März 2020 — Anfang März ist im Gespräch, das mir beim Haareschneiden aufgezwungen wird, das neue Virus kein Thema. Und erst recht nicht in Buenos Aires, wo ich bald darauf nach vierzehnstündigem Flug lande – vierzehn maskenfreien Stunden, wohlgemerkt. (Faszinierend, wie man sich die damalige Normalität kaum mehr vorstellen kann; Händeschütteln erscheint mir heute anrüchig). Corona: das ist China, dachte ich, bestenfalls Europa, unmöglich, dass das Virus es bis hierher schafft. Hatte es in den letzten Jahren nicht immer wieder neue Viren gegeben, denen die Medien eine pandemische Zukunft voraussagten? Szenarien, die der Angstlust entsprangen. Und wie in Äsops Fabel dem Jungen später niemand mehr glaubt, weil er einmal spasseshalber Wolf gerufen hat, so glaubte ich nicht, dass ausgerechnet dieses neue Virus sich weltweit verbreiten könnte.

In Buenos Aires arbeite ich an meinem Roman, der im August 2020 erscheinen soll. Meine Wohnung liegt an der Avenida de Mayo, was die Porteños, wie die Einwohner von Buenos Aires heissen, Maschó aussprechen. Demonstrationszüge ziehen auf dieser Strasse regelmässig laut trommelnd zur Plaza de Mayo vor dem ehemaligen Präsidentenpalast. In dessen Nähe besuche ich zweimal die Woche eine Sprachschule, mit dabei ist auch ein Theater­autor aus Deutschland, sein Credo lautet: Funny is money. Den teutonischen Zungenschlag muss man sich denken.

Keller-Sutter sagt in einer Landessprache: Schweizer, kommt heim!

Was in der Schweiz vor sich geht, bekomme ich kaum mit, oder eher: Ich will es nicht mitbekommen. Und doch schaue ich mir am 16. März die wegweisende Pressekonferenz an. Sommaruga sagt in allen vier Landessprachen: Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen! Keller-Sutter sagt in einer Landessprache: Schweizer, kommt heim!

Ich zögere, es erscheint mir widersprüchlich, ein Land, in dem es kaum Infizierte gibt, zu verlassen, um in eines zu reisen, das im Lockdown steckt. Meine Schwester schickt mir Artikel über gestrandete Schweizer in Peru und Kolumbien. Es scheint also tatsächlich ernst zu sein, und so ziehe ich meinen Flug einige Tage vor. Nun beginnt eine tagelange Nervenzerreissprobe. Erst sieht alles gut aus, dann wird mein Flug von Amsterdam nach Zürich, schliesslich der von Buenos Aires nach São Paulo annulliert. Um den Anschluss von São Paulo nach Europa nicht zu verpassen, buche ich einen Flug, der mitten in der Nacht geht, aber was bleibt mir anderes übrig? Plötzlich erscheint es möglich, dass ich nicht mehr zurückkomme, und so überlege ich mir einen Plan B, dann einen Plan C, schliesslich weitere Pläne für die restlichen Buchstaben des Alphabets. Um Mit­­ternacht nehme ich ein Taxi zum Flughafen, durch die Halle zieht sich eine lange Schlange von Wartenden mit Ge­päckstücken. Mein Flug erscheint nicht auf der Anzeige­tafel – aber wenn er gecancelt worden wäre, dann stünde doch zumindest das? Vielleicht habe ich den falschen Tag erwischt, ich überprüfe also das Datum auf meiner Buchungs­bestätigung. Es stimmt. Am Schalter teilt mir eine Frau mit gleichgültiger Miene mit, dass es unsicher sei, ob der Flug geht, ich solle die Treppe hoch zu den Gates und dort warten. Wenigstens muss ich mich nicht in die endlose Schlange einreihen. Oben erkenne ich bald diejenigen, die auf denselben Flug warten: Sie stehen mit gerunzelten Stirnen vor der Anzeigetafel oder wandern rastlos umher.

Das wird in die Geschichte eingehen. Darum ist es gut, es zu fotografieren, damit wir es nicht vergessen.

Der Flug geht schliesslich doch, und morgens um drei Uhr erreiche ich Sao Paulo. Weil ich für den Flug nach Europa aber noch nicht einchecken konnte, fehlt mir der Boarding Pass, und ohne den werde ich nicht zu den Gates gelassen. Einen Moment lang setze ich mich in den Zwischen­bereich, übermüdet, unschlüssig, was ich tun soll. Kann ich als Schweizer überhaupt die Imigração passieren, oder stecke ich hier für immer fest, wie Tom Hanks in diesem einen Film, der auf wahren Begebenheiten beruht? Die Schalter der Imigração sind beinahe völlig verlassen, ein einziger ist besetzt, ich erkläre einer Beamtin und einem Beamten, offensichtlich ihr Vorgesetzter, meine Lage. Mein Pass erhält den ersehnten Stempel, ich darf passieren. Es beginnt ein zermürbender Tag auf dem Flughafen, ständig fürchte ich, mein Flug könnte gestrichen werden. Im Flughafenhotel leiste ich mir zwei Stunden Schlaf. Später, beim Spazier­gehen entlang der Gates, sehe ich Leute in Schutzanzügen aus weissem Stoff, sie warten auf ihren Flug nach Beijing. Ich setze mich in ihre Nähe und versuche, sie unauffällig zu fotografieren, was mir offensichtlich nicht gelingt, denn schon sagt die Frau auf dem übernächsten Sitz zu mir: «Es ist gut, das zu fotografieren», und ich weiss erst nicht, was sie mir sagen will, bis sie hinzufügt: «Das wird in die Geschichte eingehen. Darum ist es gut, es zu fotografieren, damit wir es nicht vergessen.»

Erleichtert bin ich erst, als ich im Flugzeug sitze und es tatsächlich abhebt. In Amsterdam verbringe ich eine Nacht, meine Herberge ist auch ein Pub und liegt im Rotlicht­viertel, aber die berüchtigten Schaufenster sind leer, die Strassen auch. Ich lege mich in mein Bett, um mich aus­zu­ruhen. Das Bett ist mit Holzwänden von den anderen Betten getrennt, es ist, als läge man in einem geräumigen Sarg, am Fussende lässt sich ein Vorhang zuziehen. Ein Mann im Zimmer ruft, er brauche Hilfe, er komme nicht mehr alleine aus seinem Bett. Ich ziehe ihn an seinen Füssen heraus, der Geruch von altem Urin und Alkohol steigt mir in die Nase. Er entschuldigt sich und bedankt sich dann höflich. Im gegenüberliegenden Supermarkt hole ich mir einen Salat und setze mich ins Foyer, auf einem Bildschirm läuft Pool Billard. An den Tischen neben dem Empfang geraten zwei junge Männer in Streit. Der eine hat offenbar eine Pizza bestellt, sie aber nicht ganz aufgegessen, und der andere drängt ihn dazu, sie ihm zu überlassen, er will sie einem Obdachlosen schenken. Irgendwie kommt es zu einem Missverständnis, der Pizzatyp wird aggressiv, es kommt fast zu einer Prügelei, die Empfangsfrau schlichtet.

«I don’t wanna listen to this, if you wanna fight, go outside.» Als sie an mir vorbeigeht, um jemanden herein­zulassen, sagt sie leise zu sich selbst: «Fucking Corona.» Als ich im Bett liege, kommt derjenige, der die Pizza wollte, ins Zimmer, offenbar kennt er den Typen, den ich an den Füssen herausgezogen habe.
«You stink, Dave.»
«Okay, I will take a shower. »
«You know, I sleep up here and still can smell you.»
«Can you pull me out?»
«You are a grown man, Dave.
I already brought you a towel.»
Dave geht duschen.
«Is it better now? You look upset.»
«No, not really.»

Ich bin jetzt systemrelevant.

April–November 2020 — Auf dem Rückflug überkommt mich manchmal ein Hustenreiz, den ich unterdrücke, ich will nicht, dass alle Passagiere in Quarantäne müssen, weil ich gehustet habe. Aber ich werde Opfer des Klavierkonzert­besucher-Syndroms: Je mehr ich den Husten zu unterdrücken versuche, desto stärker wird der Reiz. Bis ich Tränen in den Augen habe.

Die Schweiz erwartet mich noch ruhiger, als ich sie kenne, in den Strassen herrscht eine Leere, die kein Lebender kennt, die man nur in Katastrophenfilmen gesehen hat. Eine feindliche Stille. Aber ich gewöhne mich rasch an diese Stille, sie wandelt sich von einer feindlichen zu einer freundlichen Stille, und bald fange ich an, sie zu geniessen: Dichtestress gibt es nicht mehr.

Eine Arbeitskollegin postet auf Facebook: Bleibt zuhause, ich arbeite für euch.

Im April kehre ich zu meiner Arbeit im Warenlager des grössten Onlineshops des Landes zurück. Ich bin jetzt systemrelevant. Stage Hands, die gerade keine Bühnen aufbauen, arbeiten zeitweise im Lager, sie sehen so aus, wie man sich Stage Hands vorstellt: Langhaarig, schwarzgekleidet, die T-Shirts von obskuren Metalbands tragend. Die Handtrockner im Personaltrakt sind abgeklebt, Papier ist weniger infektiös, es gibt zwar keine Masken-, aber immerhin eine Abstandspflicht. Eine Arbeitskollegin postet auf Facebook: Bleibt zuhause, ich arbeite für euch. Und das beherzigen viele, sie bleiben zuhause und bestellen sich Dinge nachhause. Etwa das sprachneutrale UNO Flip! für 14.90, um die Kinder stundenlang guten Gewissens zu beschäftigen. Oder den Lovense Lush 2 für 139 Franken, einen per App fernsteuerbaren Vibrator für Paare. Oder eine TecTake Multiwinkel-Hantelbank für 182 Franken, um nicht aus der Form zu kommen. All diese Dinge wandern durch meine Hände, hunderte Artikel jeden Tag. Und dann denke ich, dass Menschen mit Waschzwang nun ihre grosse Stunde haben, weil sie irgendwie schon immer richtig lagen. Ihre Störung wird jetzt normal, das Händewaschen sollte länger dauern als der Toilettengang, sonst macht man’s nicht richtig.

