Im Juni gastiert der legendäre Openair Zirkus Chnopf wieder auf dem Kiesplatz hinter der Roten Fabrik und feiert die Premiere seines neuen Stücks «Panik!». Die Fabrikzeitung sprach mit dem künstlerischen Leiter Matthias Schoch über den Alltag im fahrenden Zirkus, Albert Rösti mit Clownsnase und über Angst.

 

Sophie Steinbeck: Ihr seid zurzeit am Proben im Zirkusquartier – wie kann man sich das vorstellen?

Matthias Schoch: Gerade saß ich draußen an der Sonne und durfte eine ziemlich spektakuläre Nummer sehen – von der ich nicht zuviel verraten will. Ab und zu hatte ich ein bisschen Angst, aber das ist ja Teil des Zirkusvergnügens, dass man für die ArtistInnen zittert. Drinnen in der Halle trainieren zwei unserer jugendlichen Artisten eine Trapeznummer, während oben im Bandraum Trompete, Posaune und Klarinette eine kleine Melodie immer und immer wieder üben. Der Regisseur Daniel Pfluger eilt von Probenort zu Probenort. Er kreiert das Stück zusammen mit der Artistin Laura Tikka, dem Komponisten Victor Moser und der Kostüm- und Bühnenbildnerin Stefanie Liniger. Parallel bauen zwei Techniker am Bühnenbild und bereiten die Traktoren auf die dreimonatige Tournee vor. Bald klingelt unsere Köchin Anna mit der Glocke, und das ganze Team von fast 20 Personen versammelt sich zum Essen.

Wir backen kleine Brötchen, aber sehr gute.

Wie funktioniert das Zusammenleben und -arbeiten bei euch?

Ab Januar fangen wir an zu proben bzw. zu trainieren. Im April beziehen dann alle bei uns einen Wohnwagen und leben bis Mitte September in einer fahrenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Wir wachsen zu einer Familie zusammen, schliesslich verbringt man fast jede Minute des Tages zusammen. Und klar, so ein Unternehmen ist mit viel Arbeit verbunden… Bald ist Sommer, die Sonne scheint uns auf den Kopf, dann ist die Zeit zum Rumziehen. Da braucht man wirklich nicht mehr als 2 auf 3 Meter für sein Bett und seine Kleider. Das Wohnzimmer ist draussen unter freiem Himmel, genau wie unsere Bühne.

Es gibt ihn also noch, den «fahrenden» Zirkus. Aber wie funktioniert das in einer kapitalistischen Gesellschaft? Wie sieht für euch die Zukunft des Metiers aus?

Wir verstehen uns durchaus als einen Gegenentwurf – sowohl zum bürgerlichen Sprechtheater als auch zum konservativen Zirkus – und möchten mit unserer Lebensweise auch sagen: Schau, so kann man auch leben, geh raus und fahr los. Wir bauen die Stücke aus unserem Ensemble heraus, um ein Thema herum, das gesellschaftlich relevant ist und uns berührt. Mir ist wichtig, dass Artistik nicht nur dazu da ist, zu zeigen, dass einer wie ein Irrer geübt hat und etwas wahnsinnig gut kann. Ich will den Menschen sehen, der da auf der Bühne steht und der offensichtlich alle Zeit seines Lebens dem Seillaufen widmet oder dem Trampolin oder dem Diabolo. Ich will berührt werden von seiner Geschichte oder seiner Fantasie. Ich will mitgenommen werden in eine Welt, in der Menschen viel mehr Freiheiten haben mit ihren Körpern, weil mich das inspiriert.

Und zum Kapitalismus: Wir setzen seit eh und je auf das Prinzip Hutsammlung. Wir überleben – sehr, sehr knapp – aber wir überleben.

Ihr arbeitet mit erfahrenen Artist*innen und neuen Jungkünstler*innen: Wie kommt man zu euch? Was haben eure Artisten für Werdegänge?

Auf der Bühne stehen 5 Profis und 5 talentierte Jugendliche zwischen 14 und 20. Es ist uns wichtig, jungen ArtistInnen einen Startpunkt zu geben für den Beruf des Bühnenkünstlers. Sie machen zum ersten Mal in ihrem Leben ein so grosses Stück, welches sie fast 60 Mal spielen werden, aber sie haben eine Wahnsinns-Energie, welche das ganze Projekt befeuert.

Die Jugendlichen haben sich für ein Casting beworben. Die meisten trainieren schon lange neben der Schule in Kinderzirkussen oder Zirkusschulen und erhalten bei uns die Möglichkeit, sich endlich den ganzen Tag mit ihrer Bühnenkunst zu beschäftigen und von Profis zu lernen.

Wie schaut so ein Probenalltag aus?

Von 10–18 Uhr wird geprobt. Nach dem Znacht geht es aber oft noch weiter. Eine grosse Qualität der Zirkus Chnopf-Stücke besteht ja darin, dass alles aus ein und demselben Ensemble kommt: Musik, Artistik, Schauspiel… Das heisst aber auch, dass unsere ArtistInnen sehr viel können müssen – und eben abends nach dem Essen noch Musikstücke üben.

Auf der Tournee sind die Tage sehr unterschiedlich. Am Mittwoch ist die erste Vorstellung am neuen Tourneeort, am Donnerstag ist Plakatieren und Reparieren angesagt: Ein Team fährt zum übernächsten Tourneeort, um Plakate aufzuhängen und Flyer in den Geschäften aufzulegen, die andere Hälfte kümmert sich um die Wartung der Bühne, der Küche, der Rollbar… Es gibt immer etwas zu flicken. Freitag, Samstag, Sonntag wird wieder gespielt, manchmal sogar zweimal pro Tag, am Sonntagabend wird abgebaut. Und Montagmorgen fahren wir los: Sieben Zugfahrzeuge mit je zwei Anhängern tuckern mit Tempo 30 über die Landstrasse. Am Montagnachmittag wird am neuen Ort schon wieder aufgebaut. Den Dienstag machen wir frei.

Eure neueste Aufführung beschäftigt sich mit Panik und Angst: warum ist das Thema gerade so relevant? Wovor habt ihr Angst? Warum lässt sich Angst so leicht instrumentalisieren?

Als Ausgangslage hatten wir ein Stück von F K Waechter, darin haben wir die Angst entdeckt. Und sobald wir anfingen, uns damit zu beschäftigen, haben wir sie überall entdeckt. Gerade in einem Land wie der Schweiz, wo es den meisten sehr gut geht. Die Angst vor dem Scheitern, davor keinen Job zu finden, davor ihn zu verlieren, die Angst, allein zu sterben, mit dem falschen Menschen zu sterben, ein Kind zu bekommen oder keines bekommen zu können… Um nur die persönlichen Ängste aufzuzählen. Dazu kommen ja noch die grossen Ängste vor dem Systemkollaps, vor dem dritten Weltkrieg und meinetwegen vor Chemtrails und den Illuminaten. Angst ist eben heimtückisch: Sie braucht keinen realen Grund, sie wabert und hat kein klares Ziel. Und wenn man die Angst rückwirkend «logisch» zu begründen versucht, ist man schnell bei «Alternativen Fakten».

Die Angst ist das Gegenteil der Freiheit. Sie engt uns ein und schnürt uns die Luft ab. Natürlich sind wir zu allem bereit, um dieses schmerzhafte Gefühl wieder loszuwerden – leider auch zu sehr dummen, egoistischen Sachen. Wir haben uns mit einer Selbsthilfegruppe der Angst- und Panikhilfe Schweiz getroffen und von den Betroffenen viel gelernt. Ich habe allergrössten Respekt vor Menschen mit dieser Thematik. Die Angst ist ein fürchterliches Gefühl, grauenhaft. Wenn du davon betroffen bist, sprichst du schnell von Todesangst – nicht weil du Angst vor dem Tod hast, sondern weil die Gewalt des Gefühls nur mit dem Tod verglichen werden kann.

Ich persönlich habe zum Beispiel Angst davor, nicht genug zu leisten. So schrecklich wie bescheuert, nicht?

Wie überwindet man die Angst?

Indem man sich an die Hand nimmt und dann gemeinsam hingeht. Ich glaube tatsächlich, dass man gegen die wirklich grossen Ängste nur gemeinsam ankommt. Man braucht jemanden, der einem in die Augen schaut, oder einen mit Geplauder ablenkt. Das hilft wirklich, das haben uns auch die Betroffenen von Panikstörungen bei dem Treffen erzählt.

«Wenn einer Schiss hat, fangen alle an zu zittern, aber wenn alle fliegen, fliegt er mit» – kann einer alleine nicht fliegen, aber das Ganze zum Scheitern bringen?

Das ist natürlich eine steile These, dass einer allein die Angst in eine Gruppe bringen kann. Aber auf jeden Fall kann einer allein sehr gezielt vorhandene Ängste schüren und damit viel zerstören. Das erleben wir momentan jeden Tag. Die Gruppe hätte die Macht, sich von dem einen nicht beeindrucken zu lassen, und dem eine positive Energie entgegenzusetzen. Daran möchten wir gerne erinnern.

Welche Rolle spielt das Politische im Zirkus?

Traditioneller Zirkus ist oft doppelt unpolitisch: Erstens, weil keine Aussage gemacht wird, zweitens, weil ich keine Menschen auf der Bühne sehe, sondern Stereotypen. Darüber ärgere ich mich manchmal genauso wie ich mich über einseitiges Theater ärgere, über schlecht geschriebene Zeitungsartikel oder liebloses Essen. Wir versuchen, auf verschiedenen Ebenen sehr wohl politisch zu sein: es gibt keine Tickets, sondern Hutsammlung; die Anfänger auf der Bühne sind genau gleich viel wert wie die Profis; wir haben (fast) einen Einheitslohn; wir gehen über den Röstigraben, weil wir bewusst Stücke ohne Sprache machen – wir versuchen, sprachliche, kulturelle und altersbedingte Hürden abzubauen; und nicht zuletzt suchen wir uns immer Themen für unsere Stücke, die wir für gesellschaftlich relevant und wichtig halten. Wir backen kleine Brötchen, aber sehr gute.

Der Dompteur ist der Mann und die Tänzerin die Frau – oder? Wie sieht es bei euch mit Geschlechterrollen aus?

Bei uns war die letzten drei Jahre das Problem, dass sich bei den Jugendlichen keine jungen Männer gemeldet haben, sondern ausschliesslich Frauen. Dieses Jahr haben wir uns ziemlich ins Zeug gelegt, um Jungs zu kriegen, und siehe da: jetzt stehen 4 Jungs und 1 Mädchen auf der Bühne. Wenn man’s genau nimmt müsste man natürlich auch kritisieren, dass wir eine heterosexuelle Liebesgeschichte erzählen. Aber da würde ich dann sagen: Hauptsache Liebe.

Habt ihr keine Panik vor Unfällen? Wie sichert ihr euch vor Verletzungen im Arbeitsalltag?

Als wir uns für das Thema «Angst» entschieden haben, war uns bewusst, dass eine Artistin auch ein Profi im Umgang mit Angst ist. Die Angst ist täglicher Begleiter auf den Proben – zum Glück! Auf sie muss man gut hören. Panik hingegen führt zu dummen Handlungen – oder eben Unfällen. Wir sichern uns im Training natürlich durch Matten oder Sicherungsseile, prüfen unser Material regelmässig, checken Aufhängungen oder Verankerung immer doppelt und vor jeder Verwendung. Und natürlich schützt man sich auch, indem man täglich gezieltes Krafttraining und Stretching macht. Alles andere wäre verantwortungslos. Aber 100% Sicherheit können wir nicht schaffen. Ein Artist sucht ja immer den nächsten grossen Sprung, den schwierigeren Trick… Das gehört dazu.

Einige Menschen haben Angst vor Clowns – woher kommt das, und wie geht ihr damit um?

Ich habe das nie verstanden. Wir gehen auch sehr frei um mit dem traditionellen Zirkusinventar: Du wirst bei uns keine rote Nase finden, aber durchaus eine Clownfigur. Manchmal höre ich Kinder im Publikum sagen: «Wo ist denn jetzt der Clown?» und am Ende der Clown-Szene rufen sie: «Das isch jetz de Gloon gsi!», weil sie verstanden haben, dass ein Clown nicht unbedingt wie ein Clown aussehen muss. Diese Angst kann ich mir nur erklären mit einer generellen Angst vor der Maske. Man sagt ja, der rote Punkt auf der Nase sei die kleinste Maske auf dem Theater. Und es stimmt, mehr braucht es nicht, um die Erscheinung komplett zu verändern. Stell dir mal Albert Rösti vor mit einem roten Punkt auf der Nase. Sowas lässt mich glücklich einschlafen.

Sophie Steinbeck, *1994 in Lenzburg, studiert Dramaturgie in Leipzig, davor Sprachkunst in Wien. Arbeitet als Autorin und Dramaturgin in den Theaterkollektiven «saft» und «Rohe Eier 3000».

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