Once upon a time in the sixties, im Film «Le petit soldat» (1960) von Jean-Luc Godard, sagt der Protagonist, seine Kamera auf das Gesicht von Anna Karina gerichtet: «Die Fotografie ist die Wahrheit. Und das Kino ist Wahrheit 24 mal in der Sekunde.» Aus seinem Dialog-Zusammenhang gerissen und in direkte Rede des Autors verwandelt, wurde der Satz vom Kino als einer Wahrheitsmaschine zu Godards bekanntestem Zitat, endlos variiert, widersprochen und kommentiert von KollegInnen wie z.B. Michael Haneke: «Film ist 24 mal die Lüge pro Sekunde, aber im Dienste der Wahrheit. Gemeint war: Film ist Manipulation.» Neben ihrer Virulenz in filmkünstlerischen Stellungnahmen steht die Frage nach der paradoxalen Wahrheitsfähigkeit des Mediums auch im Zentrum philosophischer und kulturkritischer Analysen, so in Horkheimer/Adornos ‹Dialektik der Aufklärung› unter der zeitlosen Kapitelüberschrift «Kulturindustrie: Aufklärung als Massenbetrug», oder beim Theoretiker-Filmemacher Guy Debord und den Situationisten mit ihren Ikonoklasmen in der ‹Gesellschaft des Spektakels›. Kritik des Films, Kritik des Kinos, ob aus philosophischer, feuilletonis-tischer oder künstlerischer Perspektive, war immer an eine doppelte Frage nach der Kunst- wie der Wahrheitsfähigkeit des Mediums gekoppelt. Seit seiner Erfindung sieht sich der Film einem doppelten Verdacht ausgesetzt: zu automatisch, um echte Kunst, zu illusionär, um wahrhaftig zu sein. Die Instrumentalisierung durch Faschismus und totalitäre Propaganda ruinierte das Medium, auf das progressive AutorInnen wie Brecht und Benjamin Hoffnungen gesellschaftlicher Emanzipation gesetzt hatten, für skeptische Zeitgenossen vollends. Gilles Deleuze hat daher in seinen Kino-Büchern mit der Frage «Wie lässt sich den Klischees ein wirkliches Bild entreissen?», die Unterscheidung von wahr und falsch zur Leitdifferenz des modernden Kinos bzw. des europäischen Autorenfilms der Nachkriegszeit erklärt. Zuletzt wurden die Wahrheitsansprüche an den Film von der dänischen Dogma-95-Gruppe um Lars von Trier und Thomas Vinterberg öffentlichkeitswirksam formuliert – im selben Jahr, in dem Godard die Mächte des Falschen bzw. der neuen Medien für siegreich und die Geschichte des Kinos, wie wir sie kennen, für beendet erklärt hatte. Seitdem sind die Parolen im Kampf gegen das falsche Bewusstsein, der im Namen der Kino-Wahrheit geführt werden könnte, nach und nach verstummt. Einerseits fand in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entgrenzung der filmischen Praktiken statt: Film lockerte seine Bindung an die starren und autoritären Institutionen der Massenmedien und ist vermehrt auch in Ausstellungsräumen der bildenden Kunst und auf Bühnen der Sprechtheaters und Opernhäusern zu sehen. Zum anderen haben die digitalen Bildpopulationen des Internets den Film nicht nur im Hinblick auf Authentizitäts- und Partizipationsversprechen, Zirkulation und Wirkmacht rasant überholt, sondern versprechen auch dessen Illusionstechniken mit neuen risikokapital-affinen Immersionsangeboten wie Virtual Reality – egal wie müllig und verpixelt diese im Moment noch aussehen – zu übertreffen.

In dieser Situation eines Herausfallen des Filmischen aus seinem Referenz-Rahmen hat sich die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch mit dem grundlegenden Illusionscharakter des Mediums auseinandergesetzt. Dies um, wie sie schreibt, «durch die Analyse der illusionsbildenden Qualitäten des Films hindurch implizit eine ästhetische Theorie zu entwerfen, für die Film das Paradigma ist.» Mit dem Begriff der Illusion stellt Koch eine Analogie der historischen Situation der Entstehung des Films aus dem «Herkunftsgefüge aus Theater, Literatur, Musik, Fotografie und Malerei» zur gegenwärtigen Präsenz filmischer Verfahrensweisen in ebenjenen «älteren» Künsten her: «War bislang der Film als Erbe jener Illusionsästhetik angesehen worden, der sich die anderen Künste entledigt hatten, so lässt sich nun beobachten, dass Film illusionsästhetische Verfahren wieder zurückträgt in die älteren Künste. Und zwar genau da, wo diese sich gerade von der Illusionsästhetik radikal getrennt zu haben scheinen: in der Bildenden Kunst in der Nachfolge des Minimalismus und im postdramatischen Theater nach Brecht.»

Zunächst grenzt Koch die Illusion von der Täuschung ab: «Die ästhetische Illusion ist im Gegensatz zur epistemischen kein Phänomen der Täuschung. Es geht nicht um die Verhüllung von Sachverhalten, sondern darum, etwas zur Erscheinung zu bringen: das ästhetische Objekt.» Nicht nur stehen sich Illusion und Wahrheit nicht konträr gegenüber, im Anschluss an Adornos Ästhetische Theorie geht für Koch die Wahrheit der Kunst «durch die Illusion hindurch». Entscheidend ist dabei in ihren Überlegungen das Moment der Reflexivität, denn: «ästhetische Illusion ist immer gewusste Illusion.» Den grundlegenden Illusionismus des Films, der sich nicht auf fiktionale Formen des Films beschränkt, macht Koch an zwei ursprünglichen Merk-malen fest. Es beginnt mit der objektiven Illusion, im Kino eine kontinuierliche Bewegung zu sehen, wo eigentlich Einzelbilder durch den Projektor transportiert werden bzw. eine algorithmische Zahlenkette in ein digitales Bild umgerechnet wird. Weder das Einzelbild noch die Daten sind dabei zu sehen, sondern auf eine zweidimensionale Fläche projizierte Lichtbündel, die aufgrund der Trägheit des menschlichen Auges als kontinuierlicher Bilderfluss aufgefasst werden. Zweitens spielt die Gegenständlichkeit der fotografischen Aufnahme eine zentrale Rolle, da sie auf eine Welt ausserhalb des Films verweist, eine Dingwelt, die durch optische Linsensysteme zu einem der Projektion vorausgegangenen Zeitpunkt aufgezeichnet worden ist. Wie nun der Film die Dinge der Welt durch die Illusion in Bewegung versetzt, veranschaulicht die Autorin am Beispiel eines der ältesten erhaltenen Filme und seiner Vorführung im Jahr 1895: «Démolition d’un mur» (Zerstörung einer Mauer) der Brüder Lumière. Dem realistischen Gemälde «Steineklopfer» von Gustave Courbet nachempfunden und dadurch als «gestellte Aufnahme» erkennbar, zeigt der Film, wie Arbeiter die Mauer einer Ruine einreissen. Anschliessend wird er rückwärts abgespielt, so dass die eben heruntergefallenen Steine nun vom Boden heraufsausen und die Mauer am Ende der Vorführung wieder genauso dasteht, wie am Anfang des Films. Realistische Darstellung eines Vorgangs und eine die physikalischen Gesetze der Wirklichkeit vollkommen ausser Kraft setzende Illusionslust kommen in dieser Filmvorführung auf beispielhafte Weise zusammen, ohne sich gegenseitig in Frage zu stellen. Für das Publikum besteht kein Zweifel, dass die Mauer tatsächlich niedergerissen wurde, kein Zweifel aber auch, dass ihr «Wiederaufbau» auf einem illusionären Effekt des kinematografischen Apparats basiert.

