Du überlegst dir, dich auf die im Unimarkt ausgeschriebene Stelle als ÜbersetzerIn zu bewerben. Du überlegst dir, ob du das könntest, «Leichte Sprache». Es geht darum, das Programm eines Performancefestivals in «Leichte Sprache» zu übersetzen. Verstehst du das überhaupt, die Originaltexte? Kannst du so fein ziseliert antworten?

Du bekommst hie und da Antworten: «Ja, danke, es wäre wirklich besser, wenn Sie das Jacket mit einem Spannbügel aufhängen.» So bekommst du Geld, um zu essen. Und wenn du dir mal ein Konzert leistest und die Garderobe im Ticketpreis drin ist, stehst du auf der anderen Seite. Du erinnerst dich nie an die Frisur der Person an der Garderobe. Noch nicht mal ans Geschlecht.

Im Museum ist die Garderobe immer im Eintritt inbegriffen. Zum Glück gehst du selten in Museen. Eigentlich nur das eine Mal vor fünf Jahren, als du ein Seminar in Kunstgeschichte belegt hast. Im Vergleich zu damals, machst du dir jetzt mehr Gedanken über Pragmatisches (Essen, Spannbügel). Früher haben sich wirtschaftsnahe Politiker Pragmatiker genannt. Heute ist das anders: Pragmatiker sind die Leute, die Grundsatzfragen ohne drei Gramsci- und zwei Badiou-Referenzen stellen können. Pragmatiker ist Corbyn. Du lebst im Sommer gegen die Theorie. Du erkennst sie nur noch in deiner Gier nach regelmässigen Belohnungshäppchen, die du mündlich, schriftlich, vielleicht gar per Whatsapp-Sprachnachricht erhältst. Die Hoffnung auf Belohnung motiviert alles. Du liest/schreibst diese Zeile, weil du auf ein Häppchen der kommenden Weihnacht hoffst.

Du kennst das Dreieck aus der Politik: Freiheit, Sicherheit, Gleichheit. Du weisst aber auch: Das Dreieck handelt primär von Narrativen. Freiheit ist der populärste Wert. Sogar die eritreische Diktatur erzählt, es gäbe Freiheit. In China, da geben sie Punkte. Herr China mag deine Steuerschulden nicht. Herr China mag aber auch deine Freunde nicht. Willst du Herr China als Freund haben, darf Herr China deine Freunde aussuchen. Herr China mag nicht, dass du ihn dir männlich vorstellst. Unlike unlike unlike! Wenn du jetzt noch in einem Blog erwähnst, dass 1989 etwas passiert ist, landest du im Knast. Irgendwo im Blinddarm von Herrn China. Ok, das wäre sowieso passiert. Und du hoffst, dass die Schreiber von Black Mirror schon beim Entwickeln der Folge zum Thema von Insidern gewusst haben, dass das chinesische Belohnungssystem kommen wird. Viel un­angenehmer wäre es dir, wenn die Schreiber ausgerechnet dieser Serie Ideengeber autoritärer Regime sind. Was kommt dann noch alles auf die Realität zu? Wer die richtigen Freunde hat, darf die richtige Wohnung mieten. Wer keine Schulden hat und einen Job mit gesellschaftlichem Renommé. Wer dem Ameisenbau treu ist. Wer ordentlich aussieht, aber nicht zu herausragend. Es geht dann um die Freiheit des Kollektivs, die Souveränität der Nation, der Kultur. Freiheit gefällt dir, ist auch sonst am beliebtesten. Ist als Grundwert das Gegenstück zu H&M-Kleidern. Auf Freiheit wird am meisten projiziert – von Bertolt Brecht bis Ayn Rand. Dir ist das alles bewusst. Die Freiheit ist Teil der Dreifaltigkeit: Man kann sie nur empfinden. Sie ist der heilige Geist. Die Freiheit sich selbst zu vergiften, sagt Herr Philipp Morris.

Du erhältst die Stelle beim Performancefestival nicht. Sie haben dich gegoogelt, dein Facebook-Profil gefunden und du likest die falschen Facebookseiten, zu viel Palästina, Ottervideos oder Israel. Ob beim Performancefestival wohl Herr China in der Personalabteilung arbeitet? Du beantwortest die Absage mit einem Chihuahua-Meme und einer Zeile «Vielen Dank für Ihren Background-Check». Und eine zweite: «Übersetzung in «Leichte Sprache»: Danke für Kacka im Gesicht». Du setzt beide Zeilen in Comic Sans.

Dann bekommst du auch noch Filzläuse. Du hattest keinen Sex, lately. Du entscheidest dich nach Rasur und homöopathischen Mittelchen das Bett nicht wieder anzuziehen. Du schläfst fortan im Schlafsack. Sicherheit und Wärme, ein Kokon. Das mögen die Leute komisch finden, die es sehen, aber es sieht ja niemand. Du musst nicht mehr kiffen, wenn du von den Garderobendiensten nach Hause kommst. Du schläfst viel besser.

