Das Jahr 1990 war ein Wendepunkt in der Geschichte von Zürich. Zum ersten Mal seit der Reformation zählte man mehr katholische als reformierte Einwohner. Noch war es eine hauchdünne Mehrheit, es stand 140’194 gegen 140’044, womit die katholische Kirche genau hundertfünfzig Seelen mehr für sich abbuchen konnte. Dass die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse in der Stadt von Huldrych Zwingli nach fast fünfhundert Jahren gekippt waren, blieb von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Der Presse war es nicht mehr als eine Notiz wert. Ich wunderte mich damals, wie stiefmütterlich die Zeitungen diese Neuigkeit behandelten, doch das ist nicht der Grund, warum ich mich noch heute an die knappe Meldung erinnere. Der wahre Grund ist, dass sie allerlei Erinnerungen an meine Kindheit wachrief.

Ob ich überhaupt wusste, dass es Protestanten gab?

Ich wuchs in den Sechzigerjahren in einer Baugenossenschaft in Zürich-Höngg auf. Man hielt sich peinlich genau an den Waschküchenplan, beachtete die Vorschriften zur Sonntagsruhe und war generell guter Dinge, denn auch in dieser Siedlung mit vielen Kindern und ringhörigen Wohnungen hielten Schwarzweiss-Fernseher und farbige Volkswagen Einzug. Mir war lange nicht bewusst, dass ich in einer reformierten Stadt lebte. Heute frage ich mich, ob ich damals überhaupt wusste, dass es Protestanten gab. Meine Familie war streng katholisch und ich lebte, wie man heute sagen würde, in einer katholischen «Bubble». Ich ging jeden Sonntag in die Kirche, wo der Priester die Messe in einer Geheimsprache namens Lateinisch las. Ich betete vor jeder Mahlzeit, und dass Freitags kein Fleisch auf den Teller kam, war selbstverständlich. Hatte ich etwas verloren oder verlegt, versprach ich dem Heiligen Antonius zwanzig Rappen, damit er mir half, es wieder zu finden. Mein Vater las die katholischen «Neuen Zürcher Nachrichten» und war Mitglied einer christlich-sozialen Gewerkschaft. Meine Mutter zeichnete mir vor dem Einschlafen mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn, und ich erfuhr erst viel später, dass sie sich nach der Geburt meines Bruders dem päpstlichen Anti-Baby-Pillenverbot widersetzt hatte, wenn auch unter grössten Gewissensbissen.

Wir knieten in der guten Stube nieder, wenn der Papst am Fernsehen das Urbi et Orbi sprach.

Nicht nur der Alltag, auch der Jahresablauf war religiös geprägt. So waren während der Fastenzeit Süssigkeiten streng verboten, weshalb mir die vierzig Tage vor Ostern wie eine Ewigkeit vorkamen. Das war auch die Zeit des «Fastenopfers» – eine Bezeichnung, die ich durchaus zutreffend fand, denn ich musste einen Teil des Sackgeldes, das nicht bereits von der Opferbüchse des Heiligen Antonius verschluckt worden war, in ein Papiersäcklein stecken und in die Kirche bringen, damit die «Negerlein in Afrika» nicht verhungerten. Am Ostersonntag schliesslich knieten wir in der guten Stube nieder, wenn der Papst live am Fernsehen das Urbi et Orbi sprach.

In diesem katholischen Universum nahm das Heimatdorf meines Vaters einen ganz besonderen Platz ein. Heute ist Oberwil-Lieli praktisch ein Zürcher Vorort mit direkter Busanbindung, damals war es eine bäuerliche und vor allem sehr katholische Welt. Hier besuchte ich an Allerseelen die Gräber der Verwandten, hier lernte ich, wie Palmstöcke für die Palmsonntagsprozession gebunden wurden, und hier beobachtete ich, wie am Dreikönigstag das Haus und der Stall meines Onkels gesegnet wurden. In dieser Welt gab es auch keine Mischehen, wie Heiraten zwischen Katholiken und Protestanten damals hiessen. Jedenfalls fast nicht, denn manchmal galt es, zwischen zwei Übeln das kleinere zu wählen. So heiratete eine meiner Tanten einen Protestanten, um der Schande eines unehelichen Kindes zu entgehen. Auch davon habe ich allerdings erst viel später erfahren.
Bevor ich in die Schule kam, gab es in meinem Leben nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass ich in Zürich zu einer Minderheit gehörte und meine Kultur – um einen Begriff aus der zeitgenössischen Migrationsdebatte zu verwenden – nicht die Leitkultur war. Erst als Geschichtsstudentin lernte ich, dass in Zürich das Lesen der katholischen Messe fast dreihundert Jahre lang strikt verboten gewesen war, und dass die wenigen Katholiken, die damals in der Stadt lebten, den beschwerlichen Weg ins Kloster Fahr auf sich nehmen mussten, wollten sie die Messe besuchen, heiraten oder ihre Kinder taufen lassen.

