Bevor Frauen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Vereine gründen, um das Stimmrecht für sich einzufordern, ist etwas anderes dringlicher. Die Frauenrechtlerin Julie von May bringt es 1872 mit Blick auf die anstehende Totalrevision der Bundesverfassung auf den Punkt: «die unbedingte Gleichstellung der Frau mit dem Manne in allen sozialen und privatrechtlichen Verhältnissen». Ausformuliert heisst das: gleiche Ausbildung, gleicher Lohn bei gleicher Arbeit, gleiches Erbrecht, gleiches Eigentums-, Verwaltungs- und Verfügungsrecht, Vermögensunabhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann, Gleichheit im ehelichen Erbrecht und gleiche elterliche Rechte für die Mütter. Die «politischen Rechte» nimmt von May explizit aus. Stattdessen fordert sie: «Alles was uns fehlt und […] Alles was uns bis jetzt verweigert worden ist.»

In einem gewissen Sinn ging es hier tatsächlich um alles. Ohne zivile – also ökonomische und soziale – Rechte wurden die Frauen zu Wesen erklärt, die ohne Männer nichts sind, weil sie nicht mal über ihr Eigenes verfügten. Nicht über ihre Güter, nicht über ihr Handeln. Von hier ging alles aus, und hier war alles verkehrt. Denn Frauen trugen ja doch bei zum Lebensunterhalt einer Familie, als Heimarbeiterinnen, bestritten ihn manchmal auch allein, als Ledige oder Witwen, sie erbten Bauerngüter, betrieben Gewerbe. Überall war ihre Arbeit und waren ihre Vermögen die ihren, und doch waren sie es nicht: Für Verheiratete handelte der Ehemann, für Unverheiratete ein behördlicher Vormund. Bereits 1846 und 1847 haben Bernerinnen zwei Petitionen zur Abschaffung der sogenannten Geschlechtsbeistandschaft vorgebracht, die erste zurückhaltend, die zweite, aus dem Emmental, spricht von «Freiheit» und «Emancipation». Sie erhielten Recht, andere Kantone folgten, aber erst 1881 verfügte der Bund für alle Kantone die «persönliche Handlungsfähigkeit» der unverheirateten Frauen.

Das Bundesparlament entscheidet: Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.

Nur der unverheirateten. Den verheirateten Frauen bescheidet Eugen Huber, der Verfasser des Schweizerische Zivilgesetzbuches, das 1907 verabschiedet und 1912 in Kraft treten wird, folgendes: Sie sollen zwar wie die ledigen Frauen «handlungsfähig sein, aber gewisse Handlungen nicht vornehmen dürfen». Vor allem ihre Erwerbstätigkeit untersteht der Einwilligung des Ehemannes. Fast überall in Europa werden zu diesem Zeitpunkt neue Privatrechtskodifikationen geschaffen oder bestehende revidiert – und die Frauen wissen, wo es um alles geht. Sie lassen sich ausbilden in den Rechtswissenschaften, mischen sich ein, schreiben und argumentieren. In der Schweiz verlangen sie Einsitz in die vorbereitende Kommission, wo manche Mitglieder schon Hubers Entwurf zum neuen Zivilgesetzbuch «zu feministisch» finden. Man lässt die Frauen nicht an den Tisch, und am Schluss entscheidet das Bundesparlament, zusammengesetzt aus Männern. Für die Ehe gilt bis auf Weiteres: «Der Ehemann ist das Haupt der Gemeinschaft.»

Arbeiterinnen sind sie alle

Aber die Frauen wirtschaften weiter, die verheirateten und die unverheirateten, gegen Lohn oder unbezahlt, ausgebildet oder angelehrt. Und manchmal legen sie die Arbeit nieder. 59 Zigarrenarbeiterinnen sind es in Yverdon, vom 23. Mai bis zum 1. Juni 1907. Sieben von ihnen haben eine Gewerkschaftssektion gegründet, werden entlassen, da treten die anderen in den Streik. Erst als sie auf Entschädigung aus der Streikkasse verzichten, nimmt die Gewerkschaft der Lebens- und Genussmittelarbeiter sie auf. Währenddessen gewährt der Fabrikdirektor der nun dringend benötigten männlichen Belegschaft genau die Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, welche die Arbeiterinnen verlangen.

Ausserdem, heisst es, habe er die städtische Krippe angehalten, die Kinder der Streikenden nach Hause zu schicken. So können die Frauen keine Arbeit anderswo annehmen. «Viermal Sklavin ist heute die in Abhängigkeit arbeitende Mutter», steht in der Zeitung der Arbeiterinnen. Vier Mal: Sklavin des Unternehmers (der sie aussperrt und ihr den Erwerb an ihrem Wohnort verunmöglicht), Sklavin des Mannes (der über den Wohnsitz der Familie verfügt und sie fernhält vom Erwerb andernorts), Sklavin des Kindes (das ihre stete Aufmerksamkeit verlangt und sie an die Wohnung bindet), Sklavin des Staates (der Steuern von ihr fordert – «und Soldaten! und der diese Soldaten, ihre eigenen Kinder, mit ihrem eigenen gesteuerten Geld gegen sie führt, wenn die Frau aufsteht für ihr Recht»). Vier Mal verfügt sie nicht über sich, ist eine Festgesetzte in Raum und Zeit. Wie alles miteinander zusammenhängt, wird im Fieber der Ereignisse deutlich.

Was sie tun, ist selbstverständlicher Teil des Überlebens und guten Lebens von Familien. Für manche dieser Tätigkeiten erhalten sie Lohn, für viele aber nicht.

Manchmal legen sie die Arbeit nieder, und manchmal werfen sie auf dem Markt Gemüsekörbe um. Wem, wenn nicht ihnen, fällt auf, wie die Lebensmittel teurer werden, in den Kriegsjahren. Zu teuer für die in den Städten, die ohnehin zu wenig haben. Sie kochen und verwalten das Familienbudget, sie kennen und nehmen das Mass der Preise. 1916 geht es nicht mehr. Sie werfen die Körbe um, setzen die Preise selbst fest, den Erlös übergeben sie den Marktfrauen. 1918 kommt es zu «Hungerdemonstrationen»; jetzt unterstützen die bürgerlichen Frauen die Frauen aus der Arbeiterbewegung. Dass sie Töpfe und hungrige Mägen füllen müssen, verbindet sie. Auch mit den Bäuerinnen. Im Broyetal gründen 39 Frauen die Association des productrices de Moudon, um den Zwischenhandel auszuschalten, der die Dinge verteuert. Es gilt, Fugen zu schliessen zwischen Produktion, Verteilung und Verbrauch. Vielleicht auch: Ketten aus Frauen zu bilden, einen anderen Kreislauf einzurichten. Die Bäuerinnen aus Moudon werden verlacht, ein Leserbrief nennt sie «ces dames qui produisent». Als wäre Widersinn, was man nicht wahrhaben will.

Wo wäre die Volkswirtschaft ohne die Arbeit der Frauen?

Denn das verbindet fast alle: Was die Frauen tun, in der Fabrik wie an den Küchentischen – die zum Strohflechten so gut sind wie zum Gemüserüsten, zum Beaufsichtigen der Hausaufgaben der Kinder so gut wie zum Nachführen der Rechnungsbücher – was sie tun, ist selbstverständlicher Teil des Überlebens und guten Lebens von Familien. Für manche dieser Tätigkeiten erhalten sie Lohn, für viele aber nicht. Nötig sind alle. «Deshalb», schreibt die Ärztin und Frauenrechtlerin Betty Farbstein 1910, «sollte auch die Hausfrau Anspruch haben auf eine angemessene Entschädigung, über die sie nach Gutdünken verfügen kann». Stattdessen verschwindet das alles mehr und mehr hinter dem Trompe-l’OEil des männlichen «Alleinernährers». In der Statistik werden die Frauen zu «Abhängigen» oder «Ernährten».

Nichts könnte falscher sein. Sofort wird Einspruch eingelegt: Wo wäre die Volkswirtschaft ohne die Arbeit der Frauen? 1928 organisieren ihre Verbände und Vereine eine «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», die sie 1958 wiederholen werden. Und damit nicht alles und jedes über sie behauptet werden kann, nehmen sie das Argumentieren mit Zahlen in die eigenen Hände, rechnen, deuten und erstellen Studien. Es gibt die Arbeit der Frauen, sagt Margarita Schwarz-Gagg, erste Frau in der eidgenössischen Fabrikkommission, und sie ist normal. Oder? «Die Frauenarbeit hat kein Mass und keine Zeit», hatte Betty Farbstein 1910 geschrieben.

Was zu tun war, und wie es kam

Währenddessen werden nun, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für das Frauenstimmrecht Vorstösse eingereicht, in Gemeinden und Kantonsparlamenten. Kantonale Volksinitiativen werden gestartet und Petitionen auf Bundesebene; im Nationalrat formuliert man Motionen und verkleinert sie zu Postulaten. Der Bundesrat steckt sie in die Schublade. Weltkriege kommen dazwischen, bald existiert das Frauenstimmrecht rund um die Schweiz, auf der halben Welt. Nicht überall ist es bedingungslos, mancherorts wird es an eine bestimmte Hautfarbe oder an Besitz geknüpft. Die Schweizerinnen haben für das Frauenstimmrecht Vereine und einen Verband gegründet. Im Jahr 1959 wird dieser fünfzig Jahre alt, und 66,9 Prozent des Männerstimmvolks verwerfen das Frauenstimmrecht in der ersten eidgenössischen Abstimmung.

Längst sind die Frauen zu diesem Zeitpunkt «Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht». Sie wissen sich zu bewegen in den Vor- und Umhöfen der Macht, in Vernehmlassungen und Kommissionen. Schalten sich ein, wenn Verfassungen geschrieben und revidiert, Gesetze erlassen werden. Aber das ist nicht alles. Jenseits vom Getriebe und Gebälk der demokratischen Institutionen liegt ein Alltag, der mit dem Politischen verknüpft ist. Das wird zwar geleugnet. Doch es liegt auf der Hand. Lebensmittel und Bücher gehen durch Hände, Ideen setzen sich in Köpfen fest, der Lohn wird gezählt und mit der geleisteten Arbeit verglichen, auch mit der, die in den Knochen steckt, nicht vergütet wird und doch alles am Leben erhält. In jedem Moment steht auf dem Spiel, wie Güter und Anerkennung verteilt sind, wer wohin gehört, wer bleiben oder gehen kann und Anteil woran hat.

Man sagt, Anliegen von Frauen seien nachrangig, ihr Menschsein anders, ihre Geschichte eine Fussnote.

Deshalb ist vieles Protest, und seine Formen sind vielfältig: laut und lautlos, spontan und von langer Hand vorbereitet, handgreiflich oder ausgesprochen. Leiser Spott geht immer. Gesten und Worte reihen sich aneinander, knüpfen ein Gewebe aus Momenten; augenblicklich kann aus Alltag Ereignis werden, aus Routine Empörung und Forderung. Nichts schlummert, jederzeit kann die Sicht auf die Dinge kippen. Es fängt immer dort an, wo es eine zu sich selbst oder einer anderen sagt: Wie die Verhältnisse liegen und warum sie anders sein müssten – «aus Gründen der Gerechtigkeit», wie die Stimmrechtskämpferinnen argumentieren. Manchmal sind sie eine Handvoll, manchmal viele, die ausmachen, wie ein Faden verläuft. Sie ziehen daran; bei Lichte betrachtet ist er rot.

Wenn sie sich zusammenschliessen, ist es nie für immer. Es ist für den Tag, das Jahr, für eine bestimmte Forderung oder eine Stunde. Nie, wenn sie sich zusammenschliessen, sind alle dabei, manchmal nicht mal viele, oft sind sie sich uneinig. Auch sie unterscheiden und teilen; die einen vergessen die anderen, oft die, die ihnen fremd sind. Die Frauen in den herrschaftlichen Wohnungen wünschen sich Dienstbotinnen, denen sie weniger Freiheit zutrauen als sich selbst, deren Arbeit sie geringer schätzen als die eigene. Die einen erklären sich zu Expertinnen und halten andere Frauen für schlechte Mütter, solche, die nicht verheiratet sind, oder die es an keinem Wohnort hält. Manche wähnen andere illoyal, mehr ihrem Stand und ihrer Klasse verpflichtet als der gemeinsamen Sache. Manchmal misstrauen sie einander. Und manchmal überwinden sie, was sie trennt, nicht um des Überwindens willen, sondern weil sie einen Faden zu fassen kriegen, der durch alles hindurchläuft.

Man sagt, ihre Anliegen seien nachrangig, ihr Menschsein anders, ihre Geschichte eine Fussnote. Adams Rippe, der Mensch und sein Weib. Nichts ist weniger wahr. Frauen sind dahin versetzt, von wo aus die Sicht klar ist: Der angebliche Mensch ist nur ein Mann – und alles, was sich ganz und allgemein gibt, ist nur halb und partikular. Der Schleier reisst, und es geht ganz einfach. Wenn ihnen die Menschenrechte verweigert werden, erfinden sie die Frauenrechte. Wenn Teilhabe ans Volk geknüpft wird, ruft sich das Frauenvolk ins Leben. Wenn man ihnen einen Platz verweigert, erfinden sie ein neues Gefüge. Und wenn man behauptet, sie hätten keine Vergangenheit, schreiben sie die Geschichte neu.

Sie seien unfähig zur Politik, wurde über die Frauen gesagt. So sind sie zu politischen Subjekten geworden.

Caroline Arni forscht und lehrt in Sozial- und Kulturgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Schweizer Geschichte. Sie ist Professorin an der Universität Basel.
Vorliegender Text ist ein überarbeiteter Auszug aus «Nichts versprochen, alles erkämpft.» in: «Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte.» Denise Schmid (Hg.). Hier und Jetzt, Zürich 2020.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert