Wäre es ein normaler Februar gewesen, dann hätte es in der Roten Fabrik allein im letzten Monat rund 30 Veranstaltungen gegeben. Hätte, denn seit Dezember sind diese wieder untersagt. Die dadurch fast menschenleere Rote Fabrik befindet sich im behördlich verordneten Tiefschlaf und hofft auf baldiges Wiedererwachen. Menschen in und um die Fabrik erzählen, wie es ihnen geht, was sie gerade machen und wie sie die Rote Fabrik zurzeit erleben.

«Komm, wir tragen noch schnell das Bänkli zurück. Das steht eigentlich bei uns.» Gerade kriege ich als Praktikantin bei der Fabrikzeitung meine erste Führung durch und um das Gelände der Roten Fabrik. Wir stehen unter dem KIBAG-Kran, wo wir das gelbe Bänkli finden. Spuren von Menschen, die kürzlich auf dem Areal gewesen sein müssen. Wir schauen uns die Veranstaltungshallen an. Im Clubraum macht die Technik gerade Revision. «Hallo, das ist Noemi», stellt mich Ivan von der Fabrikzeitung vor, «sie ist neu bei uns. Super Zeitpunkt zum Anfangen, oder? Es lebt richtig hier.»

Angefangen haben wir den Rundgang in den Büroräumen: Theater, Zeitung, Musikbüro, Konzeptbüro – «und hier ist, also wäre, der Empfang und die Buchhaltung.» Was für eine schöne Aussicht auf den See! Aber die Menschen, die in den Räumen arbeiten, fehlen. Nur vereinzelt, getaktet können sie und wir auf das Areal. Dahinter steckt eine ausgefeilte Planung der Corona Task Force, die letzten Frühling gegründet wurde.
Kyros, Teil des Konzeptteams und der Task Force hat daher gerade nicht wenig zu tun. Entscheidungen müssen möglichst schnell nach offizieller Verkündung der bundes- und kantonsweiten Massnahmen getroffen werden. Dies verlangt nach viel Kommunikation. Die «vereinsamte und desperate Situation», in der sich die Rote Fabrik gerade befinde, findet er «total komisch». Seit die gesamte Gastronomie und somit auch der Ziegel (oh Lac) zu ist, fühle es sich wirklich an wie eine geschlossene Fabrik, die nichts mehr produziert.

Eigentlich würdest du jetzt von unten eine Band proben hören oder draussen die Technik, die Material hin und her transportiert.

Die Menschen fehlen, die Veranstaltungen, das Publikum. Pablo vom Musikbüro vermisst natürlich besonders die Konzerte. Während er früher regelmässig zwischen dem Welschland und Zürich pendelte und einen Ausgleich von ruhigen Zeiten daheim und lebendigen mit vielen Menschen bei der Arbeit hatte, bleibt ihm heute nur noch das Ruhige übrig. Seine Arbeit besteht derzeit hauptsächlich aus Administrativem: Daten verschieben oder absagen und dadurch viel Kommunizieren. Aufgaben, die für Pablo eher Mittel zum Zweck sind und gemacht werden müssen, damit irgendwann einmal wieder Konzerte stattfinden können. Wann das möglich sein wird, ist noch immer ungewiss.

Am Freitagabend treffe ich Dagmar vom Konzeptbüro zu einer Videotelefonie. Heute ist sie im Büro und ich zuhause am Schreibtisch. Am Nachmittag hat sie gerade neue Veranstaltungstermine eingetragen und sich dabei gefragt, ob die dann wirklich stattfinden können. Wie wird die Welt an diesen Daten wohl aussehen? Je weiter sie in die Zukunft blickt, desto diffuser wird es. Dagmar beschreibt die Situation als eine ewige Warteschlaufe. Die Fabrik? Sie sei sehr ruhig, wie im Dornröschenschlaf. «Das Schöne ist, du triffst doch immer wieder vereinzelt Leute hier und tauschst dich fast mehr aus als früher.» Und auch die Ruhe hat ihre Vorzüge: Während Dagmar vor Corona oft Dinge nach Hause genommen hat, um sie konzentriert lesen zu können, macht sie dies nun alles, wenn sie im Büro sein kann. Ihren Arbeitsplatz würde sie nie tauschen wollen, denn wenn sie aufblickt und aus dem Fenster schaut, hat sie den See und die Berge vor sich. Dies gibt ihr ein Gefühl von Weite und öffnet den Horizont. «Eigentlich würdest du jetzt von unten eine Band proben hören oder draussen die Technik, die Material hin und her transportiert. Und um diese Zeit etwa schaut normalerweise immer Francis vorbei und fragt, wie es mir geht», erzählt Dagmar weiter.

Francis ist einer der wenigen Menschen, die auch ich in der Fabrik regelmässig sehe. Noemi Winde nennt er mich. Ein Übername, wie fast alle hier einen von ihm bekommen. Morgens kommt er jeweils zu einem Hallo und zum Kaffee- holen vorbei. Wir unterhalten uns, er im Türrahmen stehend, darüber, wie leer es hier gerade ist. Am ersten Tag erzählte mir Ivan, dass wohl keine*r so genau weiss, seit wann er hier lebt. Irgendwann seit den Anfängen der Roten bestimmt.

Das Stück muss sowieso fertig werden, auch wenn noch offen ist, in welcher Form es gezeigt werden kann.

Die Tour auf dem Areal geht weiter. Auf dem Vorplatz des Fabriktheaters begutachten wir kleinere Brandflecken auf dem Teer und Plastikrasen. Sie stammen von einer Flaschenbombe, wie ich später vom Hauswartungsteam um Dragana, Susana und Ricki erfahre. Im Fabriktheater probt gerade ein Ensemble. Um sie nicht zu stören, schaue ich später nochmals vorbei. Da treffe ich den Autor und Regisseur Philippe Heule, der zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Michela Flück das Stück «Die Schokoladenwaffenfabrik» entwickelt hat. Heute findet die erste Probe im Fabriktheater statt. Ohne Corona wäre ein so frühes Proben auf der Bühne nicht möglich.

Während Philippe noch kurz den Boden wischt, erzählt er mir, wie es ihm gerade geht und wie sich diese ständige Unsicherheit für ihn anfühlt. Die Premiere des Stückes ist am zweiten März geplant, eine offizielle Entscheidung, ob diese mit Publikum stattfinden kann, gibt es zum Zeitpunkt unseres Treffens noch nicht. Eigentlich rechnen alle damit, dass es Anfang März noch nicht wieder losgehen kann. Doch das Fehlen einer offiziellen Entscheidung hinterlässt noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wie viele, mit denen ich in meinen ersten Wochen in der Roten Fabrik geredet habe, findet auch Philippe diese ständige Unsicherheit enorm energiezehrend. Seine aktuelle Strategie: Nicht zu sehr daran denken. Das Stück muss sowieso fertig werden, auch wenn offen ist, in welcher Form es im März gezeigt werden kann.

Inzwischen ist es offiziell: Kulturveranstaltungen mit Publikum sollen frühstens ab April wieder in begrenztem Rahmen möglich sein. Sofern die epidemiologische Lage es dann zulässt. Für «Die Schokoladenwaffenfabrik» bedeutet dies wohl eine Premiere auf dem Bildschirm. Danach wird das Stück eingefroren, bis Aufführungen mit Publikum wieder möglich sind.

Ebenfalls on hold ist das Stück «Pseudologia Phantastica» von Les Mémoires d’Helène, bei dem Jonas die Tontechnik macht. Geprobt haben sie über Weihnachten und Neujahr. Damals war die Fabrik so richtig ausgestorben. «Egal, wann du gekommen bist, du warst immer allein.» Gespenstisch.
Wie bereits Dagmar erzählt auch Jonas, wie sehr er es dann schätzt, wenn er mal wieder Menschen antrifft. Während man sich früher nur kurz gegrüsst habe und aneinander vorbei gegangen ist, tausche man sich heute viel mehr aus. «Es ist weniger oberflächlich, das ist cool.»
Sein Herzensprojekt in diesen Zeiten sei das Tonstudio, welches er zusammen mit Sämi in der Aktionshalle eingerichtet hat. Bei den Aufnahmen lerne er die Halle von immer neuen Seiten kennen. Zum Beispiel als vor kurzem das Jazzquartett «mu:n» eng aneinander gedrängt auf dem Kran über der Bühne der Aktionshalle eine Aufnahme machte. «Ich hab mir nur gedacht: Geil, ihr kriegt so einen riesen Raum und geht auf den Kranen. Aber es war super, die Aktionshalle dann auch wieder von dieser Seite zu erleben.»

Was fehlt, ist der Ziegel.

Auf dem Weg zurück ins Büro schaue ich bei der Hauswartung vorbei. Ich sitze mit Dragana, Susana und Ricki am Tisch, die gerade am Ende der jährlichen Grundreinigung angekommen sind. Seit Beginn der Pandemie sind besonders die Wochenenden sehr anders für sie: Ohne die Veranstaltungen, Konzerte und Partys. Für diese hatten sie immer Aushilfen zur Unterstützung, die nun wegfallen. Dadurch haben sie derzeit fast mehr zu tun als früher. Auch das ständige Desinfizieren der Räume und Gänge ist aufwändig und führt bei einem so grossen Areal zu richtig viel Arbeit. Viele ihrer Aufgaben sind jedoch fast unverändert. Sie vereinbaren Termine mit beispielsweise der Heizungsfirma und übergeben die Ateliers an Kunst- und Kulturschaffende.

In einem dieser Ateliers sind seit März 2020 die Schriftstellerinnen Gianna Molinari und Julia Weber eingemietet. Ich treffe Gianna zu einem kältebedingt kurzen Spaziergang auf der Fussgängerinnenbrücke über den See. «Da oben, wo die Milch draussen auf dem Fenstersims steht, da ist unser Atelier.» An Kindergartenkindern, die zähneputzend auf der Treppe sitzen, schlängeln wir uns vorbei in den ersten Stock. Ich fühle mich wie in einem Wohnzimmer mit Seeblick. Für Gianna ist das Atelier ein Coronaresistenter Ort, an dem sie sich ganz auf das Schreiben ihres zweiten Buches konzentrieren kann. Ihr Erstes spielt in einer leeren Fabrik – passend zur aktuellen Situation. Ganz menschenleer sei die Rote Fabrik aber glücklicherweise nicht. Die Kinder aus dem Kindergarten kann Gianna oft durch das Fenster beim Spielen auf dem Spielplatz beobachten. Und auch Spaziergängerinnen, kleinere Gruppen, die an der Feuerstelle grillieren oder gar bei Eiseskälte Badende bringen Leben auf das Areal.

Letzteres kann ich kaum glauben, aber genau jetzt, auf dem Weg zurück ins Büro, sehe ich eine Person, die auf dem Steg der Zürcher Segel- und Motorbootschule gemütlich wieder in die Kleider schlüpft. Die Badekappe scheint mir ein Muss bei diesem schneidenden Wind, mit Schnee und Minustemperaturen.

Der See ist ein Lieblingsort für viele, die in der Fabrik arbeiten: Gianna macht beim Spazieren jeweils kurz Halt auf einem kleinen Betonpodest direkt am Ufer und schaut ins Wasser. Sie liebe die unterschiedlichen Blautöne und die Wellen, «die irgendwie Bewegung mit reinbringen. Mit genug Fantasie fühlt es sich an wie an einer Klippe zu stehen». Ricki und Dragana stehen am liebsten unter den riesen Mammutbäumen und auch Pablo schaut jeweils abends noch am See vorbei.

In einem weiteren Punkt sind sich alle, mit denen ich geredet habe, einig: Was fehlt, ist der Ziegel. Er bringt Menschen und somit Leben auf das Areal; er ist ein Treffpunkt, ein Ort zum Essen, Trinken, auf den See schauen. Ein Ort des ungezwungen Zusammentreffens und Austauschen. Und manchmal auch ein Ort zum Arbeiten – oder einfach, um so zu tun als ob. Auch ich freue mich schon darauf, wenn wir alle wieder bei einem Kaffee im Ziegel am See sitzen und uns die Sonne ins Gesicht scheinen lassen können.

Noemi Parisi (sie/ihre) studiert visuelle Kommunikation und Bildforschung. Sie setzt sich besonders mit Fragen der Macht von Sprachen auseinander.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert