Manche Menschen fühlen sich zu großen Gefühlen berechtigt und im Stande, aber ihnen fehlen die Anlässe. Und wenn diese Art von Anlässen, von wichtigen und bedeutenden, einen selbst betreffenden Ereignissen ausbleibt, entsteht daraus bei manchen Menschen ein höchst unangenehmer Druck. Oder eine Leere, ein Ziehen im Kiefer, ein taubes Gefühl im unteren Teil der Mundhöhle und von dort ein Drückgefühl hinunter bis zum Brustbein. Man hat so viel große Gefühle im Fernsehen gesehen. Die Vorstelllung, dass man nicht auf die eine oder andere Weise ein Star werden wird, kann nicht jeder aushalten. Wenn eine Person die Dinge, die ihr zustoßen, weitaus dramatischer behandelt als angemessen, beispielsweise sehr lange weint, wegen einer eingebildeten Kränkung, dann will diese Person damit vielleicht einen Vorgeschmack oder einen Nachhall der großen, wichtigen Gefühlsregungen erzeugen, zu denen sie sich verpflichtet und im Stande sieht und auf die sie wartet.

Man hat so viel große Gefühle im Fernsehen gesehen

Fritz Karga hatte nie eine Schwäche für dramatische Frauen gehabt. Er mochte es nicht, wenn Frauen weinten und die Vorstellung, auf die ständig wechselnden Launen seiner Partnerin eingehen zu müssen, stieß ihn ab. Nicht, dass Fritz Karga selbst außergewöhnlich bodenständig gewesen wäre, und nie den Wunsch gehabt hätte, ein Star zu sein, oder sein Leben als eine Sequenz von außergewöhnlichen und bemerkenswerten Ereignissen zu inszenieren; genaugenommen verfolgte er diesen Wunsch sogar mit großer Dringlichkeit, er wollte sich nur nicht lächerlich machen. Fritz Karga hatte eine recht hohe Meinung von sich selbst, obwohl er diesen Umstand nicht zur Schau stellte und ihm nur ganz selten Aussagen unterliefen, die darauf hindeuteten, und die ihm direkt danach unangenehm waren. Er brauchte vielleicht deshalb die Miniaturversion der großen Gefühle nicht, weil er sich darauf verließ, dass er einmal Erfolg haben würde.

Auf seinen Erfolg als Drehbuchautor nämlich arbeitete Fritz Karga unermüdlich hin und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit dem Lesen filmwissenschaftlicher Abhandlungen, dem Schauen großer Filmklassiker und der Arbeit an seinem ersten Drehbuch für einen Langspielfilm. Obwohl Fritz Karga kein wirklich origineller Mensch war, so war er doch klug, höflich, belesen und ausdauernd und besaß eine solide Menschenkenntnis, die es ihm erlaubte, mit fast jedem gut zurechtzukommen und Freunde zu haben, die er interessant fand – obwohl bei ihm in jeder Freundschaft eine Restdistanz blieb. Sein Wunsch, Drehbuchautor zu werden, würde sich vermutlich erfüllen, denn er gehörte zu der Sorte Mensch, denen ihre Vorhaben gelingen.

Fritz Karga musste den Gästen Fensterreiniger ins Gesicht spritzen

Wenn Fritz Karga sich seine Traumfrau vorstellte, war sie blond, schlank, aber nicht zierlich, hatte ein symmetrisches Gesicht mit hellen Augen, wusste viel, hatte einen guten Geschmack und war auf ihre Art energisch. Seine Cousine Maya lebte in Amerika und er hatte bei einem Besuch in New York eine ihrer Freundinnen kennengelernt, die ihm außerordentlich gut gefiel, obwohl sie brünett war. Sie hieß Jane, war Theaterkritierin, trug gut geschnittene Wollmäntel und lachte viel, aber nie zu laut. Morgen würde Fritz Karga für einen Monat nach Amerika fahren, um seine Cousine zu besuchen, die ihm versprochen hatte, ihm einige ihrer Freunde vorzustellen, die im Filmgeschäft arbeiteten, und, um Jane wiederzusehen. Fritz Karga dachte oft an Jane, vor allem an seinem Arbeitsplatz, denn es gab dort wenig zu tun. Es war Fritz Kargas Wunsch geschuldet, sein Leben als eine außergewöhnliche Erzählung zu inszenieren, dass er einen der merkwürdigsten Berufe des gesamten interplanetaren Systems ausübte. Er arbeitete als Portier im «Erlebnishotel der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen».

Dieser Beruf umfasste nur wenige, sehr spezifische Tätigkeiten: Fritz Karga musste, in einer Portiersuniform aus billigem Kunststoff, am Hoteleingang stehen und den hereinkommenden Gästen den Inhalt einer Flasche Fensterreiniger in einem möglichst überraschenden Moment ins Gesicht spritzen. Dabei hatte er dringend sicherzustellen, dass jeder der Gäste zumindest einen kleinen Tropfen der Flüssigkeit in der Sprühflasche abbekam. Falls dies nicht gelang und die Gäste zu schnell weitergegangen waren oder sich zu viele auf einmal durch die Hoteltür gedrängt hatten, musste Fritz Karga den Gästen unauffällig in den Flur bis zu den Aufzügen folgen und sie, kurz bevor sich die Aufzugstür schloss, erneut mit Fensterreiniger besprühen. Er war angewiesen worden, dabei nach Möglichkeit eine schelmische oder hinterhältige Miene aufzusetzen. Fritz Karga mochte seinen Beruf und der verdient an dieser Stelle vielleicht einige erweiternde Erläuterungen.

Dann wurde die erste psychoaktive Geisterbahn erfunden

Das Erlebnishotel der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen befand sich im vor einigen Jahren konzipierten, psychodynamischen Abschnitt eines der größten Freizeitparks auf Europa II. Der Freizeitpark hatte in seiner eigentlichen Konzeption das Ziel verfolgt, dem Besucher eine überästhetisierte, kondensierte Miniaturwelt aus kulturgeschichtlichen Momenten anzubieten, durch die er sich, von Achterbahnfahrten unterbrochen, hindurch bewegen konnte. So waren einzelne Abschnitte des Freizeitparks im Geiste unterschiedlicher Länder und Themen gestaltet: Es gab Chinatown, Afrika, ein mystisches Ritterreich, ein mystisches Phantasiereich, das alte Berlin und Mexiko. Das Problem war, das ein klassischer Freizeitpark, auch, wenn er eine Überlichtgeschwindigkeitsachterbahn vorzuweisen hatte, dem Besucher immer nur eine bestimmte Anzahl von vorgefertigten, immer gleichbleibenden Erlebnissen anbieten konnte und deshalb nur ein geringer Anreiz für einen regelmäßigen Besuch bestand. Dann wurde die erste psychoaktive Geisterbahn erfunden, die aus den Alpträumen von je vier Besuchern ein Horrorszenario konglomerierte und ihnen holographisch vorspiegelte. Damit wurde das Erlebnis endlich variabel. Der große Freizeitpark auf Europa II, in dem Fritz Karga arbeitete, war einer der Ersten gewesen, der diese Attraktion gekauft hatte. Als sie sich als ein Riesenerfolg herausstellte, waren alle Fahrgeräte in dem Parkabschnitt, der das alte Berlin imitierte, nach und nach durch psychodynamische Attraktionen ersetzt worden. Es gab das «Kettenkarussel der aus den falschen Gründen aufrechterhaltenen Verhältnisse zu einer anderen Person», die «Selbstachtungs-Drehschleuder» und das Fast-Food-Restaurant «Unter den Linden», in dem man entweder nur lügen oder nur die Wahrheit sagen konnte. Und eben das Erlebnishotel der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen.

Die Attraktion war immer sehr schlecht besucht

Es war äußerlich als die surreale Imitation eines Hotels angelegt. Im Flur hingen die Portraits in den goldlackierten Rahmen falsch herum und Stühle klebten an der Decke, statt auf dem Boden zu stehen. Teil dieses Konzeptes, das eine schräge, aber ungefährlich spaßige Erfahrung versprach, war auch der Hotelportier, der die Gäste beim Eintreten ins Hotel mit einem psychoaktiven Sekret aus einer Sprühflasche besprühte, auf der in knalligen Buchstaben «Fensterreiniger» stand. Das Sekret analysierte den Wunsch, den die damit besprühte Person im Moment des Besprühens verspürte (falls es Lebensträume oder andere sehr relevante Wünsche waren, wurden sie herausgefiltert) und sendete diesen an die Rezeptoren im Erlebnisschacht, in den die Besucher durch den Aufzug gelangten. Dort wurden diese kleinen, manchmal unbewussten Wünsche, die die Besucher sonst direkt wieder vergessen hätten, in fünfminütige Szenarien mit einem unguten, aber nicht allzu bedrohlichen Ausgang verwandelt. Ein banales Beispiel: Ein Kind wünscht sich beim Besprühen ein Eis, fällt in den Schacht und erlebt, wie es das Eis verzehren möchte. Das Eis erwacht aber zum Leben und möchte eine Unterhaltung über verschiedene Baumaterialien führen. Das Erlebnishotel der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen zielte darauf ab, beim Besucher ein Gefühl leichten Unbehagens zu erzeugen. Die Attraktion war immer sehr schlecht besucht.

Ausserdem hatte sie schiefe Zähne

An diesem Tag, dem Vortag seiner Abreise nach Amerika, stand Fritz Karga in der weißen Portiersuniform an Eingang des Erlebnishotels der berechtigterweise totgeborenen Wunschvorstellungen und dachte mit dem Gefühl unbestimmter Vorfreude an Jane, an sein Drehbuch und an Amerika. Es war sehr heiß an diesem Tag, weshalb er unerlaubterweise die Hosenbeine seiner weißen Kunststoffuniform etwas hochgekrempelt hatte. In Gedanken versunken bemerkte er etwas zu spät, dass zwei Besucher hereingekommen waren. Er erwischte die beiden, eine schwammige Frau mittleren Alters, und ein blondes Mädchen, das zwar nicht schlecht aussah, ihm persönlich aber zu pummelig war, gerade noch mit dem grünen Sekret am Bein. Als das Mädchen merkte, dass er sie besprüht hatte, drehte sie sich erschrocken um und lachte ihn an, zwar nicht unangenehm, aber zu kindlich, außerdem hatte sie schiefe Zähne.

Was Fritz Karga erst später, kurz vor Feierabend, bemerkte: dass ein wenig von dem dickflüssigen Sekret auf seinen Knöchel getropft war. Wann und wie das passiert war, hatte er vergessen. Er sah seinen Knöchel an. Der Park war schon fast leer. Er dachte daran, dass heute sein letzter Arbeitstag war. Er hörte das konstante Brummen des Erlebnisgenerators aus dem Inneren des Hotels. Obwohl Fritz Karga gern Achterbahn fuhr und kein ängstlicher Mensch war, hatte er nie eine der psychodynamischen Akktraktionen besucht. Er hielt seine Psyche nicht für eine Attraktion. Dann versperrte Fritz Karga den Hoteleinangang mit einer roten Kordel, an der ein Schild hing, auf dem stand, dass der Portier kurz abwesend sei. Die Kordel war eigentlich für dringende Toilettengänge gedacht. Dann ging Fritz Karga durch die alberne, surreale Eingangshalle zum Aufzug. Dann fiel Fritz Karga in den Erlebnisschacht.

Irgendjemand hätte das vielleicht süss finden können, aber Fritz Karga fand, dass sie unförmig aussah

Fritz Karga fand sich auf dem «Kettenkarussel der aus den falschen Gründen aufrechterhaltenen Verhältnisse zu einer anderen Person» und in dem in der Luft baumelnden Stahlsitz neben ihm saß das pummelige, blonde Mädchen. Ausser ihnen beiden war niemand im Freizeitpark. Sie war seine Freundin, das wusste er, weil sie seinen blauen Pullover trug, unter dem wie zwei Streichhölzer ihre Beine hervorlugten. Die Fahr war gerade zu Ende, Paul Karga löste sich aus seinem Sitz und seine Freundin ebenfalls. Sie stellte sich vor ihn und sagte: «Mir ist kalt». Dabei schauten ihre Beine aus dem Pullover hervor, zu dünn für ihren von dem Pullover zusätzlich aufgeplusterten, breiten Oberkörper. Irgendjemand hätte das vielleicht süss finden können, aber Fritz Karga fand, dass sie unförmig aussah.

«Tja, meine Hose geb ich dir nicht auch noch.»

«Ich bin dir egal!» Sie weinte wirklich fast, als sie das sagte.
Fritz Karga war jetzt schon genervt.

Sie schien es zu spüren und sah ihn verführerisch an.

«Kommt mit», sagte Fritz Karga, nahm ihre Hand und ging mit ihr zu einer nahegelegenen Steinmauer. Er wollte versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Er küsste sie, sie erwiderte seinen Kuss und Fritz Karga beschloss, dass wenn er sich schon in einer Illusion befand, er sich auch ein wenig amüsieren konnte, und er versuchte, ihr den Finger in den Arsch zu schieben. Sie stiess ihn weg und sah ihn mit grossen, tränenfeuchten Augen an. «Warum bin ich dir egal?», fragte sie mit zitternder Stimme.

Dann war alles vorbei, Fritz Karga wurde aus dem Erlebnisschacht hinausgschleudert, auf den Platz vor dem Hotel. An diesem Abend gab er seine Portiersuniform aus Kunststoff zurück. Die Begegnung mit dem Mädchen fand er zwar seltsam, sie beunruhigte ihn aber nicht übermäßig, denn Fritz Karga war im Grunde ein heiterer Mensch. Morgen würde er nach Amerika fahren. In ihm blieb kein Unbehagen zurück, auch kein leichtes.

Lara Hajj Sleiman studierte am Schweizerischen Literaturinstitut, lebt aktuell in Leipzig.
Ausgangspunkt für die Geschichte war der Versuch, Echos des alten Westberlins und der von Sehnsüchten angetriebene Hauptfigur aus ‹Das kunstseidene Mädchen› in der Zukunft wiederzufinden.

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