In den 2000ern war es en vogue sich mit Herman Melvilles Erzählung «Bartleby, The Scrivener» zu beschäftigen. Meistens ging damit ein dem postmodernen Denkstil geschuldetes Misreading einher. Bartleby wurde als eine widerständige Figur gelesen. Seine Widerständigkeit bestünde in dem hartnäckigen Nicht-Mitmachen. Dieses artikulierte sich auf der sprachlichen Ebene in der berühmten Formel «I would prefer not to». Dialektisch lässt sich Bartlebys Verweigerung mit Adorno so deuten: «Die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben können, und die sonst leben könnten, werden draussen gehalten, weil sie nicht mitmachen wollen.» Auf der materialistischen Ebene führte Bartlebys ins Extrem gesteigerte Verweigerungshaltung nicht mitmachen zu wollen schlicht zu seinem Hungertod. Diese Form der Widerständigkeit ist realistisch also keine Option, wenn man leben möchte.
Melvilles Erzählung stellt eine kritische Schilderung der Zustände im Hochkapitalismus dar. Nicht umsonst trägt sie den doppeldeutigen Untertitel «A Wall Street Story»: Bartleby starrt in seiner Schreibstube auf eine Mauer. Die Kanzlei, in der er als Kopist eingestellt wird, befindet sich in einem Kulminationspunkt kapitalistischer Produktion von Mehrwert: In der Wall Street. Während Bartleby auf eine graue Mauer starrte, starren Menschen in der gegenwärtigen Phase des Spätkapitalismus bei ihrer Schreibtätigkeit zumeist auf einen Bildschirm. Das ist unter Umständen deutlich bunter und abwechslungsreicher als Bartlebys Aussicht. Die Kopisten-Tätigkeit, für die Bartleby als Schreiber angestellt wurde, ist ebenfalls abgelöst worden: erst von einer Matrize, dann von einem mechanischen Kopierer. Die geistlose Tätigkeit des Kopierens dessen, was schon da ist, lässt sich heute durch Texterkennung und ähnliches schlicht maschinell erledigen. Bartleby könnte gegenwärtig besser als Metapher für die Tastenkombination Ctrl plus C denn als Synonym für Widerständigkeit gelten. Insofern ist seine Tätigkeit spätestens aus gegenwärtiger Perspektive zwecklos und beinahe traurig. Auch seine trostlose Aussicht aus dem Fenster lässt sich in der Gegenwart transzendieren. Die Grenze meiner Welt muss nicht die graue Mauer gegenüber sein, die ohnehin von wechselnden Werbeplakaten überdeckt ist. Die Grenze meiner Welt liegt im Design der virtuellen Wirklichkeit, die sich auf meinem Bildschirm offenbart.
Neue Technologien stellen zuvorderst eine Herausforderung dar. Es kommt nicht darauf an, sie dafür zu kritisieren, dass sie etwas verändern. Es kommt darauf an, wie uns diese Technologie verändert, aber auch was wir mit ihr machen und wie wir sie ändern wollen. Denn Technologie ist immer auf eine bestimmte Art gestaltet – sei es für die Anwendung oder die Anwenderinnen. Die Massgabe von Design lautet, dass es sich am Menschen orientiere. Daraus ergeben sich zwei wesentliche Fragen: Welches Menschenbild steht hinter dieser Vorstellung? Wie ist das Verhältnis vom Design zum Menschen und umgekehrt vermittelt? In seiner wörtlichen Bedeutung meint Design Gestaltung. Diese Gestaltung ist nicht nur für den Menschen gemacht, sie ist auch von Menschen gemacht.

Lernen in der virtuellen Welt

In meiner Gegenwart sitze ich in zwei Klassenzimmern gleichzeitig. Einem realen und einem virtuellen. Mein physisches Ich sitzt im Computerraum eines Bürogebäudes im Industriegebiet einer mittelgrossen Stadt, zwischen Hafen und Autobahnauffahrt. Der Blick aus dem Fenster lässt hinter Lagerhallen ein Mittelgebirge erahnen. Ich bin in diesem Computerraum für eine Weiterbildung. Die anderen Menschen in dem Computerraum besuchen andere Kurse. Mit ihnen habe ich nur in der Teeküche oder im Pausenraum Kontakt, wenn sich unserer Pausenzeiten denn überschneiden. Da die Kurslängen und -anfangszeiten enorm variieren, ist auch die Fluktuation sehr hoch. Mein Kontakt zu realen Menschen ist in dieser Gegenwart daher sehr gering.
In der virtuellen Welt sitze ich mit meinem Avatar in einem wesentlich angenehmer gestalteten Gebäude. Hier scheint immer die Sonne, die Jahreszeiten wechseln nicht. Das Gebäude steht allein in einer grünen Landschaft und eine Strasse führt vorbei. Diese ist allerdings hinter einer unüberbrückbaren durchsichtigen Wand. Die Grenzen meiner virtuellen Realität bleiben also doch von einer Wand bestimmt. Immerhin sind im Hintergrund Berge zu erkennen, die ich auch durch die Fenster des grossen Klassenzimmers im dritten Stock sehe. In den anderen Etagen gibt es Büros und im ersten Stock bei den Konferenzräumen einen funktionslosen Kaffeeautomaten. Sofern man seine Funktion nicht als rein gestalterische begreift. Das Design ist hier definitiv nicht durchdacht. Anders als in Sims kann ich meinen Avatar auch nicht auf verschiedene Arten und Weisen töten. So wenig es möglich ist, das Gelände zu verlassen, so wenig ist es möglich, sich über die Brüstung der Dachterrasse zu stürzen. Dafür kann ich auf der Dachterrasse Vogelgezwitscher hören. Die Kommunikation mit den Lehrerinnen und den anderen Teilnehmern funktioniert über eine mehr oder weniger ausgereifte Online-Telefonie. Denn alle Teilnehmerinnen sitzen in anderen Städten in – wahrscheinlich – mehr oder weniger ähnlichen Computerräumen. Die wenigsten können den Kurs von zuhause aus besuchen. Wir kennen uns daher nur über unsere Stimmen. Trotzdem habe ich schon seit der ersten Woche ein engeres Verhältnis zu allen im Kurs als zu meinem Sitznachbarn im Computerraum. Wenn er redet, empfinde ich das als störend, weil es mir dadurch schwerer fällt, meinem Kurs zu folgen.

Gewalt in der virtuellen Welt

Einmal haben wir ein Klassenfoto gemacht. Oder vielmehr: einen Screenshot aus der Perspektive einer Dozentin. Darauf sind alle Avatare zu sehen, darüber stehen die Namen. Da die Auswahl sehr gering ist, sehen viele unserer Avatare gleich aus. Lediglich die Farbe der Kleidung variiert. Die Dozentinnen tauchen auch in der virtuellen Welt meist im Anzug auf, einige von uns dagegen im Hoodie. Es gibt tatsächlich ein Mass an Sozialität, das durch dieses virtuelle Design gestiftet wird. Ebenso entstehen Dynamiken wie in einem realen Klassenzimmer. Diese beschränken sich jedoch nur auf unsere Gruppenchats. Neben einem Chat innerhalb der Bedienoberfläche, der die Kommunikation mit allen und auch den Lehrerinnen ermöglicht, besteht auch eine Messenger-Gruppe, in der regelmässig über die Lehrerinnen gelästert wird. Wie an vielen anderen virtuellen Orten, kehrt dieses Klassenzimmer aber auch all die negativen Formen des Trollens oder Mobbens hervor. Das ist in seiner Qualität womöglich analog zum Schulhof. Nur die Fluchtmöglichkeiten sind grösser. Dafür sind die Möglichkeiten der Solidarität geringer. Sie bleiben auf das Sprechen in ein Headset oder den Chat beschränkt. Über denjenigen, dessen Tonfall am rauesten ist, habe ich inzwischen herausgefunden, dass er vor der Weiterbildung als Logistiker mit Gefahrengut zu tun hatte. Während man meinen könnte, dass er über ein entsprechendes Nervenkostüm verfügt, ist seine Frustrationstoleranz gegenüber Lehrerinnen, die Zusammenhänge falsch erklären, oder Mitschülerinnen, die einfache Zusammenhänge nicht sofort verstehen, sehr gering. Vielleicht rührt seine geringe Frustrationstoleranz aus dem Setting. Vielleicht rührt sie aber auch aus der vergeschlechtlichten Sozialisation, die in dieses Setting hinein getragen wird. Weil ich nur die Stimmen der Teilnehmerinnen höre, fällt mir mehr als sonst deutlich auf, wie sehr sich männliches Sprechverhalten und vermeintlich weibliche Tugenden unterscheiden. Es sind meist die Männer, die andere unterbrechen und die sich weniger darin beirren lassen, wenn sie offensichtlich falsche Dinge sagen. Dagegen sind es meist Frauen, die Nachfragen stellen, bei denen sie zuerst an ihrem eigenen Vermögen zweifeln. Es sind auch meist Frauen, die soziale Fähigkeiten einbringen. So ist es eine Teilnehmerin, die nach mehrtägiger Krankheit nachfragt, wie es mir geht, und mich mit Unterrichtsmaterial versorgt. Ebenso war es eine Lehrerin, die als erste die Widersprüche dieser Lernplattform explizit thematisierte und Spiele zur Auflockerung einführte. Dabei wurde die unsichtbare Wand, die uns Teilnehmerinnen alle voneinander trennt, tatsächlich für einen kurzen Moment aufgehoben.