Auf der Basis dieser doppelten Verortung des Films in Realismus und Illusion nimmt Koch philosophische Relektüren filmwissenschaftlicher Positionen vor, die vor allem für die akademische Theoriebildung neue Differenzierungen versprechen. Damit verbunden sind überraschende Miniaturen über Figuren der Filmgeschichte, etwa die Analyse von Alfred Hitchcocks ‹Marnie› («Wie eine visuelle Metapher entsteht»), oder eine Interpretation von Tom Tykwers Erlösungs-Ästhetik als Reaktion auf eine tiefe Krise der Narration nach der postmodernen Ironisierung («Stil und die Krise der Narration»). Im zentralen Kapitel zum «Kino als Massenkunst» zeichnet Koch nach, wie Adorno für die Untersuchung der Kulturindustrie den Begriff der Masse widerwillig reaktiviert, und konturiert die Genealogie des Diskurses über die Massenkultur zu Jürgen Habermas und Hardt/Negri. Wenn die Masse sich zum historischen Subjekt einer «Klasse», eines «Volks» oder einer «Multitude» entwickeln soll, muss sie sich selbst erkennen können, «einen Standpunkt sich selbst gegenüber einnehmen». Koch präzisiert demgegenüber im Rekurs auf Walter Benjamin, Charles Baudelaire und E.T.A. Hoffmann, wie die permanent im Werden begriffene Masse selbst als ästhetische Illusion funktioniert, die sich nicht auf einen konsistenten Begriff bringen lässt. Die Masse als ästhetische Illusion wird hier wiederum konzipiert in Bezug auf ein Einzelsubjekt, das von ihr hervorgebracht und affiziert und selbst im «Durchlauf» der Affekte ein anderes wird. Und dieses Einzelsubjekt scheint das Künstlersubjekt zu sein. Die Überlegungen werden mit einer Bilderstrecke zur «Unendlichen Masse der Massenkultur» abgeschlossen – nicht zufällig handelt es sich bei den meisten dieser Bilder um Stills aus Thomas Heises Dokumentarfilm «Material». Diese zeigen den Berliner Alexanderplatz in den letzten Tagen der DDR, wo Künstlerfiguren wie Christa Wolf und Heiner Müller vor ebenjener Masse auftreten, auf deren Herrschaft der Staat seinen unhaltbar gewordenen Herrschaftsanspruch gegründet hatte und die hier ein letztes Mal erscheint. Der Künstler tritt auf, die Masse tritt ab: in der Kapitel-Dramaturgie von Kochs Untersuchung beginnen an dieser historischen Bruchstelle die Analysen der filmischen Verfahren der Illusionsbildung in der Gegenwartskunst (z.B. bei Andreas Gursky, James Turell oder Gerhard Richter), auch wenn diese dann wieder unabhängig gehandhabt und keiner geschichtlichen Teleologie bei- oder untergeordnet werden. Koch steht hierin anderen zeitgenössischen Positionen in der Philosophie (wie z.B. von Christoph Menke) nahe, welche die politische Gleichheit als ästhetischen Gedanken konzipieren und damit indirekt von den Institutionen des politischen Systems an die Autonomie der Kunst verweisen.

Ist der Film nun von der Massenkunst zur Gegenwartskunstmasse geworden? Folgt aus der Masse als «ästhetischer Illusion» die Masse der ästhetischen Illusionen, mit denen wir es heute zu tun haben? In der Anerkennung von Illusionismus als ästhetischer Grundvoraussetzung eröffnet sich die Möglichkeit, über den Film und die Gegenwartskunst, aber auch über die überall heraufbeschworenen Zukünfte der virtuellen Welten nachzudenken, ohne an ethische Probleme (den oben diskutierten Dienst an der Wahrheit, volksgesundheitliche Fragen à la «Wieviel Virtual Reality ist gut für zwischenmenschliche Beziehungen?») zu geraten, noch in eine schlichte Affirmation zu verfallen. ‹Die Wiederkehr der Illusion› setzt damit Gertrud Kochs Projekt fort, das den deutschsprachigen filmwissenschaftlichen Diskurs seit den 1980er Jahren prägt, nämlich die kritische Reflexion für den Film und umgekehrt den Film für die kritische Reflexion produktiv zu machen: «In einer Ästhetik des Scheins müssen wir nicht glauben, dass das, was wir sehen, wirklich ist. Wir sollten aber an das, was wir sehen, glauben, die reflexive Brechung der Wirklichkeit im Illusionsbild. Das Illusionsbild ist ein reflexives Bild.»

Max Linz ist Filmregisseur und Autor und lebt in Berlin.
Gertrud Koch: ‹Die Wiederkehr der Illusion – Der Film und die Kunst der Gegenwart›, Suhrkamp Verlag

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