Ende Mai 1953 überquerte mein Grossvater die Grenze von Italien in die Schweiz. Wo der Grenzübertritt stattfand, wissen wir nicht mit Sicherheit. Chiasso, vermutet mein Vater, und von dort aus nach Biel. Inzwischen ist mein Grossvater verstorben, und die Akten der Fremdenpolizei lassen sich bisher nicht finden. Wahrscheinlich wurden sie vernichtet, wie die meisten Akten italienischer Gastarbeiter*innen.

2002 ging mein Grossvater zurück nach Sizilien. Damals war ich sieben Jahre alt. Darauf folgten viele Reisen mit Auto, Zug und Fähre in den Norden Siziliens. Ich erinnere mich an die Aufregung kurz vor der Grenzüberfahrt und die Erleichterung danach. Heute kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Erinnerungen aus der Zeit vor oder nach 2004, als die Schweiz dem Schengener-Abkommen beitrat, stammen. 2008 wurden schliesslich die Personenkontrollen an den Grenzen aufgehoben. Nicht in ganz Europa: Bei einer Reise nach Kroatien im Jahr 2012 erlebte ich bisher die längste Wartezeit an einer europäischen Grenze: Kroatien gehört nicht zum Schengen-Raum.

Auf einem gemeinsamen Spaziergang zur Grenze erzähle ich meinem Mitbewohner von den damaligen Italienreisen. Er fragt: «Denkst du nicht, dass dies einfach die allgemeine Aufregung war, vor einem Ort mit Menschen in Uniformen?» Er, 1999 geboren, hat keine eigenen Erinnerungen an kontrollierte Grenzen innerhalb Europas vor Corona.

Die Grenzschilder fallen manchen von uns noch auf, andere sehen sie schon lange nicht mehr.

Mit ihm und drei weiteren Mitbewohner*innen lebe ich heute in einem kleinen Dorf im Elsass. Zu drei Seiten umgeben von Schweizer Grenzen und zu einer Seite von Frankreich. Wenn ich mit meinen Mitbewohner*innen über unser Leben an der Grenze spreche, wird eines klar: Unsere Lebensmittelpunkte sind in Basel und der Schweiz. Doch ein Haus mit Garten könnten wir uns dort niemals leisten. Die Grenze überqueren wir fast täglich, auch wenn nur für einen Spaziergang. Die Grenzschilder fallen manchen von uns noch auf, andere sehen sie schon lange nicht mehr. Und manchmal fühlt es sich an, als ob wir weder in der Schweiz noch in Frankreich leben würden. «Als wäre ich die ganze Zeit auf der Grenze», beschreibt ein Mitbewohner das Gefühl. Um sich die Absurdität der Grenzlinie im Bewusstsein zu behalten, hat er sich vorgenommen, auf der Schweizer Seite immer «Grüezi» und auf der französischen immer «Bonjour» oder «Bonsoir» zu sagen. Ich ertappe mich dabei, es genauso zu machen.

Mein Mitbewohner und ich erreichen das Schweizer Grenzschild: «Grenzübertritt erlaubt: Mit anerkannten und gültigen Reisedokumenten. Nur mit verzollten Waren und/oder persönlichen Gebrauchsgegenständen.» Ein französisches Schild gibt es nicht, und obwohl Frankreichs Grenzen aktuell zu sind, ist hier alles offen. Keine Grenzkontrollen. Gültige Dokumente haben wir nicht dabei, Waren auch nicht.

Noch vor einem Jahr wäre auf diesem Feldweg der Grenzübertritt undenkbar gewesen. Als die Schweiz wegen Corona die Grenzen schloss, gingen auch die grünen Grenzen zu. Genau hier stand ein kleines Holzhäuschen mit davor postiertem Schweizer Militär. Der Weg war mit einem weiss-roten Band abgesperrt.

Damals veränderte sich für mich das Gefühl des grenzenlosen Europas schlagartig. Noch im Februar war ich mit dem Zug quer durch Frankreich und Spanien bis nach Lissabon gereist – hinweg über offene Grenzen. Sieben Monate wollte ich da bleiben für mein Studium. Einen Monat nach meiner Ankunft schlossen erst die Universitäten und dann die Grenzen.

Mitte März 2020 planten auch meine damaligen Mitbewohner*innen aus der Schweiz eine Reise über die Grenzen Richtung Osten. Einen Tag vor der geplanten Abreise bekam ich die Nachricht: «wir werden unsere reise nicht antreten können. eine reise, die wir monatelang geplant haben, worauf wir hart hingearbeitet haben, worauf wir uns emotional vorbereitet haben.» Und kurz darauf der Lichtblick: «Okay krass, wir können nach SCHWEDEN, mit Freund*innen meiner Mama, workaway mässig. Morgen geht es los». Kurzerhand hatten sie umgepackt und frühmorgens passierten sie die Grenze nach Deutschland. Nur wenige Stunden, bevor diese schlossen. Mein erstes Mitfiebern, ob ein Grenzübertritt überhaupt klappen wird. Kurz darauf fiel meine Entscheidung: Ich fliege zurück in die Schweiz. Züge fuhren damals schon keine mehr. Zu viele Länder und Grenzen, die es zu passieren gäbe von Portugal bis in die Schweiz.

Plötzlich waren die Grenzen omnipräsent – und ihre Willkür offenbart.

In den ersten Tagen nach meiner Ankunft in Basel konnte ich beobachten, wie die grünen Grenzen geschlossen wurden. Erst machte ich noch meine übliche Joggingroute durch den Wald, bei dem ich heute lebe. Kurz darauf war ein Teil abgeriegelt. Ich wusste bis dahin nicht mal, welche Teile zur Schweiz und welche zu Frankreich gehörten. Zum Leben an den Grenzen zu Deutschland und Frankreich gehörten Grenzschilder und Zölle dazu. Manchmal sind sie mir aufgefallen, meist aber nicht. Plötzlich waren die Grenzen omnipräsent – und ihre Willkür offenbart. Feldwege wurden mit Betonsockeln, Gittern und Absperrband versperrt. Die Felder daneben blieben offen, so waren Grenzübertritte noch immer leicht möglich. Nur an gewissen Grenzen gab es verschärfte Militärkontrollen.

Ich spazierte den auf einmal sichtbar gemachten Linien entlang. Für ein Projekt an der Lissaboner Uni betrachtete und dokumentierte ich die geschlossenen und offenen Grenzübergänge und dachte dabei an Menschen auf der Flucht an der Grenze zu Griechenland. Während ich mich hier an den quasi symbolischen Absperrungen der Schweiz vergnügte, verhindern das griechische Militär und Frontex mit menschenrechtsverletzenden Mitteln die Grenzübertritte von Flüchtenden. Und mit Frontex auch die Schweiz: In der Aargauer Zeitung vom Dezember 2019 lese ich von 14 Millionen Franken, mit denen die Schweiz die europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache im Jahr 2019 unterstützt. Um Mitglied des Schengen-Raums bleiben zu können, muss die Schweiz die Beiträge auf bis zu 75 Millionen Franken pro Jahr erhöhen und sich künftig aktiv an Frontex-Einsätzen beteiligen. Massnahmen, die laut Bundesrat auch der Schweiz dienen, um den Migrationstransit durch das Land zu verringern. Die Aktivistin und Autorin Harsha Walia beschreibt solche Taktiken als eine Verschiebung und Auslagerung von Grenzen. Es sind Massnahmen, um die menschengemachten Linien um die ebenfalls von Menschen gemachten Nationalstaaten zu verteidigen, noch bevor die vermeintliche Gefahr vor der eigenen Landesgrenze steht.

«Kannst du die Konturen deines Landes zeichnen?» fragt ein Geflüchteter in Ilja Trojanows Roman «Nach der Flucht». Er fährt fort: «Ich kann sie derart genau skizzieren, würdest du meine Zeichnung in deinen Atlas, meine Karte auf das Abbild in deinem Buch legen, es würde aussehen, als hätte ich mein Land abgepaust.»

Heute kenne auch ich die Grenzen rund um Basel, viel genauer als noch vor einem Jahr. Nachzeichnen könnte ich sie wohl nicht, aber ich hätte nie gedacht, dass Grenzen auf einmal so viel Präsenz in meinem Leben und Denken einnehmen würden.

Als Grenzgängerin spüre ich den grössten Unterschied zum Leben in der Schweiz derzeit mit den Corona-Massnahmen. In Frankreich gilt die Sperrstunde von 19 bis 6 Uhr früh. Kontrollen gibt es kaum, doch wenn, dann drohen saftige Bussen bis zu knapp 4000 Euro. Auch mein Mitbewohner meint: «Besonders bewusst wird mir die Grenze, wenn ich wegen der Sperrstunde früher aus dem Training in Basel muss. Da wird deutlich, wie sich unser Leben nun von den anderen, die in der Schweiz leben, unterscheidet». Und meine Mitbewohnerin fügt hinzu: «Wenn es dann doch mal ein paar Minuten später wird, fühlt es sich an wie beim Schwarzfahren: Ich weiss, die Wahrscheinlichkeit, dass ich erwischt werde, ist verschwindend gering, aber wenn’s mich trifft, dann wird’s teuer.»

Die Massnahmen scheinen hier auf dem Land manchmal absurd und Corona ganz weit weg. Gewisse Dinge sind dadurch umständlicher, bürokratischer und manchmal aufregender, als sie ohne Corona wären. So erzählt uns beispielsweise die Nachbarin, wie sich das Pizzabestellen eines Abends wie eine hoch illegale Drogenübergabe anfühlte: Da der Kurier nur bis zum Zoll durfte, musste sie die Pizza dort abholen. «Kommt jetzt die Polizei?» fragte der Kurier. «Ich hoffe nicht», antwortete die Nachbarin.

Selbst jetzt, wo für uns die Grenzen omnipräsent sind, schränken sie uns kaum ein. Ein grosses Privileg, wie mir einmal mehr im Gespräch mit einem Freund bewusst wird. Er erzählt, dass er den Garten einer Seelsorgeorganisation für geflüchtete Menschen bewirtschaftet. Die Geflüchteten dürfen sich nicht um den Garten kümmern, denn mitten durch diesen zieht sich die deutsche Grenze. Für sie ist sogar der Grenzübertritt innerhalb des Gartens verboten.

Willkommen waren ausschliesslich die Arbeitsfähigen, die die damals florierende Schweizer Wirtschaft weiter ankurbeln sollten.

Diese Illegalisierung von Bewegung und Menschen basiert auf einem rassistischen, klassistischen, heteropatriarchalen und ableistischen System, das Menschen aufgrund festgelegter Merkmale in mehr oder weniger erwünschte «Gäste» einteilt. So erfahren etwa Expats in der Schweiz eine ganz andere Behandlung als weniger begüterte Geflüchtete. Das System ist dasselbe wie damals, vor dem Europa der offenen Grenzen, als mein Grossvater aus Italien in die Schweiz kam. Willkommen waren ausschliesslich die Arbeitsfähigen, die die damals florierende Schweizer Wirtschaft weiter ankurbeln sollten. Mit Gesundheitskontrollen an den Grenzen wurde selektioniert; grundsätzlich unerwünscht und also verboten war der Familiennachzug von nicht erwerbstätigen Frauen und Kindern. Selbst Eltern, die beide in der Schweiz arbeiteten, mussten ihre Kinder offiziell ännet der Grenze lassen. Viele dieser Kinder wuchsen so im Versteckten auf, in ständiger Angst, entdeckt und ausgewiesen zu werden.

«Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen» schrieb damals Max Frisch. Viele von ihnen sind geblieben. Heute werden sie als «integriert» dargestellt, während grosse Teile ihrer Geschichte systematisch verschwiegen werden. Und ich frage mich, wie vielem Unrecht wir entgegenwirken könnten, gäbe es eine kollektive Aufarbeitung ebensolcher Geschichten.

Noemi Parisi (sie/ihre) studiert visuelle Kommunikation und Bildforschung. Sie setzt sich besonders mit Fragen der Macht von Sprachen auseinander.

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