Während meine Hände arbeiten, mache ich mir Gedanken über meine Zukunft. Soll ich auf Nummer Sicher gehen und diesen Job auch nach dem Erscheinen meines Romans behalten? Oder hoffen, dass im Herbst noch mehr Lesungen dazukommen? Lesungen werden gut bezahlt, aber ob sie im Herbst stattfinden können, weiss niemand. Ich entscheide mich doch, den Job zu kündigen, denn ich würde es später bereuen, nicht alles versucht zu haben. Mein Roman erscheint im August, viel mehr Lesungen kommen leider nicht dazu, und ich weiss nicht, ob es am Virus liegt oder an meinem Roman.

Dafür schreibe ich viel, ich habe wohl noch nie soviel in so kurzer Zeit geschrieben. In keiner meiner Geschichten kommt eine Pandemie vor, dafür ist es zu früh, vielleicht in einigen Jahren, wenn ich Abstand gewonnen habe, werde ich darüber schreiben können.

Es fühlt sich weitaus weniger glamourös an, in einem Hotel zu leben, als es klingt.

Dezember 2020–Februar 2021 — Ich ziehe in ein Hotel in Zürich, das wegen der Pandemie vorübergehend geschlossen hat. Die einzelnen Zimmer werden für mehrere Monate vermietet, die kleinen für 620, die etwas grösseren und mit einem Ohrensessel ausgestatteten für 700 Franken. Als ich einziehe, ist es so leer und still, dass es mich erstaunt, dass kein Blut aus dem Lift schwappt wie in The Shining. Mein Zimmer liegt genau über der Durchfahrt zum Innenhof, und das muss der Grund sein, warum der Boden so kalt ist. Als ich das moniere, wird mir überraschenderweise rasch geholfen, ich bekomme einen kleinen Heizofen. Es fühlt sich weitaus weniger glamourös an, in einem Hotel zu leben, als es klingt, denn es fehlt, was zu diesem Gefühl mass­geblich beitragen könnte: das Personal. Zweimal im Monat werde ich aus dem Schlaf geklopft, damit das Zimmer gereinigt werden kann, einmal monatlich wird die Bettwäsche gewechselt. Hier schreibe ich an einem Roman, der mein zweiter werden soll und versuche mich wie Vladimir Nabokov zu fühlen, der für viele Jahre im Hotel Palace in Montreux wohnte. Wenn ich spätabends spazieren gehe, sind ausser den Essenskurieren auf ihren Velos keine Menschen auf der Strasse.

Nicht erst seit der Pandemie vermeide ich es, in volle Bars zu gehen, und nun sind Dating-Apps fast die einzige Möglichkeit, um mögliche romantische Partner kennenzu­lernen. Mit einem ersten Date rede ich darüber, wie die Leute mit den Masken irgendwie schöner wirken, aber das ist vielleicht bloss die eigene gutartige Fantasie, welche die untere Gesichtshälfte vorteilhaft ergänzt. Ich lade sie für das zweite Date ein ins Foyer des Hotels, wir essen Mitgebrachtes, als sich eine Frau um die Fünfzig neben uns setzt. Sie habe sich ausgeschlossen, sei ohne Zimmerkarte, die habe wohl ihr Partner versehentlich mitgenommen, aber den könne sie nicht anrufen, weil er verheiratet sei. Bereits am nächsten Tag soll er seiner Ehefrau mitteilen, dass er sie verlassen wird. Wir befinden uns mitten in einer Telenovela.

Ich beginne, eine Kurzgeschichte über einen jungen Mann zu schreiben, der mit einer Frau irgendwie zusammen ist. Sie sind auf dem Weg zu ihren Eltern, er denkt sich eine Geschichte aus, wie sie sich kennengelernt haben, weil er findet, es sei keine gute Geschichte, sich auf Tinder kennengelernt zu haben. Es kommt zum Streit, und schliesslich streift der junge Mann allein durch die verschneite Stadt, um sich jedes Detail einzuprägen. Der letzte Satz lautet: «Dies war also die Geschichte, wie alles endete.»

Ich hoffe nicht, dass diese Chronik die Geschichte ist, wie alles endet, was wir kennen, und dass wir eines Tages wieder all das tun können, das jetzt so anrüchig erscheint. Zum Beispiel Händeschütteln.

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, ist Autor. Sein Debütroman «Buch der geträumten Inseln» erschien 2020 bei Rowohlt.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert