Daniil Charms’ Theater in der vermeintlichen «Tradition des Absurden», die Grenzen eines Kanons, der die Grenzen so mancher Welt markiert, und der fröhliche Unsinn, der in der kleinen Form die gesamte russische Literatur und die ganze Welt im Kopf trägt.

«Da greift Ivan zur Axt und Krach!

haut er Tolstoj mit Macht auf den Kopf.

Tolstoj fällt um. O Weh und Ach!

Die ganze russische Literatur im Nachttopf»

Traum zweier schwarzhaariger Damen

«Man könnte aber durchaus auch mit dem friedlichen Leben beginnen»

Für ein Seminar zum Absurden Theater sollte ich einmal auf Karteikarten biografische und bibliografische Eckdaten von VertreterInnen des Absurden sammeln. Daran erinnerte ich mich, als mir kürzlich bei der Durchsicht meiner Ausgabe von Martin Esslins ‹Das Theater des Absurden›, in dem mir eben diese Karteikarten mit den Namen Jarry, Vian oder Artaud als Lesezeichen dienen, eine Karteikarte mit dem Namen «Daniil Charms» in die Hände fiel. Darauf finden sich die Eckdaten: «1924 Beschäftigung mit Futurismus; 1927 Gruppe ‹Oberiu› – Vereinigung einer realen Kunst → Auflösung traditioneller Gattungsgrenzen; 1931 Verhaftung wegen Verdacht auf anti-sowjet. Vereinigung», die schließlich in die ungenauen, gar unfreiwillig komischen Tropen: «1928 verdient sein Brot mit Kindergeschichten; 1935 nagt am Hungertuch» münden, um mit: «1937 verfasst das Gedicht ‹So beginnt der Hunger›» den Kulminationspunkt vorzubereiten: «1942 verhungert im Gefängnis».

Es ist zu vermuten, dass ich die Informationen dem «biographischen Stichwort von Beate Rausch» in der Ausgabe ‹Fälle› entnommen habe, denn in Esslins Buch sucht man den Namen Charms vergeblich. Ebenso fehlt in dem Kapitel «Die Tradition des Absurden», das den Bogen von Dante, Shakespeare und Rabelais über Büchner und Lewis Carroll zur beinahe gesamten Moderne und besonders: Jarry und Artaud zu schlagen vermag, jeglicher Hinweis auf die russischen FormalistInnen oder FuturistInnen im Besonderen oder die russische Avantgarde im Allgemeinen.

Dabei bündelt sich in Charms’ Prosa, Gedichten, Theaterstücken, Kinderliteratur, Fragmenten und Briefen vermeintlich nicht weniger als das ästhetische Programm der europäischen und russischen Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Anknüpfungspunkte lassen sich vom Futurismus und Dadaismus über den Surrealismus hin zum Absurden Theater ziehen und wurden in der Rezeption auch gerne gezogen, wenn auch meist unter Ausblendung historischer Kontinuitäten und Diskontinuitäten.

«Nein, es ist viel besser, von der Seite her aufs Thema zu kommen»

LeserInnen, die zum ersten Mal mit Charms in Berührung kommen, drängt sich der Verdacht auf, einen Vertreter des Absurden vor sich zu haben. Diese Beobachtung ist genauso wenig von der Hand zu weisen, wie die Analogie zu Kafka, die gerne im selben Atemzug vollzogen wird. Gudrun Lehmann stellt in ihrer großen Studie ‹Fallen und Verschwinden› zu «Leben und Werk» Charms’ diesen und Beckett bereits in den beiden Eingangszitaten neben- oder vielmehr: untereinander. Und Alexander Nitzberg charakterisiert ‹Jelisaweta Bam› als einen «Meilenstein auf dem Weg» zu Ionesco und Beckett. Seine Betonung, dass es nicht «das erste absurde Theaterstück» sei, unterstellt freilich eine Genealogie, die alleine historisch so nicht zu rekonstruieren ist, gerade weil Charms’ Texte nicht nur in Westeuropa lange unbekannt waren. Wenn Sabine Berking in der FAZ Charms als «Meister des Absurden» tituliert, reiht sie sich in jene Lesart ein, die ihn im Nachraum von Esslin bruchlos als Dichter des Absurden einordnen konnte. Was verführt also dazu, Charms so leichtfertig als absurd zu klassifizieren, und wie gerecht wird man ihm tatsächlich, wenn man ihn in der «Tradition des Absurden» gar kanonisiert?

«Nein, so ein Unsinn»

Den Hauptanteil in Charms’ Theater- und szenischen Texten bildet die kleine, häufig fragmentarische Form, die darin seiner Prosa strukturell nicht minder nachsteht, wie in ihrem komischen, makabren und – ja – teils absurden Gehalt. Jedoch erhob Charms das Absurde nicht zum philosophischen oder ästhetischen Programm wie etwa Camus im ‹Mythos des Sisyphos› oder Hildesheimer in «Über das absurde Theater». In einer handschriftlichen Szeneneinteilung von ‹Jelisaweta Bam› stehen der Regieanweisung «Absurde Komik, naiv» zahlreiche Markierungen mit «Realismus, Alltagskomödie», «Festliches Melodram» oder «Pathos, balladesk» gegenüber. Das Absurde entsteht bei Charms nicht so sehr aus der «Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, mit der Welt, die vernunftwidrig schweigt» (Camus), sondern aus den Menschen, die mit den Menschen meist nichts anfangen können, und die, wenn sie gefragt werden meist vernunftwidrig widersprechen:

 «Kaschtanow: Lisa! Ich flehe Sie an. Verraten Sie mir: Wer sind Sie?

Jelisaweta: Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!

Kaschtanow: Nein! Ich kann nicht! Ich kann nicht!

Jelisaweta: Was können Sie nicht?

Kaschtanow: Lisa! Wer sind Sie?

Jelisaweta: Nerven Sie mich nicht mit so einer dämlichen Frage! Als wüssten Sie nicht, wer ich bin!

Kaschtanow: Weißichnicht! Weißichnicht.»

Während es TheoretikerInnen des Absurden wie Camus oder Sartre meist misslang, absurd zu schreiben, sie stattdessen nur über das Absurde schrieben, lässt sich eine Einordnung Charms in die Tradition des Absurden leichter mit einer Definition von Wolfgang Hildesheimer leisten, der weiß, dass das Absurde Theater «eben durch das absichtliche Fehlen jeglicher Aussage zu einer Parabel des Lebens wird. Denn das Leben sagt ja auch nichts aus.» Besonders anschaulich illustriert das die «Missglückte Theatervorstellung», in der das wörtliche Versagen jeglicher Aus-Sagen das Theater als Institution ad absurdum und das alltägliche Leben vor-führt:

«Auf die Bühne kommt Petrakow-Gorbunow, will etwas sagen, hat aber einen Schluckauf. Er muss brechen. Er geht ab. Pritykin tritt auf.

Pritykin : Der verehrte Petrakow-Gorbunow muss Ihnen mitteil… (Er bricht und rennt weg.)

Makarow tritt auf.

Makarow: Jegor… (Makarow bricht. Er rennt weg.)

Serpuchow tritt auf.

Sepruchow: Um jetzt nicht zu lange  … (Er bricht, rennt weg.)

Die Kurowa tritt auf.

Kurowa: Ich wäre ja  … (Sie bricht, rennt weg.)

Ein kleines Mädchen tritt auf.

Kleines Mädchen: Ich soll euch von Papa ausrichten, das Theater macht zu. Uns ist allen schlecht.

