Ich schreibe Science-Fiction und suche etwas Bestimmtes darin. Gefunden habe ich es noch nicht, aber ich bin mir sehr sicher, dass es existiert. Ich möchte versuchen, darzulegen, warum ich denke, dass das Phantastische zu mehr im Stande wäre, als man ihm zutraut. Nicht, weil es eine gutartige Kraft ist, die die Realität besiegen kann, sondern als Labor.

Das Phantastische geschieht nicht in einem Vakuum neben der Realität; phantastische Bestandteile und die Art, wie sie miteinander verbunden sind, sind vielmehr aus realen Erfahrungen abgeleitet.

Ich glaube nicht, dass es eine magische Gabe ist, sich etwas zusammen zu phantasieren. Vielmehr besteht diese Tätigkeit aus zwei Hardskills: Einseits einer möglichst grossen Kenntnis in Frage kommender Elemente und andrerseits der Fähigkeit, diese auf neue, sinnvolle Weise zusammenzusetzen.
Als ich zum ersten Mal an einem längeren Science-Fiction Text gearbeitet habe, ist mir beim Bauen dieser fiktionalen Welt aufgefallen, dass es mit Voranschreiten der Arbeit immer leichter wurde, mir Orte, Geräte und Technologien auszudenken. Es ergab sich aus der Logik der Welt von selbst. Bei mir greift Phantasie meistens nach Dingen, die nah beinander liegen und fügt sie zusammen. Allgemein haben Phantasiewelten oft eine Logik, die sich ähnelt. Tiermenschen herzustellen z.B. ist einer der routiniertesten Handgriffe der Phantastik, ausserdem leuchten die Dinge in phantastischen Welten mehr und auf viel passendere Weise als in der Realität. Mir ist auch aufgefallen, dass die Räume in Fantasyfilmen überdurchschnittlich oft rund sind, im Vergleich zu den realen, in denen ich mich aufhalte. Vielleicht hängt das mit der Art zusammen, wie Vorgestelltes visualisiert wird: Die Ränder sind unscharf und in der Mitte befindet sich, in einer seltsamen Perspektive, die es in der Realität nicht gibt, der Kern der vorgestellten Szene – meistens kreisförmig. Ich denke, es liegt daran, dass es eine sinnlose Anstrengung wäre, sich die Ecken des Raumes ebenfalls vorzustellen Phantasiewelten sind viel einheitlicher und geschlossener als die Realität. So hat ein Planet in der Science-Fiction in der Regel eine einzige Ästhetik; z.B. eine gigantische Stadt, die seine gesamte Fläche überzieht, oder er besteht komplet aus Wüste, oder einem fluoreszierenden Dschungel, der von katzenartigen Naturvölkern bewohnt wird.

Vielleicht fällt uns deshalb nicht auf, dass wir bereits in einer Science-Fiction-Welt leben. Weil Zukunftswelten im Kino immer in zusammenpassenden Farbschemen und Grundformen dargestellt sind. Wir werden deshalb für immer auf eine Zukunft warten, in der alles blaustichtig und oval ist.

Ich glaube, wenn man sich etwas ausdenkt, fällt man dabei leicht in bestimmte, erlernte Handgriffe. So ähnlich, wie die Witze von manchen Personen immer nach bestimmten Mustern funktionieren. Ich habe lange geglaubt, dass Science-Fiction, die mit einer halbverschlafenen Geste nach möglichst seltsamen Dingen greift und daraus weirde Gebilde formt, allein durch ihre Fremdartigkeit berechtigt wäre. Einmal wollte ich einen Text schreiben, in dem der Protagonist als einziger Mensch auswegslos auf einem fremden Planeten mit unfreundlichen, eierlegenden Ureinwohnern gestrandet ist. Er versucht, sich mithilfe der Leergutrücknahmefuhre einer menschenbesessenen Alienfrau, die einen bizarren Feinkostladen mit Delikatessen von der Erde betreibt, in dem Porzellanteller mit niedlich posierenden Menschenkindern an den Wänden hängen, zurück zur Erde schmuggeln zu lassen.