Das änderte sich erst 1807, als die eidgenössische Tagsatzung in Zürich tagte und die politischen Vertreter der katholischen Orte ihre Gottesdienste in der Stadt abhalten durften. Drei Niedergelassene, ein Händler aus Trient, ein Sprachlehrer aus dem Elsass und ein Schneider aus Lothringen, witterten Morgenluft und ersuchten die Stadtregierung, das Verbot abzuschaffen. Sie hatten Erfolg. Mit dem sogenannten Toleranzedikt erlaubten die Zürcher Stadtväter den «Andersgläubigen», sich in einer Genossenschaft zu organisieren, und stellten ihnen die Sankt-Anna-Kapelle zur Verfügung. Allerdings wurden die Geistlichen verpflichtet, nicht zu missionieren und alles zu vermeiden, was zu «Misstrauen, Streitigkeit oder Erbitterung» führen und «das gute Vernehmen zwischen den Bekennern beyder Kirchen» stören könnte.

Die Katholiken blieben Menschen zweiter Klasse

Das Edikt war ein Meilenstein in der Geschichte der Zürcher Katholiken, auch wenn die Schweizerische Kirchenzeitung klagte, das neue Gotteshaus bestehe «ausschliesslich aus einem niedrigen, dumpfen, mit schädlichen Miasmen angefüllten Gemache, dessen schwarze Mauern eher ein altes Magazin oder Packhaus als einen dem höchsten Wesen geheiligten Tempel vermuten liessen.»
Dennoch blieben die Katholiken Menschen zweiter Klasse. Die Mediationsverfassung garantierte ihnen zwar die Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, aber vom Zürcher Bürgerrecht blieben sie ausgeschlossen. So zählte man 1826 erst ein Dutzend niedergelassener katholischer Familien sowie 77 Aufenthalter, 160 Ansässen – meist Dienstboten – und ebensoviele Maurer aus dem Tirol, die nur den Sommer über in Zürich arbeiteten. Für die Sankt-Anna-Kapelle waren das allerdings bereits viel zu viele Gläubige. «Es war mir unmöglich, durch die Menschenmasse weiter als bis an die offenstehende Türe vorzudringen», klagte ein Kirchenbesucher. «Vor der Türe war die Seitengasse auf 40–50 Schritte weit mit fremden Maurergesellen und Taglöhnern angefüllt, welche kaum den Eingang zur Kirche sehen konnten.» Da dieser Ansturm «unvermeidlich Störungen der Ordnung und des Anstandes» mit sich brachte, baten die Gemeindevorsteher den Stadtrat um Erlaubnis, die Kapelle auf eigene Kosten zu erweitern. Es dauerte sieben Jahre, bis die Stadtväter ein Einsehen hatten. 1833 erlaubten sie der katholischen Gemeinde, ihre Gottesdienste bis auf Weiteres im Fraumünster abzuhalten, und 1844 stellten sie ihnen mit der Augustinerkirche, die bis dahin als Kornschütte gedient hatte, eine grössere Kirche zur Verfügung. 1863 schliesslich nahmen die Stimmberechtigten ein kantonales Kirchengesetz an, das die katholische Genossenschaft zu einer Kirchgemeinde erhob und den Katholiken die freie Ausübung des Gottesdienstes gestattete.