Vorhang»

«Eine Kollision brauchen wir, eine Kollision»

Jelisaweta Bam› stellt fraglos Charms’ prominentestes von seinen wenigen abgeschlossenen Theaterstücken dar, sein «Paradestück», wie die Ausgabe der Werke weiß. Es wurde am 24. Januar 1928 im Rahmen des Abends «Drei linke Stunden» der Gruppe Oberiu uraufgeführt und eigens für diesen Abend erst wenige Wochen vorher verfasst. Die Parallele zum Absurden Theater lässt sich auch hier scheinbar problemlos durch Elemente wie Handlungsdefizit, zirkuläre Form, Sprachspiele und Lautgedichte, Nonsens-Dialoge, Verzögerungen und die bereits erwähnten rasanten und radikalen Stimmungswechsel von Szene zu Szene ziehen. Die offensichtlichen futuristischen Vorbilder werden in dem Vorwurf des «futuristisch-bürgerlichen Epigonentums» und des «bis zum Zynismus unverblümten Wirrwarrs» im Verriss in der Krasnaja gazeta identifiziert. Auch ist die Handlung, soweit sie sich freilegen lässt, im Wortsinne kafkaesk (hier passt das Adjektiv einmal). Denn die titelgebende Hauptfigur soll verhaftet werden, «ohne daß sie etwas Böses getan hätte»:

 «Jelisaweta Bam: Vielleicht verraten Sie mir, was ich verbrochen habe?

Erste Stimme: Das wissen Sie selbst.

Jelisaweta Bam: Nein, weiß ich nicht. (Stampft mit dem Fuß auf.)»

Wenn ihr am Ende des Stückes schließlich der Vorwurf des Mordes verraten wird, soll sie eine jener beiden Personen ermordet haben, die sie unmittelbar darauf als Feuerwehrmann verkleidet verhaftet. Will man Charms krampfhaft in eine Tradition einordnen, so zeigt er sich eher als «typischer» Avantgarde-Autor seiner Zeit: Der Zusammenprall von alberner, slapstickhafter Situationskomik mit karnevalesken Elementen und ein teils vulgärer, teils hintergründiger Witz ist gleichfalls Ausdruck einer Zeit, die diesen Humor unterdrückt, wo er sich nicht der Propaganda andienen lässt, wie das Absurde Theater im engeren Sinne immer nur als Reaktion auf die Shoah, den Zweiten Weltkrieg und die daran anschließende Blockbildung historisch zu begreifen ist. Es provoziert das Lachen nur noch – in den Worten Adornos über Beckett – «ohne einen Ort der Versöhnung, von dem aus sich lachen ließe».

«Eine Kollision ist kein Pappenstiel»

In der Werkauswahl im Galiani-Verlag rechtfertigt Herausgeber Nitzberg das Fehlen der ‹Komödie der Stadt Petersburg›, weniger mit deren unvollendetem Charakter, als vielmehr mit dem Verweis auf die Vielzahl an undurchschaubaren Zitaten aus der russischen Klassik. Dieses Argument ist nur bedingt schlüssig, schließlich stolpert man bei Charms unentwegt über Gogol oder Puschkin und diese gerne auch übereinander. Wenn jedoch Charms ausgerechnet 1927, als die Oktoberrevolution mit Eisensteins ‹Oktober› und Pudowkins ‹Das Ende von Sankt Petersburg› filmisch gefeiert werden soll, in einem Theater-Fragment den letzten Zar Nikolaus II. sprechen und die Umbenennung der Stadt zum zentralen Thema werden lässt, und wenn dann auch noch Leningrad als «Letheburg» missverstanden wird, ist das kein Pappenstiel. Im Gegenteil ereignet sich in dieser «Komödie» die Geschichte ein zweites Mal als Farce, bei der das Tilgen aus der Geschichte über jenes «Lethe» (Vergessen) aktiv benannt wird. Das «dramatische Fragment» endet mit dem Wortwechsel und der Emphase auf jenes Pe-ters-burg:

 «Komsomolze Vertunow: In was für eine Hauptstadt?

Nikolaus II.: In die Stadt Petersburg.

Ščepkin: Leningrad Euer Majestät.

Komsomolze Vertunow: Was denn für eine Petersburg?

Nikolaus II.: In – die – Stadt – Pe – ters – burg.»

Es bleibt Spekulation, ob Charms ein Stück, das derart das Potenzial zum Vorwurf der antisowjetischen Haltung birgt, überhaupt zur Aufführung gedacht hat, wo ihm jegliche Publikation ohnehin beinahe vollständig verwehrt war. Während das Absurde Theater sich in Westeuropa gerade in der Aufführungspraxis auf die Sprengkraft gegenüber einer limitierten bourgeoisen Kunstauffassung verlassen konnte, zeigt sich in Charms Theater und theatralischen Szenen – wie in seiner Prosa und Lyrik –, dass er sich auf das Experiment mit der Form, die Beobachtung von Situationen und seine beliebten (Vor-)Fälle konzentriert.

«Frau: Bin verliebt in die Freifrau und das Tintenfässchen.

Biberfell: Das ist gut.

Frau: Das ist gut, aber dieser Christoph Kolumbus hat in unsere Küchenmagd ein Fahrrad hineingesteckt.

Biberfell: Örme, örme, Köchenmögd.

Frau: Die Arme sitzt jetzt in der Küche und schreibt einen Brief aufs Land, und das Fahrrad guckt aus ihr heraus.

Biberfell: Was für ein Vorfall. Ich weiß noch genau, 1887 gab’s einen Vorfall bei uns im Heim. Wir hatten einen Lehrer und rieben ihm einmal das ganze Gesicht mit Terpentin ein und legten ihn unter den Küchentisch.

Frau: Und warum erzählst du mir das?

Biberfell: Es gab auch noch ganz andere Vorfälle.

Auftritt Mortadella-Mann.»

«Das Thema ist im Verlauf des Arbeitsprozesses durchgebrannt»

1925 notiert Charms in «Der Gang – nicht vom Magen, sondern von der Revolution zum Material»:

«Jetzt, da man nicht mehr ausschließlich darüber nachdenken muss, wie man sich den Magen füllt, meldet sich immer häufiger die Sehnsucht nach seelischen Ausschweifungen. […] In der UdSSR wird man zugeschüttet mit vulgärem Materialismus, der darauf zielt, die freie Bewegung des begreifenden Menschen zu binden und ihn der Erholung zu berauben. Wir, wahre Künstler, Ärzte des öffentlichen Magens, verabreichen euch ein abführendes Gebräu, indem wir den Deckel über der Romantik lüften.»

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Charms ausgerechnet in einem Staat verhungert, in dem die materiellen Grundbedürfnisse aller nach der Revolution gewährleistet sein sollten. Sein Theater ist wie seine gesamte Literatur der Versuch «im Witz, in der Beschimpfung, im Mißverständnis» die «allseitige und integrale Aktualität» zu erzeugen, die Walter Benjamin in seiner Analyse des «Sürrealismus» diesem zuerkennt. Was Charms dem öffentlichen Magen einverleiben will, der sich mit allen Mitteln dagegen wehrt und ihn schließlich in sein Verdauungssystem überführt, entsteht aus einer konkreten und spezifischen historischen Situation heraus, die für ihn (Charms, nicht den Magen Stalins) gleichermaßen absurd wie existenziell wird. Wer ihn in eine größere Tradition integrieren will, läuft Gefahr diese Umstände wegzureduzieren. Dass Charms in der kleinen Form und voller Unsinn gleichzeitig eine Literatur von universellem Charakter schuf, macht ihn weniger absurd als genauer zu einem Autor von Weltrang, der dieser vernunftwidrigen Welt nicht schweigend, sondern zu unserem Glück schreibend gegenüber stand.

Alle Zwischenüberschriften aus: Ossip Mandelstam: «Ich schreibe ein Szenario». In: ‹Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1925-1935›. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli, der in den Anmerkungen explizit auf die Ähnlichkeit von Mandelstams Parodie mit Charms’ Texten hinweist.

Alle Charms-Zitate sind folgenden Ausageben entnommen:

Fälle. Szenen Gedichte Prosa.› Herausgegeben und übersetzt von Peter Urban. Zürich 1988.

Vladimir Glozer, Alxander Nitzberg (Hg.): ‹Daniil Charms. Werke.› Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch und Alexander Nitzberg. Berlin 2010 -2011.

Band 1 ‹Trinken Sie Essig, Meine Herren! Prosa.
Band 3: Wir hauen die Natur entzwei. Theater.›
Band 4: ‹Du siehst mich im Fenster. Autobiografisches.›

Chris W. Wilpert ist Literaturwissenschaftler und lebt in Bamberg.

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