Anno sowieso. Ein Kind kommt zur Welt. Das Kind schreit, zum ersten Mal erhebt es in der neuen irdischen Umgebung seine Stimme. Eine erste, meinungslose Einmischung. Die Belegschaft erfasst die Existenz des neuen Menschen, schaut, ob alles dran und drin ist. Und je nachdem, ob ein klitzekleiner Uterus drin ist, liegt für diesen Neuankömmling nicht ganz dasselbe drin, wie für einen, an dem unten noch was dran ist. Obwohl auch dieser Neuankömmling genau gleich schreit und plärrt wie jener. Das Organ, mit dem er sich akustisch in die Umwelt einbringt, unterscheidet sich nicht. Es verkündet: Elter, Futter, Schmerz, Fürsorge, Schutz, bitte! Ein Schrei, der – wenn gehört und richtig interpretiert – ein Echo ins noch wabernde Menschlingshirn zurückspült: angenehm. Ein Spielraum, trotz wurmartiger Daseinsform. Stimme einsetzen und eine Wirkung haben.

Hätten die Schwestern ja selbst die Nation ausrufen können, wenn ihnen nach Macht gewesen wäre.

Dieses Spiel mit der Wechselwirkung bietet einen optimalen Andockpunkt für sozialisierende Massnahmen. Dem Menschling kann etwa antrainiert werden, dass er sein Mitspracherecht als selbstverständlich und allgegenwärtig empfindet, oder dass dieses Mitspracherecht – wenn überhaupt – auf ein bestimmtes Spielfeld («einmal aussetzen») beschränkt bleiben wird. Wären die weiblichen Föten vorab über die stillschweigenden Übereinkünfte und Regeln im Gesellschaftsspiel informiert worden, würden sie an dieser Stelle vor Wut ins Fruchtwasser schreien und dann schnurstracks vom Schwebezustand der pränatalen Gleichheit und Einigkeit zu einem knallharten Guerillatraining übergehen. Nach neun Monaten würden die kleinen Menschmaschinen mit winzigem Uterus sich bereits voll ausgebildet und eingeweiht vom Uterus ihrer Mutter abwenden, selbstermächtigt und eigenständig dem Geburtskanal entsteigen, sich schweigend das Blut und den Schleim von der Schulter wischen und anfangen, Visitenkarten zu verteilen.

Guter alter Konjunktiv, fantastische Wehrigkeit, wider besseren Wissens. Wir alle wissen es. So war es nicht und so ist es nicht. Die Menschlinge brüllen bloss jämmerlich und wissen alle gleich wenig über die geplant ungleichen Wechselwirkungen ihrer Bekundungen im grossen Zusammenspiel der Stimmen.

So wachsen die Menschlinge heran und mit ihnen wächst der Spielraum, die Reichweite ihrer Individualstimmen, es eröffnen sich Möglichkeiten, Tonalitäten. Der Spielraum wird immer grösser und bald wird klar, es gibt Überschneidungen mit den Spielräumen anderer, das Gefüge besteht aus Vielen. Die Vielen müssen sich organisieren, müssen, egal ob laut oder leise, fern oder nah ihre Stimme einbringen können ins Gezeter um die Regeln, die Ressourcen, die Bonusrunden und die Schiedsinstanzen.

Geschichtsschreibung leicht gemacht: Du warst nicht dabei, also redest du auch nicht mit.

Vielleicht macht das herangewachsene Stimmorgan die Erfahrung, dass ihm aufmerksam zugehört wird, dass seine Stimme zur Diskussion zugelassen ist, seine Argumente erwünscht sind und geschätzt werden. Oder aber – siehe auch anno sowieso und Feststellung der inneren Organe und Unterschiede, der äusseren sowie verinnerlichten Abwertung der inneren und äusseren Stimme, fast wie wishful Konjunktiv, aber umgekehrt – dem ist nicht so.

Und wenn die Stimme fragt, warum dem nicht so ist, gibt es genug Trug und Mär (Quellennachweis nicht erforderlich) wonach ihre Stimme nicht ins Selbstbild einer Nationalerzählung von Brüdern und Vätern passt. Die haben nämlich auf einer zwischen Talschaften zentral gelegenen, schlammigen Wiese ihren Zusammenhalt beschworen. Sich quasi per Übereinstimmung selbst hergestellt, als Konterfei zu den bereits höchst existenten und expansiven Habsburgern. Und auch hier siehe Naturgesetze und Geburt: Stimme ruft Existenz hervor. Aus dem Schatten halbartikulierter Talfeindschaften traten die frisch beschworenen Konföderierten.

Aber sie sind ja nicht dumm, die Eidesbrüder, sie merken sich die Tricks zur Machterhaltung genau, und einmal über ihre unvereidigten Mitschwestern erhoben, lassen sie keinen Zweifel an ihrer übergeordneten Position. Hätten die Schwestern ja selbst die Nation ausrufen können, wenn ihnen nach Macht gewesen wäre. Hätten sie ja können. Aber nachts wegschleichen zum Bubenstreich, das macht einfach mehr Spass ohne die Weiber. Und Weiberstimmen in der Nacht bedeuten Unheil. Nein nein, die Nation wurde nicht herbeigehext oder unter einem blutigen Rockschoss hervorgezaubert, die eidgenössische Nation ist der erste, geistreiche Coup der Herrschaften Bauernschlingel, ein Produkt des brüderlichen Widerstands.

Geschichtsschreibung leicht gemacht: Du warst nicht dabei, also redest du auch nicht mit. Das Echo des Aufschreis der nicht ganz in die Strukturen integrierten Eidgenossinnen, verhallte in der latent sturen Rückwärtsgewandtheit der Talschaften. Schliesslich waren es ausgerechnet die Gepflogenheiten, Bräuche und Spielregeln (EU, Menschenrechte und so) aus den umliegenden Gefilden (EU, Menschenrechte und so), «die fremden Richter», die den Eidesbrüdern ein zähneknirschendes Zugeständnis abrangen – genau vor 50 Jahren.

Kommen seither also aus jeder vor Schmerz schreienden Mutter stimmrechtlich vollständige Kinder in eine gleichberechtigte Existenz geflutscht? Eine, in der sie selbst bestimmen können, welche Rollen sie im grossen Gesellschaftsspiel einnehmen möchten?

Im Dunklen hustet jemand und ein anderer sagt, das Gequengel um Gleichberechtigung müsse ja auch mal ein Ende haben.

Ob du wirklich richtig stehst, siehst du, wenn das Licht angeht. Alles soll durchleuchtet werden, die Karten offen und sichtbar auf dem Tisch… Aber die Karten wurden irgendwie seltsam gemischt. Und das Licht geht nicht an, dringt nicht durch. Im Dunklen hustet jemand und ein anderer sagt, das Gequengel um Gleichberechtigung müsse ja auch mal ein Ende haben.

Sollen wir diese rhethorische Frage also besser per Lottoziehung beantworten?
Oder den Papa fragen?
Nein, lass uns alle fragen.
Lass uns Demokratie.
Also los.

Wer stimmt dafür, dass wir die Spielregeln so anpassen, dass diese erst seit 50 Jahren mitklingenden Stimmberechtigten nicht in den ewig unbezifferbaren Lebensbereichen stecken bleiben? Oder wieder zurück aufs Startfeld müssen, wenn sie, sagen wir, z.B. Nachschub an Spielfiguren ins Spiel bringen? Oder die über den Brettrand gefallenen, ausgedienten Spielfiguren betreuen?

Oh aber! melden sich bewahrerische Stimmen, wer will denn von Spielregeln sprechen, wenn es natürliche Bestimmung und Traditionen gibt? Spielregeln, das klingt ja fast, als wären die Nachteile nicht selbstverschuldet. Das ist ein grobes Foul im symbolischen Bereich, wir wollen doch unsere Schicksalskarte ausspielen. Wenn wir sie nicht mehr gegen die Frauen ausspielen können, gegen wen sollen wir sie denn sonst zum Einsatz bringen?

Zum guten Glück gibt es ja noch andere weniger Berechtigte, denen die lästige Aufräumarbeit, der unhonorige Menschenschmutz zugeschoben werden kann. Das helvetische Spiel ist so reich an inhärenten Benachteiligungsstrukturen, an Machtgefällen, an monetären Falschgewichtungen, an vordergründig geheucheltem Goodwill. Da fällt immer noch genug ab für einen eleganten, unfairen Zug, der die erschöpften Stimmen derer, die demokratisch nichts zu melden haben, endgültig in den unhörbaren Bereich verschieben. Auf gut Schweizerdeutsch: «Wennd kei NGO findsch, wo sich dinere Stimm aanimmt, selber tschuld. Ab ins Schämi-Eggli.» Und alle weiteren Runden Mitbestimmung aussetzen.

Sarah Elena Müller, *1990, schreibt und komponiert für das Spoken-Word Duo «Cruise Ship Misery». Im März 2019 erschien ihr Debut Album «Urteil». Sie schreibt Kolumnen, produziert Hörstücke, Essay- und Kurzfilme und arbeitet an ihrem ersten Romanprojekt.

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