Auf dem Planeten sollte es elf verschiedene Jahreszeiten geben, die ständig wechselten. Ich habe mir damals nur eine ausgedacht, bevor ich die Geschichte aus verschiedenen Gründen bleiben liess. Die unbekannte Jahreszeit herrschte zu Anfang der Geschichte, als der Protagonist an einem zu niedrigen Schreibtisch sass (die Bewohner des fremden Planetens waren kleiner als er), und dabei aus dem Fenster schaute auf eine stinkende, verfaulte Landschaft. Zu dieser Zeit des Jahres verschimmelten die Pflanzen von innen, die Bäume fielen in sich zusammen und in die Flüsse hinein, sie färbten das Wasser braun und verwandelten es in eine ekelerregende, brackige Sosse. Der Ursprung dieser Idee hing, vermute ich, grob mit dem zeitlich etwas davor angesiedelten Verschimmeln meiner Orchidee zusammen. Er sollte die düstere Stimmung des Protagonisten und seinen Ekel vor der Welt, in der er lebte, ausdrücken. Im Nachhinein würden mir noch mehr Jahreszeiten einfallen. Z.B. eine, die unserem Frühling ähnelt, aber zweigeteilt. In der einen Jahreszeit blüht die untere Hälfte eines Baumes oder Busches, unterhalb einer, von der Pflanze selbst produzierten Markierung in Form eines blauen Streifens, und dann, in der nächsten Jahreszeit die andere. Die Pflanzenabschnitte werden je von unterschiedlichen Insekten bestäubt und es entstehen je nach Jahreszeit unterschiedliche Pflanzen daraus. Darauf folgt eine scheussliche, kurze und heftige Jahreszeit, in der Methanwinde das Land verwüsten und Flora und Fauna pulverisieren; zwei Wochen lang müssen alle Bewohner des Planeten in durchsichtigen Schutzanzügen herumlaufen. In der nächsten Jahreszeit bilden sich aus dem Methan und dem Zellpulver der Pflanzen korallenartige Gebilde, die das Land überziehen. Während die Methanwinde alle Pflanzen an der Oberfläche weggefegt haben, haben die Wurzen überlebt, wachsen von unter der Erde nach oben und ranken sich als blühende Netze über die Korallenfauna. Usw. Mit jedem Wechsel der Jahreszeit färbt sich die Haut der Ureinwohner in einer anderen Farbe, weil im Körper andere Stoffe produziert werden, um mit der veränderten Witterung zurechtzukommen; vielleicht verdickt die Haut sich auch. Es bringt sehr wenig, sich so etwas auszudenken. Ich kann es ziemlich gut.

Früher habe ich das wichtig genommen und für eine besondere Fähigkeit gehalten. Inzwischen habe ich die recht stabile Theorie entwickelt, dass es daran liegt, dass ich absurd oft die Bücher der Harry-Potter-Reihe gelesen habe. An J.K. Rowlings Büchern beeindrucken mich drei Dinge zutiefst: Einmal, dass sie (ähnlich wie Dostojewski), eine Faszination für das Gute hat. Zweitens die absolute Perfektion in der Konstruktion der Geschichte und die Sorgfalt, mit der sie alles, was sie erfunden hat, behandelt. Drittens, und das ist der für diesen Aufsatz wichtigste Punkt: dass magische Gegenstände in den Harry-Potter-Büchern (z.B. der Spiegel Nerhegeb, der zeigt, was die Figur begehrt) immer dazu dienen, Gefühle einer Figur sichtbar zu machen, während die Welt selbst, wie eine Figur, ein Eigenleben hat.

Als ich den Text mit den vielen Jahreszeiten angefangen habe, wollte ich damit eine Parabel, ein universelles Bild für Einsamkeit herstellen. Inzwischen glaube ich, dass, falls man das überhaupt versucht, man zuerst konkrete, gegenwärtige Einsamkeit begreifen muss. 2018 herrschen andere ökonomische Verhältnisse und damit auch andere Arten von Einsamkeit als 1818 und die Aufgabe von Literatur wäre es, diese zu erforschen und nicht grobe, eindrückliche Bilder zu produzieren, die auf einen unbestimmten Horror verweisen, ihn aber nicht kartographieren – wie es vor allem die zeitgenössische, dystopische Science-Fiction tut. Ich glaube, dass solche Texte geschrieben werden, weil gerade kaum jemand sein eigenes Leben so richtig versteht und man deshalb ins Abstrakte oder ausschliesslich Schreckliche, Gefühllose und Kalte ausweicht. Ich kenne keinen literarischen Text, in dem Freundschaften, wie sie heute geführt werden, genau und treffend dargestellt werden. Ich vermute, das liegt daran, dass man im Moment weder genau abschätzen noch beschreiben kann, inwieweit die Tatsache, dass man permanent idealisierten Bildern von anderen Menschen ausgesetzt ist, das Bewusstsein verändert hat und wie sich Beziehungen durch die Möglichkeit digitaler Kommunikation verändert haben.

Ich will versuchen, ein Beispiel von konkreter Einsamkeit zu geben und zu erklären, warum ich sie sehr schwer zu beschreiben finde. Jemand hat chronische Depressionen, nimmt deshalb Medikamente, macht eine Therapie, kapselt sich die meiste Zeit zu Hause ein, schaut Lifestyle-Youtubevideos und redet, falls überhaupt, nur über sich und seine Depressionen. Manchmal geht die Person auf Tinderdates und erzählt denen stundenlang, wie schlecht es ihr geht. Da kann jemand jederzeit mit quasi jedem Menschen auf der Welt kommunizieren und verreckt trotzdem fast vor Hilflosigkeit. Es ist nicht nur, dass ich die Struktur der Gesellschaft, die diese Art von Horror im Inneren eines Menschen produziert, nicht verstehe, ich verstehe NICHTS an der ganzen Geschichte.

Der Vorgang, der im Inneren abläuft, wenn man eine Person im Internet kennenlernt, auf welche Weise man sich eine Vorstellung von dieser Person macht und wie diese Projektion sich verändert, sobald man die Person im realen Leben trifft, das ist etwas, über das ich fast nichts weiss, obwohl ich den Prozess sogar selber schon erlebt habe. Ich weiss nicht, wie Antidepressiva das Bewusstsein verändern und welche Sprache Literatur dafür finden müsste, und ich glaube, dass das Verhältnis, das man zu einem Youtuber hat, den man followt, unendlich komplex ist.
Ich finde die Vorstellung, realistische Texte zu schreiben, beängstigend, weil ich das Gefühl habe, dafür erst tausend Dinge gleichzeitig verstanden haben zu müssen – und dass ein Mensch alleine das nicht schaffen kann. Meine Behauptung ist deshalb, dass Science-Fiction in der Lage ist, eine Laborbedingung herzustellen, in der zeitgenössische Beziehungen und Verhältnisse verfremdet und isoliert angeschaut werden könnten. Isoliert, weil sie durch phantastische Erfindungen einen direkten Zugang zur Figur ermöglichen – ähnlich wie der Spiegel Nerhegeb – und weil, wie im runden zentralisierten Raum, nicht alles gleichzeitg untersucht werden muss.

Im Moment kann ich das, was Science-Fiction meines Erachtens nach könnte, noch nicht, aber ich denke, dass es geht, wenn man es sehr lange versucht. Oder jemandem fällt was Besseres ein.

Lara Hajj Sleiman studierte am Schweizerischen Literaturinstitut, lebt aktuell in Leipzig.

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