Irmgard Keun zeigt im Laufe ihres literarischen Schaffens ein ständiges Engagement mit der zeitgenössischen Realität Deutschlands. Zeichen dessen ist die Platzierung der Romanfiktion in dieser unmittelbaren historischen Zeit, welche aus einer kritischen Perspektive heraus betrachtet wird, zwecks des Abbaus von Herrschaftssystemen. Bereits die ersten Romane ‹Gilgi – eine von uns› (1931) und ‹Das kunstseidene Mädchen› (1932), in denen der Kampf eines jungen Mädchens um seine Selbstverwirklichung geschildert wird, brachten Keun einen ausgezeichneten Ruhm. In beiden Werken überwiegt das Gender als Faktor für die Bestimmung des Lebens und der Entwicklung sowie der Möglichkeiten und der Ohnmacht der Figuren.

Ein Spätwerk, in dem sich Bitterkeit und Enttäuschung der Autorin widerspiegeln

Hitlers Machtergreifung bringt einen Orientierungswechsel in Keuns literarischer Arbeit. So tritt in ‹Nach Mitternacht› (1937), in dem der Alltag der deutschen Gesellschaft mit ihren Anpassungs- oder Rebellionsstrategien unter der NS-Herrschaft dargestellt wird, der politische bzw. ideologische Aspekt in den Vordergrund. Das Gender behält sein Gewicht, aber wird dem vorher genannten Faktor untergeordnet, um den Lebensgang der Figuren zu entscheiden. Einen komplexeren Blick bietet der Roman über das Leben im Exil, ‹Kind aller Länder› (1938), denn er enthält und verbindet mehrere Kriterien als Bedingungsfaktoren für die menschliche Existenz. Hier gewinnt der Genderaspekt die erste Rolle wieder und wird mit dem politischen und zum ersten Mal auch mit dem generationellen Parameter kombiniert, für die Aufstellung hierarchischer Strukturen in der Gesellschaft. Schließlich thematisiert der letzte (erhaltene) Roman Keuns ‹Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen› (1950), der uns im Folgenden beschäftigen wird, das Leben im Nachkriegsdeutschland. Dieser wird von mancher Kritik als ein Spätwerk betrachtet, in dem sich die Bitterkeit und die Enttäuschung der Autorin in dieser Phase ihres Lebens widerspiegeln soll.

In dem vorliegenden Artikel wollen wir drei Schlüsselfragen des Romans nachgehen, um das kritische Potential des Werkes bzw. Keuns Engagement mit der historischen Realität zu überprüfen. Dadurch soll ebenfalls das oben erwähnte negative Urteil revidiert werden. Diese drei Aspekte sind folgende: Erstens die Herausbildung und Entwicklung der Haupt- und Erzählfigur, Ferdinand Timpe, und insbesondere ihre Geschlechtscharakterisierung. Zweitens wird der Blick ausgeweitet, um einige der restlichen Personen zu untersuchen, gleichfalls mit besonderer Rücksicht auf die Gendermuster, die sie darstellen. Und drittens soll kurz beobachtet werden, wie die Genderklassifizierungen sich in der Machtorganisation der Gesellschaft auswirken.

Die theoretische Ausgangsposition für diese Forschungsfragen besteht aus drei Thesen, die hier stichpunktartig dargelegt werden: a) Die Entwicklung der Hauptfigur wird von dem Standpunkt aus beobachtet, dass die menschliche Identität ein soziales und kulturelles, und daher wechselhaftes Konstrukt ist. b) Das Gendermuster kann nicht auf eine Polarität von zwei einzelnen Gendermöglichkeiten reduziert werden. In der Tat bewirkt die Interaktion im Roman der Genderkategorie mit anderen wie der ideologischen Stellungnahme eine Vervielfältigung der Möglichkeiten, indem eher gleichdenkende als gleichgeschlechtliche Individuen sich identifiziert fühlen. Das Gendermuster, das in jeder ideologischen Gruppe vertreten wird, ist jeweils ein anderes. Und schließlich: c) Die Genderzuschreibung eines Individuums bestimmt dessen Autorität in der sozialen Sphäre. Es soll demnach untersucht werden, ob die Einführung von Elementen einer alternativen Ordnung Veränderungen in dieser Herrschaftsstruktur, die konventionell auf Genderbestimmungen basiert, mit sich bringt.

Die Rückkehr der männlichen Bevölkerung ruft einen sozialen Konflikt mit den Gendermodellen hervor

Wie schon erwähnt, findet die Romanhandlung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland statt. Die Frustration und die Niedergeschlagenheit sowie das materielle und moralische Elend aufgrund der Niederlage im Krieg gehen in eine Periode intensiven Wiederaufbaus über, die nach der Währungsreform 1948 und der Gründung der zwei deutschen Staaten 1949 ansetzt. Besonderes Kennzeichen dieser Phase ist die Verbindung von konservativen Elementen im ideologischen und moralischen Bereich mit liberalen im politischen und ökonomischen.

Paradoxerweise wird im moralischen Aspekt zur Rückkehr zu den traditionellen Werten aufgerufen, deren Autorität von den Klassikern festgelegt wird. Diese rückschrittliche Tendenz im Ideologischen findet ihren Niederschlag in den Verhaltensmustern der Gesellschaft, und insbesondere die Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale werden von diesem konventionellen Kanon betroffen.

Die Frauen werden aufgefordert, sich zurück in den domestischen Bereich einzusperren

Dieser Restaurationsphase oder sogenannten Adenauer-Ära geht eine Zeit voraus, die sich durch den Mangel an institutionellen Strukturen kennzeichnete. Wegen der damaligen Abwesenheit der Männer, die entweder an der Front gefallen oder in der Gefangenschaft waren, übernahmen die Frauen die Aufgabe des Wiederaufbaus, den Kampf um das Überleben und die Enttrümmerung der Städte. Die Rückkehr der männlichen Bevölkerung ruft jedoch einen sozialen Konflikt mit den Gendermodellen hervor, die von den neuen Machtinstanzen gefördert werden. Denn diese Frauen, die die maximale Entfaltung ihres Kampfpotentials und ihrer Organisationsfähigkeiten erlebt hatten, werden nun aufgefordert, sich zurück in den domestischen Bereich einzusperren. All diese Zeitmerkmale finden ihren literarischen Niederschlag im Roman Keuns. Die Hauptfigur Ferdinand Timpe, zurückgekehrt aus der Kriegsgefangenschaft, erzählt von einer Welt, in der es von Menschen wimmelt, die früher auf dem Schwarzmarkt ihr Brot verdienten und sich jetzt in einem fieberhaften Bereicherungsprozess befinden, auf nicht ganz legalen Wegen. Auch begegnet man da häufig ehemaligen Nazis, die eine leichte Entnazifizierung über sich ergehen lassen, die aber weiterhin auf ihre Beteiligung im vorigen Regime stolz sind. Der Erzähler beschreibt eine Gesellschaft, die eine Wiederaufstellung der patriarchalischen Struktur und der traditionellen bürgerlichen Werte sowie eine Wiederaufwertung der Familie als höchsten Exponenten dieses Wertsystems erlebt; und alles mit einer besessenen Verteidigung der Moral verziert. Jedoch dient dieses ethische System, auf das sich die Figuren berufen, eigentlich zur Verdeckung vom unmoralischen Handeln dieser selben Figuren.

Ferdinand ist empfindlich, schwach und ängstlich

Der Protagonist. Gendermerkmale und Entwicklung

Ferdinand ist die erste männliche Hauptfigur Keuns. Trotzdem bleibt er wie die Erzählerinnen der vorigen Romane gleichfalls ein Außenseiter. Auch wenn er in diesem Fall nicht wegen seines Geschlechts am Rande bleibt, so doch wegen seiner Transgression des etablierten Männlichkeitsideals. Ferdinand ist empfindlich, schwach und ängstlich, mit einem Sinn für das Gute und Böse, der sich unabhängig von der gängigen Doppelmoral erweist. Ganz im Gegenteil, diese wird von ihm kräftig kritisiert. Im Einklang mit seiner persönlichen Einstellung ist die Erzählperspektive auch die eines Aussenseiters. Trotzdem kann diese Figur, wie bei Keun üblich, auch nicht als ein harmonisches und in allen Bereichen kohärentes Wesen betrachtet werden. Tatsächlich zeigt Ferdinand seine Bedingtheit durch externe Einflüsse, indem er mehrmals ein Verhalten aufweist, das auf den traditionellen androkratischen Kanon zurückgeht. Dies ist zum Beispiel der Fall, als er sich auf die Frauen bezieht aus einer Position angeblicher geistiger Überlegenheit, die eigentlich nur als Machtinstrument dient: «Ich kam mir etwas schäbig vor. Es ist so leicht, die lebendigen quellenden Gedanken einer Frau mit wirkungsvollen Fremdworten und genormten philosophischen Begriffen totzuschlagen.» Außer diesen Rückfällen in die Besserwisserei ist Ferdinands allgemeine Einstellung diejenige eines Unangepassten, der den Materialismus und die Heuchelei der ihn umgebenden Gesellschaft ablehnt.

