«Wie scho gsäit bin ich de Peter», sagt Peter. Der Surprise-Stadtführer zeigt den Kreis 1, wie man ihn selten wahrnimmt: von unten. Statt auf Touristenshops und Boutiquen achtet man auf seiner Führung auf Anlaufstellen und Orte, wo man hinkann, wenn man wenig oder nichts hat. «Ein Züri, das die wenigsten kennen.» Als ich Peter sage, dass es in dieser Ausgabe der Fabrikzeitung um «Design & Gewalt» geht, sagt er: «Mit dem Thema bist du bei mir falsch.» Er sagt das nicht böse, wie er überhaupt nichts und niemandem böse zu sein scheint. Würde man ihn vor ein Bänkli stellen, dass extra so gebaut ist, dass sich niemand hinlegen kann, würde er wohl schon zustimmen, dass das nicht nett ist. Aber er würde keinen Gedanken daran verschwenden und stattdessen überlegen, wo er hinkann. Wo es für ihn gebaut ist. Peter hat sich immer wieder hochgekämpft, heute lebt er vom Marroni verkaufen, aber in anderen Zeiten war er froh um die Angebote, die er auf dem Sozialen Stadtrundgang einem interessierten Publikum zeigt.

Der grosse Cliffhanger von Peters Tour ist das 4-Stern-Hotel. Was ist das 4-Stern-Hotel?, fragt er die Tourteilnehmer*innen, als wir bereits mittendrinstehen. Deren Antwort: «Himmelbett», «Aussicht», «Regenschutz». Tatsächlich: Der Schlafplatz ist gedeckt. («Abr es cha verdammt zieh im Winter.»)

Wir stehen im «Urania-Bogen», neben uns Dienstvelos der Stadt Zürich (sowas gibt›s!). Die Lindenstrasse quert hier die Uraniastrasse, überführt mit einer Brücke. Der «Urania-Bogen», der vor allem auf dem Sozialen Stadtrundgang so heisst, ist ein Vorplatz zur Treppe hinunter zur Urania-Strasse. Er ist eingelassen ins Amtshaus IV, Hochbaudepartement, Historismus. Letzteres beschreibt die Architektur, nicht die zuständige Abteilung im Hochbaudepartement. Unter dem Urania-Bogen hat man auf einer Seite Blick auf den Zürichberg; auf der anderen sieht man die Sternwarte und unten die Brasserie Lipp; hinter deren Buntglasfenstern kann man für 75 bis 399 Franken Meeresfrüchte essen. Diagonal über die Strasse sieht man auf den Werdmühleplatz. Auf ihm steht ein Pavillon, der bis Anfang Dezember «Pavilleon» hiess. Der Verein NextZürich, ein Zusammenschluss von Urbanistinnen und Raumplanerinnen, füllte den Pavillon zusammen mit dem eigens gegründeten Verein Pavilleon während zweieinhalb Jahren mit Inputs, Foodwaste-Essen und Partys. Ihr Anspruch war: Hier (wieder) Stadt zu machen. Stadt, wie sie es verstehen: als öffentlicher Raum. Ein inklusiver, nicht kommerzieller Begegnungraum, wo beraten, gelernt oder eben gefeiert werden kann. Was man eigentlich alles nicht kann, hier. Es ist Zwischen-Ort, Un-Ort, Übergangsort. Was schliesslich seine Existenz erst ermöglichte: Der «Pavilleon» konnte hier stattfinden, weil es laut ist und es keine Anwohnende gibt, die sich beschweren können.

Denn hier ist Kreis 1: Freilichtmuseum, Stossverkehr, bonzige Restaurants, Polizistinnen unterwegs von und zu der Arbeit. Gibt es eine Demo, kommen die Profi-Demonstrantinnen vor dem Treffpunkt auf dem notorischen Helvetiaplatz kurz bei der Urania-Wache vorbei, um abzuchecken, ob und wie viele Wasserwerfer später vorfahren werden. Was ist hier 4-Sterne-würdig, warum ist das Peters 4-Stern-Hotel? Kinder würden meist darauf kommen, Erwachsene denken zu weit: «Himmelbett», «Aussicht», «Regenschutz».

In 50 Meter Entfernung steht ein öffentliches WC. («Z Basel ischs schlimmer, döt gits usser im Summer gar ke Gratis-WC.» In Basel bot die Gassenarbeitsstelle Schwarzer Peter bis Anfang dieses Jahres einen «Piss Pass» an in Zusammenarbeit mit McClean im Bahnhof. Damit konnten die, die darauf angewiesen sind, gratis auf’s McClean-Klo.)

Der dritte Grund: eine unscheinbare Linie am Boden. Sie zeigt an: Ab hier ist Kirchengrund – und vor Kirchenareal hätten Polizei und Behörden Respekt. (Welche Kirche? Ich habe es leider verpasst zu fragen. Eigentlich ist um den Urania-Bogen keine kirchliche Institution.)

Aber es ist die Polizei selbst, der Peter den vierten Stern verleiht: Postservice der Polizei. Einer, der hier regelmässig schlief, hatte einen Deal mit einem Polizisten. Wenn es notfallmässig war, hat dieser seine Post angenommen.

So kann man die Stadt anders erleben. Als mein Arbeitsweg noch diese Strasse lang führte, habe ich die Passage gehasst. Blechlawine im Feierabendverkehr, Dauer-Rote-Ampeln und Fussgängermassen im Marsch von und zur Bahnhofstrasse und dementsprechend tolerant.

Für andere ist hier ein Vier-Stern-Hotel. Wenn man auf der Gasse lebt. Peter sagt, es gebe in der Schweiz bloss zwei Gruppen Menschen, die wirklich draussen leben müssen. Die einen nennt er «Europareisende»: EU-Bürger*innen, die die Schweiz nach drei Monaten eigentlich wieder verlassen müssten, aber einfach hier bleiben. Sie haben oft wenig Wissen über Angebote und Anlaufstellen, die sie vor dem Leben auf der Strasse bewahren könnten. Und zu vielen Angeboten haben sie keinen Zugang: 10 Nächte drinnen stünden ihnen zu. Früher seien viele dieser «Europareisenden» im Flughafen Zürich untergekommen. Das wolle der Flughafen aber nicht mehr. Peter befürchtet, dass es darum in der Schweiz wieder zu Erfrierungserscheinungen oder gar Schlimmerem unter Leuten auf der Gasse kommt.

Die andere Gruppe seien psychisch Kranke, die bei allen Angeboten immer wieder Radau machen. Gibt es denn keine Angebote, die speziell auf sie ausgerichtet sind? Peter sagt, nicht wirklich.

Alle anderen, so Peter, hätten eine Alternative zum Leben auf der Strasse. Er selbst hat zeitweise in einer dieser Alternativen gelebt, in einem Appartmenthaus, in dem viele Dealer und Drögeler verkehrt haben. Razzien habe es regelmässig gegeben, und wenn ihm das alles zu viel wurde, sei er zum Abregen für zwei bis drei Tage auf die Gasse gegangen. Unglaublich viel Solidarität habe er auf der Gasse erlebt, vor allem von solchen in derselben Situation – aber auch von anderen.

Der Pavilleon (der wegen «ville» so hiess) wurde der Stadt planmässig zurückgegeben. Momentan setzt sich eine Petition dafür ein, damit das Kabäuschen ein nicht-kommerzieller Belebungsort bleibt. Es heisst in der Petition an die Stadt: «Durch die zentrale Lage nahe beim Bahnhof sehen wir es als Chance, an diesem Standort auch Quartiere über die kulturstarken Stadtkreise 3 bis 5 hinaus zu erreichen, ebenso wie Regionen ausserhalb der Stadt. Und trotz zentraler Lage steht er an einem Ort, der dank fehlender angrenzender Wohnbevölkerung kaum zu Lärmkonflikten geführt hat. Es sind dadurch keine gentrifizierenden Effekte erwartbar.» Die Stadt könnte den Pavillon einem engagierten Verein, etwa Architecture for refugees oder ExpoTranskultur übergeben. Nur die kommerzielle Gastronutzung, die geplant ist, wollen die 100 Unterzeichnenden verhindern.

Die Stadtmacher*innen wollten Leben und Austausch auf den Werdmühleplatz zurückbringen. Die zwei, drei Male, wo ich es damals hingeschafft habe, erlebte ich tatsächlich wunderschöne Exkursionen in einen kommerzfreien Raum. Wenn man Foodwaste-Gemüsesuppe auf Festbänkli oder am Boden isst und rüberblickt auf die reichen Menschen im Lipp, ist das ein gutes Gefühl. Es fühlt sich gut an, einen Platz zu besetzen, zu dem man nicht «entitled» ist. Einen Platz im Kreis 1. Und tatsächlich haben sich jedes Mal Passanten unter das Pavilleon-Publikum gemischt, die zufällig vorbeigekommen sind. Sowohl Randständige, als auch Ausgänger. Allerdings mehr Ausgänger. Wenn jemand an einem dieser Abende unter dem Urania-Bogen geschlafen hätte, wäre er bestimmt eingeladen worden, hätte man von ihm gewusst. Aber im Pavilleo wusste niemand von ihm, dafür ein engagierter Polizist.

Stadt passiert. Das heisst nicht, dass man sie nicht mehr machen sollte, so wie es NextZürich tut: Konzepte, die Menschen zusammenbringen sollen, umsetzen. Aber dass Stadt passiert, sogar im Kreis 1, ist trotzdem irgendwie befreiend. Vor allem in einer Stadt, die so gepützelt, geplant und kontrolliert wirkt wie Zürich.

Das 4-Stern-Hotel ist passiert – designed by situation. Es gibt eine Nische, geschaffen von einem Gebäude (Architekt by the way: Gustav Gull). Die Nische wird genutzt. Die Stadt stellte irgendwann ein Gratis-WC in die Nähe. Ein Passant zeigt sich solidarisch. Schon hat man ein zugiges 4-Stern-Hotel. Andere Orte, zu denen Peter führt, sind kreiert, zwei davon vom Wandel: Eine ehemalige Herberge für fahrende Handwerker, die die Trägerschaft 1970 zum Männerheim umfunktioniert hat. 49 Plätze, Zmorgenpflicht. Eine städtische 2-Zimmer-Wohnung im Niederdorf, die jene Jugendbewegten zugesprochen bekamen, die Ende 60er mit der Stadt kooperiert statt demonstriert hatten. Sie ist allerdings sehr klein. (Man stelle sich vor, wie klein das Dynamo wäre, hätte es nicht auch den Druck der Strasse gegeben!) Irgendwann wurde der Raum als Jugendraum nicht mehr gebraucht, aber die Sanft-Jugendbewegten wollten sie noch nicht zurückgeben. Sie richteten eine Notschlafstelle ein. Der Wirt von gegenüber habe den Schlüssel gehütet und ihn abends dem ersten gegeben. Der habe die nächsten reingelassen. Pro Nacht haben laut Peter bis zu 40 Leute in der kleinen Wohnung geschlafen. Heute ist hier eine selbst organisierte Gassenküche: die Gassenküche Speakout.

Immer schon ein Café war das Café Yucca. Gegründet als Juca, als Jugendcafé, entwickelte es sich zu einem Begegnungsort für sozial benachteiligte Menschen. Es war immer ein Ort, wo man einfach hindurfte. Missionierung ist verboten, obwohl es von der Stadtmission betrieben wird. Peter sagt, es sei das einzige Café, in dem man auf die Wand einreden darf, ohne dass es jemanden stört. Das Café Yucca ist unscheinbar, von aussen wie von innen. Es geht unter zwischen den Logos von Victorinox, Pomp it up, all den Touri-Geldrauszieh-Imbissen und Starbuckses im Niederdorf. Es braucht keinen Glam. Es soll so breit wie möglich willkommen heissen. Erhört die Stadt die Rufe von Nextzürich, kann es sein, dass auch der Pavillon auf dem Werdmühleplatz eines Tages ein solcher Willkommensort wird: die winddichte Hotelbar zum Vier-Stern-Einzelzimmer unter dem Urania-Bogen.

Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor. Sein erster Roman «Land ganz nah» erschien 2017 bei lector books.

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