm stand Torry Wischer.

«Mitkommen, bitte.» Holger folgte Torry Wischer in das leerstehende Büro mit dem Wasserschaden. Torry Wischer blieb in der Mitte des Raumes, direkt unter der defekten Styroporplatte stehen und griff nach oben. Holger machte eine Geste, als würde er ihn zurückhalten wollen, liess es dann aber doch bleiben. Torry Wischer zog die Styroporplatte nach unten, so dass sie aus der Wand fiel. Mehrere Liter stinkender, durchsichter Zellflüssigkeit ergossen sich über dem Fussboden, und von einem Schrei und einem dumpfen, heftigen Aufschlag begleitet, fiel eine verschrumpelte, an hunderte von biomecha-
nischen Kabeln angeschlossene Gestalt aus der Decke heraus. Die Gestalt sah aus, wie jemand, der ertrunken war.

«Können Sie mir bitte erklären, was Sie damit zu tun haben?», fragte Torry Wischer eindringlich.

Lara Hajj Sleiman studierte am Schweizerischen Literaturinstitut, lebt aktuell in Leipzig.

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