Der Chihuahua wurde dir seit Jahren ab und zu geschickt. Seit du ihn selbst verschickt hast, ist es anders. Du verstehst jetzt, welche Nuance vong Innenleben her nur mit diesem Meme abgetastet werden kann. Weshalb? Weil der Stil und die Chihuahua-Mimik, so viele Zwischentöne aushebeln. Ein Bild, das so viel sagt, wie eine ganze Lutherbibel. Trigger! Trigger! Trigger! Buchdruck mit verschiebbaren Lettern – der Brief mit geframten Gefühlsausdrücken. Eine Bibel-Ausgabe in Comic Sans würde verhindern, dass bald eine Bibel voll zähnebleckenden, tränenwegdrückenden oder lachheulenden Emojis herausgegeben wird. Das würde verhindern, dass die «Emoji-Bibel» zum Kassenschlager in Saudi Arabien wird. Nachdem «Emoji – the movie» als erster Kinofilm überhaupt zugelassen worden ist, wär’s schlicht «Das Buch zum Film».

Im Autoplay erscheint das Video. «If one doesn’t understand privilege, show him this video» auf deiner Facebookwall. Du scrollst runter, weiter. Alles, was über zwei Millionen Views hat. interessiert dich nicht. Du likest manchmal die Posts eines Asylsuchenden, der in der Facebookgruppe «Leben am Existenzminimum in der Schweiz» seine Hausaufgaben aus dem Deutschunterricht zur Debatte stellt. «Was ist partizip 2?» Du likest sie durch, ohne zu antworten. Dann schaust du nach, ob der Teamleiter die Einsatzpläne für die nächsten zwei Wochen an der Garderobe hochgeladen hat.

Du denkst an Demokratie. Du denkst an Kompromiss. Das ist aber noch das Beste dran, Kompromiss. «Wir sind einfach Groupies», sagen sie, als du auf dem Weg zum Mitarbeitereingang an ihnen vorbeigehst. «Wir sind schon seit gestern hier!» Du realisierst erst, dass es ein Witz war, als sie ihre Handtäschen bei dir abgeben. Keine Schlafsäcke! Du denkst an Systeme und denkst sie von aussen und denkst, dass das noch am besten ist, sie so anzuschauen, von aussen.

Du hast einen Netflix-Account, also du hast die Zugangsdaten eines Netflix-Accounts, aber er gehört dem Bruder eines Bekannten; der Bruder hat Familie, also nichts mit Primetime für dich. Du gehst auf eine meliert-grauzonige Streamingseite zum illegalen Filme schauen. Du klickst Banner weg, Banner um Banner. Manche gehen nicht weg. Zum Soundtrack von Pirates of the Caribbean wird dir viel Geld angeboten, wenn du jetzt investierst. Du klickst es weg, aber da der erste Streamlink nicht funktioniert, hörst du den Soundtrack wieder und wieder und wieder. Du hasst ihn. Vielleicht denkst du nur noch an Sex, wenn du die Pornowerbungen beim grauzonigen Serien streamen wegklickst.

Du bist nicht sexsüchtig – Tinderbilder wegklicken gilt nicht. Das ist eine Ersatzhandlung für’s Wegklicken, wenn du keine Serien schaust. Es gibt dir einen Schub: All die, sie sind zu schlecht für mich! Tinder ist ein einfaches Spiel, die Beginnerversion von Snake. Früher, da hast du Gamemagazine gelesen. Da stand dann Schwierigkeitsgrad 1 bis 10 oder ein Balken von Grün bis Rot oder Beginner – Fortgeschrittene – Experte. Jetzt ist alles spielhaft, ohne Hürden. Die Spiele so einfach. Dein Handy vibriert, wenn eine Nachricht kommt. Piktogramme von Telegramm bis Twitter. Dein Handy leuchtet grün, purpur, blau, rot. Du möchtest verstehen. Wie ein kleines Kind möchtest du verstehen, welches Lichtsignal für welche Nachricht steht. Du tippst den Pin ein, ist der Bildschirm entsperrt, erfährst du es. Oh, es ist nur eine Meldung der Gerätewartung. Oh, jemand schreibt dir, es gäbe «1 Party in der Photobastei!111». Guck mich an! Guck mich an! Aufmerksamkeit, aber kollegial. Und wenigstens «Interessiert» klicken, das wär nett. Das treibt den Algorithmus an. Ja. Die Welt entdecken.

Du könntest The Great Gatsby in Comic Sans setzen. Du könntest das Buch hinterher neu lesen. Der Text sagt dir dann was. So kannst du die ganze Technologiekritik, die Welt, die immer schneller wird, sich heissläuft, endlich wieder erleben.

Scrollst du deine Facebookwall runter, beginnen die meisten Videos automatisch. Sie hat so viele Dimensionen, ein Hashtag führt immer noch wohin. Immer weiter. Die Wege des Herrn sind unergründlich, BoredPanda hat eine endliche Anzahl von Beiträgen, aber sie sind so aufbereitet, dass man sie alle drei Monate von neuem anschauen kann. Alles hängt an Kabeln, an 200 Unterseekabeln. Sind sie gekappt, endet BoredPanda. Manchmal kappt ein Schiffsanker das Internet, wenigstens für einen halben Kontinent. Dass es Unfälle gibt, bedeutet Hoffnung. Hoffnung darauf, dass nicht alles kontrollierbar und das Internet nicht Internet.org wird. Facebook will das Internet schlucken. Was hält Herr China davon?

Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor. Sein erster Roman «Land ganz nah» erschien 2017 bei lector books.

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