Am 17. September 2022 kommt der «Marsch fürs Läbe» erneut nach Zürich. In diesem Jahr liegt der inhaltliche Fokus auf zwei Initiativen aus den eigenen Rängen. Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Player und Profiteure.

Was den Zünftlern das Sächsilüüte und Linksautonomen der 1. Mai, das ist Schweizer Abtreibungsgener:innen der «Marsch fürs Läbe». 
«Der Marsch fürs Läbe ist DAS Lebensschutz-Event in der Schweiz. Jedes Jahr versammeln sich etliche Lebensschützer, um gemeinsam das Leben zu feiern und für die Schwächsten einzustehen», heisst es auf der Website des Vereins «Marsch fürs Läbe». Auch dieses Jahr versammeln sich die christlichen Fundamentalist:innen in Zürich Oerlikon – zur zwölften Austragung ihres jährlichen Marsches. Als «eine gemeinsame Aktion von evangelischen, katholischen und freikirchlichen Christen» bezeichnet sich der Event. Mehrere hundert «Lebensschützer» aus dem In- und Ausland werden erwartet, dazu wie immer prominente Redner:innen. Dazu gehören unter anderem der emeritierte Weihbischof des Bistums Chur sowie SVP Nationalrätin Yvette Estermann. Estermann ist – wie mehrere aus ihrer Reihe – nicht zum ersten Mal bei den «Lebensschützern» zu Gast. In diesem Jahr kommt ihr jedoch eine besondere Rolle zu, dazu aber später mehr.

Regli, Läderach und Co.

Hinter dem Event «Marsch fürs Läbe» steht ein gleichnamiger Verein. Dieser wurde bis vor zwei Jahren vom ehemaligen SVP Gemeinderat Daniel Regli präsidiert. Regli erlangte schweizweit fragwürdige Bekanntheit, als er im Winter 2017 im Zürcher Gemeinderat während einer Budgetdebatte verlauten liess, dass sich «promiske Homosexuelle zwischen 30 und 40 das Leben nehmen, weil der Analmuskel nicht mehr hält, was er verspricht». Nachdem Regli im Verlauf der Coronapandemie mit Impf- und Pandemieskepsis ein neues Themengebiet für sich erschloss und prompt auch ein Buch dazu veröffentlichte, trennte sich der Verein von ihm. Die Stelle des Präsidenten ist seither vakant. Auch andere bekannte Namen findet man seit 2019 nicht mehr auf der Website des Vereins.
So war bis 2019 Jürg Läderach als Kassier des Vereins «Marsch fürs Läbe» angegeben. Der Sohn des Firmengründers Rudolf Läderach und bis 2018 CEO der gleichnamigen Schokoladenfirma engagiert sich zusammen mit seinem Sohn Johannes bei «Christianity for today», einer fundamentalistischen Gruppierung, die bis vor kurzem noch unter dem Namen «Christians for truth» oder «Christen für die Wahrheit» krude Verschwörungstheorien und reaktionäres Gedankengut verbreitete. Jürg Läderach stand ausserdem jahrelang dem christlich-evangelikalischen Missionswerk «Kwasizabantu» vor, wo er bis heute aktiv ist. Aus Kreisen der Mission kam vor Jahren eine politische Initiative vors Schweizer Stimmvolk, die Abtreibungen selbst bei Vergewaltigungsopfern verbieten wollte. Anfang August 2022 veröffentlichte das Nachrichtenportal «Watson» einen Bericht, demzufolge es in besagtem Missionswerk über Jahre hinweg zu Vergewaltigungen und Missbrauch gekommen sei. 
Nachdem mehrere Medien über die seit jeher nicht wirklich geheimen Verknüpfungen von Läderach und der organisierten Abtreibungsgegnerschaft in der Schweiz berichtet hatten, entbrannte ein kurzer aber veritabler Shitstorm gegen das Unternehmen. Der Aufschrei endete mit zahlreichen eingeschlagenen und besprayten Fensterscheiben diverser Läderach-Filialen. Seit dem ohnehin krawalllastigen «Marsch fürs Läbe» im Jahr 2019 im Zürcher Kreis 5 finden sich auf der Website des Vereins keine ersichtlichen personellen Verknüpfungen zwischen den Läderachs und dem Event mehr. Auch «Chritianity for today» ist irgandwann Ende 2021 aus der Trägerschaft des Vereins verschwunden.
Da der Verein «Marsch fürs Läbe» und dessen Vertreter:innen seit 2019 keine E-Mails der hier schreibenden Journalistin mehr beantwortet, bleibt dahingestellt, ob die Verknüpfungen tatsächlich aufgelöst wurden oder nur auf dem Papier nicht mehr exisiteren.  Doch auch ohne die Schokoladendynastie trifft sich im Verein «Marsch fürs Läbe» das Who is Who des christlichen Fundamentalismus der Schweiz: Gemäss Website ist Christoph Keel-Altenhofer Aktuar des Vereins und Mitglied des Organisationskomitees. Keel-Altenhofer betreibt die Onlineplattform «Für gesunde Familien», den Flyerversand «Flyer-überall» und ein Spendentool für gemeinnützige Organisationen namens «Give By Click», die allesamt in die Gegenkampagne zur Ehe-für-alle-Abstimmung eingebunden waren. Zudem ist er Sekretär von «Human Life International Schweiz» (HLI), einer Organisation, die auch als Trägerin des Vereins «Marsch fürs Läbe» agiert. «Human Life International» ist eine in den USA gegründete «Lebensrechtsorganisation», mit Ablegern in 51 Ländern. 
Im Organisationskomitee des „Marsch fürs Läbe“ findet 
sich auch Beatrice Gall als tragende Akteurin wieder – eine der Betreiber:innen einer vielsagenden Stiftung mit dem Namen «Zukunft CH», die sich Themen wie «Lebenslüge Transgender» widmet und sich laut Eigenbeschreibung für «zukunftstragende Werte, eine Aufwertung der Familie und gegen die schleichende Einführung der Scharia» einsetzt, wie der gleichnamigen Website zu entnehmen ist. Daneben wir der Verein etwa von der einflussreichen Schweizerischen evangelischen Allianz, der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) und der «Pro Life» Krankenkasse getragen.

«Verein Mamma» und die Partei
als Strohmann

Doch zurück zur SVP Nationalrätin und erstaufgeführten Rednerin des «Marsch fürs Läbe» 2022: Yvette Estermann. Das diesjährige Motto des Events lautet «24 Stunden für ein Leben». Damit nehmen die Veranstalter:innen direkten Bezug auf die sogenannte «Einmal-darüber-schlafen-Initiative» in deren Initiativkomitee auch Estermann sitzt. Co-Präsidentin des Komitees ist Estermanns Parteikollegin Andrea Geissbühler. Estermann selbst ist zudem im Co-Präsidium der gleichzeitig lancierten «Lebensfähige-Babys-retten-Initiative». 
Doch trotz repräsentativer Funktion stammten die beiden Initiativen nicht von den zwei SVP-Frauen: Weder Estermann  noch Geissbühler waren an der Ausarbeitung der Initiativtexte beteiligt, wie sie auf Anfrage gegenüber der Aargauer Zeitung bestätigten. Beide Nationalrätinnen gaben an, dass sie von David Trachsel, Präsident der Jungen SVP Schweiz, mit der fixfertig ausgearbeiteten Initiative kontaktiert und für das Co-Präsidium angefragt worden seien. Doch die Spur endet nicht bei Trachsel. Recherchen mehrere Medien – darunter «Watson», Blick und die Aargauer Zeitung – legen derweil nahe, dass der Verein «Mamma» hinter den beiden Initiativen steckt. 
Präsident des Vereins, Dominik Müggler, ist ein prominenter wie radikaler Abtreibungsgegner, der immer wieder Initiativen und Vorstösse für ein vollständiges Abtreibungsverbot vorantrieb. Müggler ist Teil des Referendumskomitees beider Initiativen und einer der wenigen Mitglieder, die keine Politiker:innen sind. Was Müggler sich davon erhofft, die zwei SVP Nationalrätinnen vorzuschicken, liegt auf der Hand: Die «Lebensfähige-Babys-retten-Initiative» sowie die «Einmal-drüber-schlafen-Initiative» klingen unaufgeregt, fast schon versöhnlich. Schliesslich wolle man, so lässt der Initiativtext vermuten, nicht an der geltenden Fristenregelung rütteln. 
Im Fall der erstgenannten Initiative fordert man etwa: «Nach Ablauf von drei Monaten, nach der Annahme von Artikel 10 Absatz 4 durch Volk und Stände, treten alle Bestimmungen ausser Kraft, die den Schwangerschaftsabbruch zu einem Zeitpunkt zulassen, in dem das Kind ausserhalb des Mutterleibes, allenfalls unter Einsatz intensivmedizinischer Massnahmen, atmen kann». Doch sogenannte Spätabtreibungen sind in der Schweiz bereits jetzt streng reglementiert und können zumeist nur dann durchgeführt werden, wenn die Gesundheit oder das Leben der Frau auf dem Spiel steht. Im Initiativtext steht weiter: «Ausgenommen sind Schwangerschaften, welche die schwangere Frau in eine akute, nicht anders abwendbare Lebensgefahr bringen». Ändern würde sich bei einer Annahme der Initiative somit wohl kaum etwas. 
Dasselbe bei der «Einmal-drüber-schlafen-Initiative», die fordert, dass Ärzt:innen vor einem Schwangerschaftsabbruch der schwangeren Frau mindestens einen Tag Bedenkzeit geben. Ausgenommen sind auch hier wieder «Schwangerschaften, welche die schwangere Frau in eine akute, nicht anders abwendbare Lebensgefahr bringen». Bereits heute sind ungewollt Schwangere dazu verpflichtet, ein Gespräch mit einem Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können. Demnach hat auch diese Initiative keine rechtlich wirksamen Änderung im Sinn, sondern entpuppt sich als Alibiübung. 

Eine Win-Win-Situation

Deshalb liegt es nahe, dass es bei der Lancierung der beiden Initiativen darum geht, den Diskurs um Schwangerschaftsabbrüche anzukurbeln und das Recht auf Abtreibung diskutabel zu machen. Auch eine Salamitaktik von Seiten der «Lebensschützern» wäre denkbar: Denn für beide Initiative werden momentan gemeinsam Unterschriften gesammelt. Auf dem Flyer zum diesjährigen «Marsch fürs Läbe» steht auch, dass beide Initiativen im Rahmen der Kundgebung vorgestellt werden. Und auch vor Ort werden wohl Unterschriften gesammelt, denn ob die Initiativen überhaupt vors Volk kommen, ist Stand heute noch garnicht klar. 
Klar ist aber, dass die beiden Initiativen dem «Marsch fürs Läbe» den Rücken stärken und dessen medienwirksame Durchführung wiederum den Fokus der Öffentlichkeit auf die beiden Initiativen lenken wird.

Einzelne Teile dieses Textes stammen abgeändert aus zwei früheren Artikeln, welche die Autorin über den Marsch fürs Läbe und die Akteure der «pro Life» Bewegung in der Schweiz verfasst hat. Zum einen im Onlinemagazin «das Lamm» «Von Plastikembryos, Islamophobie und Luxusschokolade: der «Marsch fürs Läbe» vom 5.8.2019 und zum anderen aus einem Artikel mit dem Titel «Der reaktionäre Filz der Schweiz» der am 16.9.2021 in der WOZ erschienen war.

Von Natalia Widla

Natalia Widla ist Gewerkschafterin und freie Journalistin. Auf nur wenige Dinge ist Widla so stolz, wie darauf, dass ihr «das Lamm»-Artikel zum Thema Abtreibungsgegner:innen beim Wikipedia-Eintrag zu «Läderach» aufgeführt ist. Widla lebt mit ihren zwei Katzen in Zürich, Abtreibung hält sie für ein indiskutables Menschenrecht.

Natalia Widla ist freischaffende Journalistin und Mitglied des Kollektiv Das Lamm in Zürich. Daneben schreibt sie gerade an ihrer Masterarbeit zu den realpolitischen Konsequenzen des feministischen Streiks von 2019.

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