Ein Mann für unnormale Zeiten

Nachkriegszeit und Restauration in der Gesellschaft des Romans: Orthodoxie und Heterodoxie

Luise beschreibt ihren Verlobten Ferdinand als einen «Mann für unnormale Zeiten», was sie moralisch berechtigt, ihn zu verlassen, da sie sich nun wieder in einer normalen Zeit befinden. Ferdinand, mit seinem Mangel an Agressivität und Strebertum sowie mit seiner Ablehnung der restaurativen Mentalität Luises, ist tatsächlich als eine Figur einzuordnen, die ins herrschende System nicht passt. Ihm gegenüber befinden sich die Menschen, die diese Ordnung unterstützen und von ihr profitieren, insbesondere skrupellose Geschäftsmänner und entnazifizierte Faschisten. Die weiblichen Anhänger dieses traditionellen Ideologiekanons, wie die Verlobte Ferdinands, übernehmen das Weiblichkeitsmodell, dessen Lebensfunktionen sich auf die Mutterschaft und die Familienpflege beschränken. Sie streben aber gleichzeitig nach sozialen und materiellen Zielen, die von dem Familienoberhaupt erreicht werden sollen. Im Roman finden sich auch Beispiele der problembeladenen Rückkehr zum traditionellen Modell von Seiten der Frauen, die in der frühen Nachkriegszeit ums Überleben gekämpft haben. Das ist der Fall von Luises Mutter, der unterwürfigen Ehefrau, die die perfekte Hausfrau werden möchte, die aber in aufständischen Augenblicken ihre früheren und nun unterdrückten Kräfte durchblicken lässt. Der Widerspruch in dieser Figur wird vom Erzähler kommentiert: «Eine halb verwelkte Anemone in Kinderhand ist ein Tiger im Vergleich zu meiner Schwiegermutter in der Hand des Alltagslebens. Doch ich sehe wieder, daß in der zerdrückten, zarten Frau Kräfte schlummern, die durch Ausnahmezustände und Bowlencocktails zu prächtigem Erwachen gebracht werden können.»

Kluft zwischen der Moral und dem objektiven Konzept vom Guten und Bösen

Der radikalste Kontrapunkt zu diesen weiblichen Figuren ist Johanna, angebliche Cousine des Protagonisten und die rebellischste und unkonventionellste Person des Werks. Genauso wie andere junge Frauen lebt sie selbständig von ihrem Job und besitzt eine intellektuelle Bildung, die sie mit dem Niveau jedes Mannes gleichsetzt. So finden wir in diesem Fall nicht mehr den Unterschied zwischen Geschlechtern und auch nicht das Wissen als exklusives Privileg der Männer, die die früheren Romane Keuns schildern. Die Hauptfunktion der Figur von Johanna ist, im Laufe des Romans die härteste und kohärenteste Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral zu üben. Solche Kritik gipfelt gegen Romanende in einer Darlegung der bestehenden Kluft zwischen der erwähnten Moral und dem objektiven Konzept vom Guten und Bösen. Es handelt sich um die Szene, in der Luise die Verlobung mit Ferdinand bricht mit der Entschuldigung der Rückkehr zu normalen Zeiten. Das Mädchen ersetzt dann den Protagonisten durch einen Mann, der sich als treu zu den restaurativen Prinzipien von Strebertum und Ehrgeiz erweist. Als Antagonistin des Archetips, die Luise verkörpert, lehnt Johanna diese moralische Begründung ab und bemerkt in Bezug auf Luises neuen Freund: «Normale Zeiten gibt’s doch nicht (…) aber ich kenne ihn von früher her, er hat mir mal Kacheln besorgt und mich ganz gemein reingelegt.»

Die Verkörperung des gemäss dem herrschenden Kanon neuen Männlichkeitsideals enthüllt sich also in reinen ethischen Massstäben als eine bösartige Person. Johannas Deautorisierung der neuen Norm erfolgt aus der Gegenüberstellung dieser Doppelmoral mit einer Auffassung von Gutem und Bösem, die auf konkreten Fällen fusst. Auf diese Art und Weise wird der Scheincharakter dieser Moral bloßgestellt, welche eigentlich materielle oder soziale Interessen verdeckt.

Den Mann zu ertragen bedeute zuviel Arbeit für eine einzige Frau

Johannas Treue zu den oben erwähnten Prinzipien kontrastiert mit den augenblicklichen Rückfällen Ferdinands in die Versuchungen der androkratischen Norm. Als Beispiel dafür haben wir bereits dargelegt, wie der Protagonist zur Strategie der linguistischen Raffinesse greift, um seine Ansprechpartnerin zum Schweigen zu bringen, aber diese lässt sich nicht von ihm beeindrucken. Ferdinands Versuch, eine Herrschaftsstruktur aufzustellen, scheitert an der Haltung Johannas. Ihre Bildung würde ihr erlauben, das gleiche argumentative Niveau des Freundes zu halten, aber ihre Redlichkeit und ihren Anspruch auf eine Wahrheit ohne Verzerrungen verursachen, dass sie diese Art Diskurs abweist.

Laura, die Mutter Ferdinands, die, den Frieden und die Heimat verkörpert, stellt außerdem die höchste Passivität dar. Jedes Mal, dass ihr die Realität problematisch oder unangenehm wird, schläft sie ein. Trotzdem wird diese Neigung zur Flucht nicht negativ als ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit dargestellt, sondern eher als ein wirkungsvoller Weg, um mit den Schwierigkeiten umzugehen. So entstehen und vergehen diese von selbst vor der Gleichgültigkeit Lauras. Das erweckt den Eindruck, dass solche Schwierigkeiten eigentlich Ergebnis der heftigen Hetzerei der Nachkriegsgesellschaft sind, und ihnen gegenüber gewährt diese Frauenfigur die Ruhe, die draußen fehlt. Trotz einer so weiblichen Passivität fungiert auch Laura als eine Figur, die den Genderkanon völlig transgrediert. So ist ihre Mutterschaft eigentlich das Ergebnis ihrer Faulheit, um etwas gegen ihre wiederholten Schwangerschaftszustände zu unternehmen, nicht das Resultat einer natürlichen Bestimmung. Gleichfalls spielt sie ihre Rolle der Ehefrau ganz gegen die Konvention: Sie erlebt reglos die Wutanfälle ihres Ehemannes und nimmt dessen Liebhaberinnen bei ihr zu Hause auf, welche am Ende zu Freundinnen der ganzen Familie werden. Die Untreue ihres Partners ist für sie ein Segen, denn, wie sie behauptet, den Mann zu ertragen bedeute zuviel Arbeit für eine einzige Frau.

Gender und Macht

Die hier ausgewählten und analysierten Figuren sind alle Frauen, da bei ihnen die Unterschiede zwischen dem traditionellen und dem liberalen Kanon viel anschaulicher sind, und auch, weil sie als Figuren in der Romanhandlung viel mehr Gewicht tragen. Trotzdem lassen sich im Allgemeinen die Elemente, die ihre Identität sowohl im ideologischen als auch im generischen Aspekt bestimmen, auf die männlichen Personen übertragen. Das Auftreten von Personen beider Geschlechter, die zu moralischen oder materiellen Opfern der restaurativen Norm werden, bestätigt unsere Interpretation des Romans als eine Kritik am herrschenden System, die andererseits durch den Romanschluss nochmals unterstützt wird. Am Ende seines Prozesses des Akzeptierens der Realität und der Verantwortung ihr gegenüber entfernt sich Ferdinand von Luise, die den Kanon von Materialismus und Lüge verkörpert. Dagegen findet er Unterstützung und Ruhe bei drei weiblichen Figuren, die zur Widerstands- oder Heterodoxiegruppe gehören. So genießt er die Solidarität und die interessenlose Freundschaft bei zwei Freundinnen und den bedingungslosen und ruhigen Empfang Lauras. Die Lebenseinstellung des Protagonisten entwickelt sich also hin zu einer humanistischen und engagierten.

Wir können die Interpretation eines enttäuschten und frustrierten Tons nicht akzeptieren

Wie anhand dieser und anderer Merkmale im Werk festgestellt werden kann, weist Keun in ihrem letzten Roman die ethischen und ideologischen Normen zurück, die auch nach dem Krieg die Freiheit der Personen und ganz besonders der Frauen weiterhin einschränken, und verteidigt immer noch die Wahrheit und die ehrliche Zuneigung als Grundlage für jede menschliche Beziehung. Gerade ein soziales Porträt so reich an Figuren, die das restaurative System transgredieren, wie es hier der Fall ist, zeigt, dass Keuns Engagement so stark wie früher weiterbesteht, und dass trotz ihrer biographischen Schwierigkeiten in ihrer literarischen Botschaft die rebellische Haltung immer noch führend ist. Deshalb können wir die Interpretation eines enttäuschten und frustrierten Tons im Roman nicht akzeptieren. Die Übertragung biographischer Elemente auf Keuns Werk, häufig festgestellt in Studien, die sich mit diesem auseinandersetzen, finden wir unpassend, denn sie verhindert eine strenge Analyse des Textes an sich, die die formale Qualität und den inhaltlichen Reichtum rein wissenschaftlich untersucht.

Carme Bescansa ist Dozentin der Germanistik an der Universität des Baskenlandes. Sie promovierte zum Thema «Gender- und Machttransgression im Romanwerk Irmgard Keuns».
Dieser Artikel erschien 2003 in einer längeren Version in der Revista de Filología Alemana 11.

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