Aber die Erfahrung dieses virtuellen Lernens ist in vielerlei Weise nicht vergleichbar mit den ideologischen Staatsapparaten wie Schule oder Universität, die ich bisher als Schüler, Student oder Dozent kennengelernt habe. Diese ermöglichen Formen des Kontaktes und Austausches auf unmittelbarerer Art. Aber da wir eben die Pausen nicht vor dem funktionslosen Kaffeeautomaten in dem virtuellen Gebäude verbringen, ist die Erfahrung der gemeinsamen Zeit ausschliesslich die des Unterrichts, mithin der funktionalen, zweckgebundenen und ideologischen Zurichtung. Diese stellt zumindest als symbolische Gewalt eine mir völlig neue Eskalationsstufe der Entfremdung dar. Gleichzeitig werden wir aber schon auf die Formen von digitalem Stress, die grosse Teile der gegenwärtigen Arbeitswelt hervorrufen, ideal vorbereitet. Der digitale Stress unterscheidet sich dabei womöglich nicht von allen anderen Formen mit der digitalen Technik in ihren zahlreichen Erscheinungsformen. Schliesslich sitzt man Vollzeit vor zwei Bildschirmen. Während der eine das Klassenzimmer simuliert, simulieren wir auf dem anderen Arbeit und erfüllen Übungsaufgaben. Anders als bei Online-Simulationsspielen gibt es keine Punkte. Dafür werde ich am Ende mit einem Zertifikat in die wirkliche Welt entlassen. Mein virtuelles Klassenzimmer ist wesentlich rudimentärer gestaltet als die meisten Online-Spiele. Trotzdem ist es weitaus teurer. Denn virtuelles Lernen stellt eine nicht zu unterschätzende Ökonomie der Zukunft dar. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht diskutiert wird, wie weit denn digitale Lernmethoden in der Schule oder gar im Kindergarten eingesetzt werden sollen. Die Transformation vollzieht sich langsam. Aber die Anzahl der Fernunis und das Angebot dieser Formen von Weiterbildung steigt enorm. Das hat auch sein Gutes. Meine Weiterbildung ist so speziell, dass der Kurs nie und nimmer in einer Stadt zustande käme. Insofern mag es völlig sinnvoll sein, einen solchen Kurs in dieser Lernform anzubieten, während ich an beinahe jedem Standort landesweit teilnehmen kann.

Wie wollen wir die Gegenwart gestalten?

Die Pointe von Melvilles Erzählung über Bartleby besteht in der abschliessenden Erkenntnis seines ehemaligen Arbeitgebers in der Anwaltskanzlei. Der findet heraus, dass Bartleby vor seinem Wechsel in die Anwaltskanzlei in einem Amt für tote Briefe gearbeitet haben soll. Deutlicher lässt sich Bartlebys Verweigerung nicht marxistisch erklären: Sein Dasein bestimmte sein Bewusstsein. Die Tätigkeit unzustellbare Briefe zu sortieren ist gewiss geistloser und ärmer an Kontakt als die meisten gegenwärtigen Bürojobs. Wo auch Bartlebys Aussicht als Kopist eher grau und eintönig war, ist die Arbeit am Rechner heute eher vom Gegenteil geprägt. Die verschiedenen Medien und die angebliche Beschleunigung führen eher zu digitalem Stress und Überforderung als zu jener Unterforderung und Fantasielosigkeit, der Bartleby ausgesetzt war. In der gegenwärtigen Arbeitswelt sind wir einer Vielzahl von Herausforderungen ausgesetzt, die sich fundamental von denen des Hochkapitalismus unterscheiden. Der Stand der Produktionsmittel befindet sich nicht mehr auf dem Niveau des Kopisten. Stattdessen prägen digitale Technologien die Lebens- und Arbeitswirklichkeit einer grossen Gruppe in der westlichen Welt.

In seiner ca. fünfzig Jahre alten Streitschrift über die «Unwirtlichkeit der Städte» hat Alexander Mitscherlich gezeigt, wie sozialer Austausch und Bindungen durch bestimmte Formen der Stadtplanung verhindert werden. Durch die Gestaltung von Miethäusern wurde gerade der soziale Austausch erschwert, der einmal der Vorteil der urbanen Lebensweise war. Auch in der digitalen Welt muss der zwischenmenschliche Austausch und Kontakt nicht zwangsläufig reduziert sein. Das ist eine Frage des Designs und der Gestaltungsmöglichkeiten. Mitscherlich forderte in seinem Pamphlet, «dass wir uns mehr um die komplex vermittelte Wirklichkeit des menschlichen Lebens kümmern und von dort her unsere Forderungen, es lebenswert zu gestalten, wiederholen.» Diese Forderung gilt es heute erneut zu wiederholen. Die Grenzen, die uns in einer ebenso komplex vermittelten virtuellen Wirklichkeit gesetzt sind, führen zu einer enormen Unwirtlichkeit. Sie erschweren oder verunmöglichen gar Kontakte, Sozialität, schlicht Erfahrung. Es ist aber naheliegend, dass diese Unterrichts- und Lernformen in Zukunft noch mehr zunehmen werden. Wir müssen uns also auch überlegen, wie wir diese Situation lebenswert gestalten in den Grenzen, die uns gesetzt sind.

Chris W. Wilpert ist Literaturwissenschaftler und lebt in Bamberg.

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