Die Katholiken schleiften die Mauern und Türme der Stadtbefestigungen

Es war höchste Zeit, denn im Gleichschritt mit der Industrialisierung und ihrem wachsenden Bedarf an Arbeitskräften wuchs im 19. Jahrhundert die Zahl der katholischen Zuwanderer beiderlei Geschlechts. Die Katholiken schleiften die Mauern und Türme der Stadtbefestigungen, sie bauten Eisenbahnlinien und neue Strassen, sie schufteten bis zu zwölf Stunden am Tag in Textil- und Maschinenfabriken und schrubbten und kochten in Privathaushalten. Soziologisch gesehen war diese Immigration also eine klassische Unterschichtung, wie sie für die Schweiz bis weit ins 20. Jahrhundert typisch war. Auch mein Vater gehörte in diese Kategorie, denn er war der Sohn eines Kleinbauern und arbeitete in Zürich als ungelernter Zimmermann. Zwar fanden die katholischen Arbeiter hier ein Auskommen, doch in der Regel gehörten sie, wie ein Kirchenvorsteher 1857 klagte, «zu den Unbemittelten, ja sehr viele zu den Dürftigen». So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Hälfte der Katholiken in den Vororten wohnte, denn die Mieten in der Stadt waren für sie zu teuer. So kam die erste Kirche, die von der katholischen Gemeinde gebaut wurde, ins Arbeiterviertel Aussersihl zu stehen.

Als Papst Pius IX. im Jahr 1870 das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit verkündete, ging ein Sturm der Entrüstung durch Zürich. So kritisierte die Neue Zürcher Zeitung, die katholische Kirche bekämpfe damit «die Forderungen der Neuzeit mit den verrosteten Waffen des längst überwundenen Mittelaters». Auch viele Katholiken waren vor den Kopf gestossen. Sie werteten das Dogma als Gefahr für den noch jungen Bundesstaat, in dem sich Katholiken und Protestanten trotz weltanschaulicher Differenzen zusammenraufen mussten. Am 8. Juni 1873 kam es in Zürich zum Showdown zwischen den Anhängern des Papstes und den, wie sie sich selber nannten, «freisinnigen Katholiken». In einer Abstimmung distanzierten sich 290 von 396 stimmberechtigten Gemeindemitglieder «von der in Rom unter dem Namen unfehlbares Papstthum aufgerichteten geistlichen Monarchie», die anderen 106 enthielten sich der Stimme und verliessen aus Protest den Saal. Das Abstimmungsergebnis wurde von einer «vor der Kirche harrenden Menge mit stürmischem Jubel begrüsst», und die NZZ zeigte sich erleichtert über den Sieg der papstkritischen Altkatholiken: «Welch ein unermesslicher Jubel wäre durch die ganze unfehlbar-katholische Welt gegangen, wenn der Altkatholizismus speziell in der Stadt Zwinglis nur einen minimen Erfolg errungen oder gar eine Niederlage erlitten hätte.» In Anspielung auf die Reformation ging dieser Tag als die «Zweite Zürcher Kirchenspaltung» in die Annalen ein.

Der Anführer der Papsttreuen löschte das ewige Licht in der Augustinerkirche

Allerdings war der Kampf noch nicht ausgestanden, und die NZZ wünschte sich nicht umsonst, die freisinnigen Katholiken möchten trotz Repressalien «fest und unentwegt zu ihrer Fahne stehen». Schnell zeigte sich nämlich, dass sich die beiden Lager unmöglich eine Kirche teilen konnten. Einen Monat nach der Abstimmung löschte der Anführer der Papsttreuen das ewige Licht in der Augustinerkirche und verkündete, er werde diese nie mehr betreten. Gleichzeitig forderte er von der Regierung, sie möge ihm für die Gottesdienste das Kasino zur Verfügung stellen, eine Forderung, welche die NZZ als «naiv» kritisierte, da die Stadt sich wohl hüten werde, eines ihrer Gebäude herzugeben, damit darin «gegen den Staat, Kultur und Wissenschaft» gepredigt werde. In der Tat mussten sich die papsttreuen Katholiken selber helfen und eine eigene Kirche bauen. Sie fanden ein Grundstück in Aussersihl, und bereits ein Jahr später, im August 1874, konnten sie die St. Peter und Paul getaufte Kirche beziehen. Für die Bänke, die Kanzel, den Altaraufbau und den Taufstein hatten allerdings weder die Mittel noch die Zeit gereicht, weshalb der Bau gern als «Armeleute-Kirche» verspottet wurde.

