Der Schauspieler Sebastian Krähenbühl hat seine Kindheit in Nepal verbracht und ist nun, viele Jahre später, dorthin zurückgekehrt. Aus den Bildern, Tönen und Texten, die er von dieser Reise mitgebracht hat, kreierte er ein Stück, das die Frage umkreist,  ob es Orte gibt, an die wir hingehören. «Nepal» feiert am 4. Dezember im Fabriktheater Premiere.

Lukas Maisel: Du bist 1974 in Zürich geboren, hast aber dann, in den Jahren von 1977-82, in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals, gelebt. Wie ist es dazu gekommen?

Sebastian Krähenbühl: Mein Vater war Ingenieur und wusste nicht recht, was er tun sollte. Ein oder zwei Sommer waren meine Eltern auf der Alp, darauf arbeitete mein Vater in einem Verkehrsplanungsbüro. Als er dann ein grösseres Projekt in Frankreich realisieren wollte, war meine Mutter dagegen. Sie war es, die ihm dann dieses Inserat auf den Tisch gelegt hat; es wurde ein Leiter für ein Hängebrückenprojekt in Nepal gesucht. Danach ging es recht schnell, innerhalb eines halben Jahres übersiedelten wir nach Nepal.

Kannst du sagen, wie dich diese frühe Kindheit in Nepal geprägt hat?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Irgendwie geistert dieses Kathmandu immer herum: Manchmal habe ich es aus meinem Lebenslauf gestrichen, um es dann wieder aufzuführen. Irgendetwas bedeutet es, doch ich weiss nicht, was. Dann reist du dorthin und es gibt Eindrücke, die einem sehr nahe gehen, aber gleichzeitig sehr unbestimmt sind. Etwa dieser Geruch, wenn du in Kathmandu aus dem Flugzeug steigst, berührte mich sehr. Oder auch einzelne Worte, von denen ich nicht mehr wusste, was sie bedeuteten. Zum Beispiel «Suntala», was Mandarine heisst und in meiner Kindheit vermutlich eine besondere Bedeutung hatte. Es gab auch Orte in Kathmandu, bei denen ich sagen konnte, wie es hinter ihnen weitergeht, ohne dass ich mich erinnern konnte, dort gewesen zu sein.

Hast du auch konkrete Erinnerungen?

Ja, die habe ich schon. Wobei solche Erinnerungen auch durch eine Fotografie gestützt sein können. Ich erinnere mich an rohe Spiele mit nepalesischen Kindern und an fliegende Drachen. Zu dieser Zeit war das Drachenfliegen sehr angesagt. Einmal stiegen wir in ein verfallenes Haus ein. Solche Sachen. Manchmal fühle ich mich ein wenig verlassen in dieser Gesellschaft, aber dieses Gefühl haben vielleicht auch andere.

Meine Eltern pflegen noch sehr viele Freundschaften aus dieser Zeit, vor allem zu Schweizern, die auch in Hilfsprojekten engagiert waren. Wir lebten eigentlich in einem Ghetto von Schweizer Entwicklungshelfern.

Wärst du heute ein Anderer, wenn dein Vater euch damals nicht nach Nepal mitgenommen hätte?

Das kann ich nicht beantworten, ich habe keinen Vergleichswert. Vermutlich aber schon. Als wir zurückgekommen sind in die Schweiz, in ein Bauerndorf, hat man uns als seltsame Freaks betrachtet. Und auch in Nepal habe ich mich nie richtig zugehörig gefühlt. Ich habe unseren ehemaligen Gärtner wiedergetroffen, den ich seit 35 Jahren nicht mehr gesehen habe. Als ich ihn traf, war das ein seltsam warmes Gefühl, ich kannte ihn irgendwie. Das war am Ende eines Festivals, und er lud mich zu sich nachhause ein und ich erhielt die traditionelle Familien-Tika (meist rotes Puder, das als Segnung auf die Stirn gestrichen wird). Das war aussergewöhnlich. Vielleicht war es aber auch ganz normal.

Wann bist du das erste Mal wieder nach Kathmandu zurück?

2003, während des Maoisten-Aufstandes. Aber nicht wegen des Aufstandes, es ergab sich einfach so. Ich überlegte kurz, ob ich, wegen des Aufstandes, wirklich gehen sollte. Leute, die dort leben, haben mir dann gesagt, es wäre in Ordnung zu kommen.

Wie hast du diese Rückkehr erlebt?

Es war erstaunlich, wie mir Dinge, die mir eigentlich sehr fremd hätten sein sollen, plötzlich vertraut und nah schienen. Ich hatte keine Probleme mit dem Dreck. Womit ich Mühe hatte, war der permanent hohe Lärmpegel. Mühe hatte ich auch damit, dass ich manchmal nicht recht wusste, wie ich zu jemandem stehe. Ich bin dort immer der reiche Tourist. Immer. Das zweite Mal besuchte ich meinen Gärtner mit einer Entwicklungshelferin. Irgendwann sagte sie dann: Lass uns bald gehen, denn gleich geht es um Geld. Man kann es ihnen nicht übelnehmen. Als ich aber meinen alten Sandkastenfreund wiedergetroffen habe, war Geld nie ein Thema.

Nepal hat ja seit 1982 unglaublich verändert: 1990 wurde es konstitutionelle Monarchie, 2001 gab es ein ungeheuerliches Massaker im Königspalast, daraufhin verschärfte sich der Konflikt mit den Maoisten. Seit 2008 ist das ehemalige hinduistische Königreich eine Republik. Wie hast du diese Entwicklung verfolgt?

Ich habe das nicht sehr nah verfolgt. Nepal ist schon eines der Länder, die mir am nächsten sind, aber ich kann nicht sagen, ich hätte das ganz genau verfolgt.

Wie ist dir die Idee gekommen, aus dieser Erfahrung ein Stück für die Bühne zu machen, und nicht etwa einen Roman zu schreiben?

Die Bühne ist mir als Schauspieler das Erzählmittel, das mir am nächsten ist. Und dann fand ich es interessant, mit einem dokumentarischen Stoff zu arbeiten. Denn die Bühne behauptet erst einmal, dass das, was auf ihr passiert, nur Fiktion ist. Ich dachte, es könnte spannend werden mit einer solchen Geschichte auf eine Bühne zu gehen.

Wie ist es zur Zusammenarbeit mit dem Regisseur Lukas Bangerter gekommen?

Ich habe schon einmal mit ihm gearbeitet, für «Die Bedürfnisse der Pflanzen», einem dokumentarischen Abend über meine Grossmutter. Kennengelernt habe ich Lukas an der ZHDK in einem Regie-Workshop. Die Zusammenarbeit mit ihm war sehr angenehm, wir sind beide Bastler, wir mögen es, mit Material zu improvisieren. In unseren Grundsätzen stimmen wir überein, was es für mich sehr angenehm macht, mit ihm zu arbeiten. Dann war er auch sehr offen für meine Idee, mit Videoaufnahmen zu arbeiten.

Handelt es sich um Originalaufnahmen aus deiner Kindheit?

Wir fuhren dreieinhalb Wochen nach Nepal und haben sehr viele Video- und Tonaufnahmen gesammelt. Diese sollten dann aber nicht nur abgespielt werden, sondern in irgendeiner Art in Kommunikation mit dem Schauspieler treten.

Wieso nennt ihr das Stück im Untertitel »semidokumentarisch«?

Weil wir keinen dokumentarischen Ansatz verfolgten, uns ging es eher darum, nicht nur zu zeigen, sondern zu verdichten. Es ging uns uns nie um Objektivität, sondern um subjektives Empfinden, die Arbeit war mehr assoziativ als klar einem Thema gewidmet. Wir wollten nicht alles erklären, wie es in Dokumentationen oft der Fall ist, sondern Leerstellen lassen. Es ging uns nicht darum Antworten zu suchen auf Fragen wie: Ist Entwicklungshilfe gut oder schlecht? Ich masse mir eine solche Antwort nicht an. Es gibt Leute, die dreissig Jahre in Nepal gearbeitet haben und diese Frage auch nicht beantworten können. Ich traf einen deutschen Bauhistoriker, der intensiv die dortigen Rituale erforschte. Sein Grundsatz war, diese Rituale genau zu beobachten und so präzise wie möglich zu beschreiben. An der symbolischen oder inhaltlichen Interpretation der Rituale war er nicht interessiert.

Ihr beschreibt das Stück als «eine Reise ins Land der Kindheit, eine Suche nach einer Heimat». Inwiefern fällt für dich die Kindheit mit der Heimat als paradiesischer Ort zusammen, an den du nicht zurückkannst?

Es ist seltsam: Ich gehe nach Nepal und weiss, hier habe ich einen Teil meiner Kindheit verbracht. Doch das Nepal meiner Kindheit existiert nicht mehr, so wie auch meine Kindheit vorüber ist.

Wie habt ihr dieses Stück erarbeitet?

Wir haben erst sehr viel Material gesammelt und dann eine Auslegeordnung gemacht und versucht, herauszufinden: Was ist wichtig, was ist nicht so wichtig? Das ist auch das Thema des Stückes: Sinn und Nicht-Sinn, Plan und Chaos, Konstruktion und Zufall. Eine Szene, die ich sehr mag: Wir haben eine Stadtführung gemacht mit einem Typ, der etwas neben der Spur war. Wahllos zeigte er uns alles, hier ein Stoffladen, da ein Benzinkanister, hier der Abfallberg, da der Tempel. Ihm war alles wichtig.

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, ist Autor. Sein Debütroman «Buch der geträumten Inseln» erschien 2020 bei Rowohlt.

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