Während des protestantischen Religionsunterrichts lungerte ich auf dem Pausenplatz herum

Von all diesen Verwerfungen entlang der Konfessionsgrenze hatte ich als Kind natürlich keine Ahnung, doch als ich in die Schule kam, machte ich meine ersten Erfahrungen mit den Nachwehen dieses Kulturkampfs. Es begann damit, dass der Religionsunterricht zwar fester Bestandteil des Stundenplans war und von der Klassenlehrerin erteilt wurde, dass er aber den protestantischen Kindern vorbehalten war, obwohl er nicht spezifisch «protestantischer Religionsunterricht» hiess. Die religiöse Unterweisung für die Katholikenkinder hingegen hiess «katholischer Unterricht», und so gab mir die Schule auf subtile, aber unmissverständliche Weise zu verstehen, dass ich nicht der Norm entsprach. Dazu passte, dass der «katholische Unterricht» nach der Schule stattfand, nicht von unserer Lehrerin, sondern vom Pfarrer der Kirchgemeinde erteilt wurde und klassenübergreifend organisiert war, denn Höngg war ein wohlhabendes Einfamilienhausquartier und die tendenziell ärmeren Katholiken entsprechend in der Minderzahl.

In meiner Erinnerung lungerte ich während des offiziellen Religionsunterrichts auf dem Pausenplatz herum und wartete auf die Fortsetzung des Unterrichts, doch heute sagt mir mein Verstand, dass das wohl kaum der Fall war. Immerhin hatten am 7. Juli 1963, also zwei Jahre bevor ich in die Primarschule eintrat, die Stimmberechtigten des Kantons Zürich ein Gesetz angenommen, das der bis anhin privatrechtlich organisierten römisch-katholischen Kirche einen öffentlich-rechtlichen Status verlieh und sie der reformierten Landeskirche gleichstellte. Vielleicht sind die Bilder in meinem Kopf also nichts anderes als Scheinerinnerungen, Visualisierungen einer Kinderseele, die versuchte, diese erste Erfahrung von Ausgrenzung zu verarbeiten.

«Kathole – Rossbole»

Ganz sicher bin ich mir hingegen, dass wir katholischen Kinder in der Schule regelmässig verhöhnt wurden. Mit dem Schlachtruf «Kathole – Rossbole» jagten uns die Protestantenkinder über den Pausenplatz, und hatte man das Pech, in ihre Hände zu fallen, setzte es Knüffe und Hiebe ab. Nur selten getrauten wir uns, es ihnen heimzuzahlen, indem wir «reformiert – Hose verschmiert!» zurückschrien, denn wie gesagt, wir waren in der Minderheit. Heute wundere ich mich, dass die Pausenaufsicht nie eingriff und dass dieser späte Kulturkampf auf dem Pausenplatz kein Thema für einen Elternabend war. Vor allem aber frage ich mich, während ich diesen Text schreibe, zum ersten Mal in meinem Leben, woher dieses Schimpfwort wohl kam. Waren es vor allem die Kinder von armen katholischen Familien, welche die «Rossbole» hinter den Pferdefuhrwerken einsammelten, weil sich diese als begehrter Dünger verkaufen liessen? Oder war es eine rein lautmalerische Spielerei, die keinerlei Bedeutung hatte?

Das Unbehagen darüber, dass ich «anders» war, verstärkte sich noch, als ich den Vorbereitungskurs für die Erstkommunion besuchte. Die Unterweisung fand im Winter statt, und zwar im Andachtsraum unter der Heiliggeist-Kirche im Zentrum von Höngg. Abgesehen davon, dass ich trotz intensivster Gewissenserforschung in meinem neunjährigen Leben nicht genug Sünden für die erste heilige Beichte fand, war vor allem der Heimweg problematisch. Wenn ich die Kirche verliess, war es bereits zappenduster, und ich fürchtete mich während des halbstündigen Fussmarsches in der Dunkelheit, doch noch schlimmer fand ich den Gedanken an meine protestantischen Mitschüler, die zur selben Zeit in der Wärme vor dem Radio sassen und der Kinderstunde lauschten.

Die härteste Prüfung stand mir allerdings noch bevor

In Anbetracht meiner konfessionellen Kindernöte empfand ich es verständlicherweise als Triumph, dass ausgerechnet die Tochter des reformierten Pfarrers mich an ihre Geburtstagsfeier einlud. Das Hochgefühl verwandelte sich allerdings schnell in Beklemmung, als ich vor dem Pfarrhaus stand, denn nie zuvor hatte ich ein so grosses Einfamilienhaus betreten. Diese Beklemmung verwandelte sich während der Bescherung gar in Scham, denn im Vergleich zu den Geschenken der anderen Kinder nahm sich das Fläschchen Seifenblasen aus der Migros, das ich mitgebracht hatte, ziemlich armselig aus. Heute verstehe ich, warum man in der chinesischen Kultur nie ein Geschenk auspackt, solange der Schenkende anwesend ist – damals muss mich die Enttäuschung, die sich auf dem Gesicht des Geburtstagskindes abzeichnete, tief getroffen haben. Während die anderen Kinder Verstecken im Garten spielten, kämpfte ich hinter den Brombeerstauden gegen die Tränen. Erst die gütige Zuwendung der Frau Pfarrer, die mein Geschenk lobte, konnte mich aus meinem Versteck locken. Eingeladen wurde ich dennoch kein zweites Mal.

Die härteste Prüfung stand mir allerdings noch bevor. Ich war eine ausgesprochene Leseratte, und meine Lieblingslektüre war ein Buch mit Lebensgeschichten christlicher Märtyrer, das schon meine Mutter als Kind gelesen hatte. Besonders angetan hatten es mir die todesmutigen Jungfrauen, die makellos weisse Gewänder trugen und sich lieber über einem offenen Feuer rösten oder von ausgehungerten Löwen auffressen liessen, als vor einem Götzenbild eine Handvoll Weihrauch zu opfern. Anders als auf dem Pausenplatz in Höngg, wo ich mich vor den Protestantenbuben ängstigte, besassen diese Heldinnen im alten Rom übermenschlichen Mut, ja sie starben frohgemut, weil sie wussten, dass ihnen ein Platz im Himmel sicher war. Es war also ein Beweis von inniger Zuneigung, dass ich das Märtyrer-Buch meiner Freundin Maya auslieh, die drei Häuser weiter wohnte. Noch am selben Abend schrillte die Hausglocke. Vor der Türe stand Mayas Mutter. Sie brachte das Buch zurück und verbat sich ausdrücklich, dass man ihre Tochter noch einmal mit solch katholischem Schund belästige. Ich war zutiefst verwirrt, denn ich hatte in der Schule gelernt, dass die heilige Regula, meine Namenspatronin, es immerhin zur Stadtheiligen von Zürich gebracht hatte. Gern wüsste ich noch, wie meine Mutter mich an diesem Abend tröstete. In Erinnerung geblieben ist mir nur mein kindlicher Schmerz und die Empörung darüber, dass meine Freundin in einer anderen Welt lebte. Maya und ich blieben einander zugetan, doch in unsere Freundschaft hatte sich eine leise Entfremdung eingeschlichen, die wir weder benennen noch bannen konnten.

Ob das Universum wirklich unendlich war?

Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass mich in dieser Zeit meine ersten religiösen Zweifel beschlichen. Abends im Bett versuchte ich herauszufinden, ob das Universum wirklich unendlich war. Ich stellte mir vor, wie ich mit einer Rakete – es war die Zeit kurz vor der Mondlandung! – durch das Weltall raste, und hoffte, an seine Grenzen zu stossen. Heute ist mir unklar, ob ich eine Grenze als Beweis für oder gegen die Existenz von Gott gewertet hätte, denn es kam nie so weit, ich schlief immer ein, bevor ich an die Grenze des Universums stiess.

Während ich in den Sechzigerjahren meinen Platz in Zürich und im Leben suchte, gehörten in der Stadt drei von fünf Christen der reformierten Kirche an. Als die Katholiken 1990 erstmals die Mehrheit stellten, war ich bereits aus der Kirche ausgetreten. Den nächsten quasi religions-historischen Wendepunkt im Jahr 2012 habe ich aus irgendeinem Grund nicht mehr zur Kenntnis genommen, vielleicht weil ich nun zur Mehrheit gehörte, denn in diesem Jahr stellten die «Konfessionslosen» erstmals die grösste Gruppe. 2014 betrug ihr Anteil an der Zürcher Wohnbevölkerung schon fast einen Drittel, während die Reformierten und die Römisch-Katholischen zusammen nur noch eine hauchdünne christliche Mehrheit von 50,1 Prozent hielten. Es sieht also ganz danach aus, als ob ausgerechnet im Jahr, in dem das fünfhundertjährige Jubiläum der Reformation gefeiert wird, die Christen in der Stadt Zürich in die Minderheit geraten. Wenn das keine historische Ironie ist…

Regula Bochsler ist Historikerin, Autorin und Künstlerin und lebt in Zürich. Ihr letztes Buch «The Rendering Eye. Revisiting Urban America» über die visuellen Welten von Apple Maps erschien 2013 in der Edition Patrick Frey.

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