Neben den etablierten, institutionalisierten Archiven, Bibliotheken und Dokumentationsstellen gibt es schon lange kleinere, subversive, autonome, selbst oder kollektiv organisierte Räume und Projekte. Initiiert und betrieben von Menschen, die dezentralisiert und konzentriert Wissen und Materialien aus spezifischen Kontexten sammeln. Gemeinsam mit dem Kollektiv circuit in Zürich und mit Eva Weinmayr, Initiatorin der «Library of Inclusions and Omissions», habe ich mich über die Fragen rund um solche alternative Räume unterhalten. Das circuit ist ein Projekt, das kleineren Dokumentationsstellen im Raum Zürich eine Plattform bietet, sich zu präsentieren und auszutauschen.

Noemi Parisi: Wie entstand das Projekt circuit?

Roger Conscience: Vor eineinhalb Jahren haben wir im Sommer vom K-Set aus ein Treffen organisiert, zu dem wir einige kleinere Archive zum Austausch eingeladen haben. Das K-Set ist ein Archivprojekt, in dem wir seit 2004 selbstgemachte Publikationen sammeln. Aber vielleicht müssen wir noch einen Schritt weiter zurück gehen. Zuvor haben wir den Nachlass von Ursula Sampaio, Aktivistin, Mutter und Lora-Journalistin, in ihrer Wohnung gesichtet. Ein Recherche-Archiv bestehend aus einer riesigen Sammlung von Zeitungsschnipseln, die sie seit den 70er Jahren zu verschiedenen Themen ausgeschnitten hatte. Wir haben die Sammlung dann in der Zürcher Buchhandlung Material ausgestellt. Darauf haben verschiedene Archive Teile der Sammlung übernommen. Beim Treffen vorletzten Sommer kamen wir dann zusammen, um uns auszutauschen, wieso wir diese Teile genommen haben, was nun mit den Materialien passiert, wie wir sie aufbewahren. Und daraus ist dann das circuit entstanden.

Mara Züst: Damals beim Treffen sind schon viele Fragen aufgekommen, die uns dann im Kollektiv vom circuit beschäftigt haben: Fragen um Leerstellen, von Kämpfen, die nicht zwangsläufig materielle Spuren hinterlassen. Oder auch Fragen, wie: Was meinen wir, wenn wir
von Archiven sprechen? Was ist darin enthalten und was nicht?

NP Eva, du hast das Projekt «Library of Inclusions and Omissions» gestartet. Ein Projekt, das ebenfalls nach Leerstellen fragt: Leerstellen von Wissen in Bibliotheken. Wie ist dein Projekt entstanden?

Eva Weinmayr: Die «Library of Inclusions and Omissions (LIO)» ist ein Reading Room, eine kleine Referenz-Bibliothek, die in Form von Pop-Up Lesesälen, z.B. bei Ausstellungen, gezeigt wird. Entstanden ist das Projekt in Göteburg. Mit einem Open Call, einem Poster, das in Englisch, Arabisch und Schwedisch gedruckt wurde, habe ich nach Materialien gefragt,
die nicht in etablierten Bibliotheken zu finden sind. Publikationen, die nicht konform sind mit dem weissen, westlichen, patriarchalen Kanon. So entstand eine gemeinschaftlich zusammengetragene Sammlung von nicht nur Büchern, sondern auch Bildern oder Textseiten. Zu denen schrieben die Personen jeweils eine kurze Notiz, wieso sie genau diese Publikation oder dieses Dokument ausgesucht haben und wieso sie dieses mit anderen Menschen teilen wollen. Im Wesentlichen frage ich mit dem Projekt danach, welches Wissen von institutionalisierten Bibliotheken validiert, legitimiert und autorisiert wird und was fehlt.

NP Sowohl beim circuit wie auch bei der LIO geht es also um Material, das in etablierten Institutionen nicht gesammelt wird oder darin verloren geht. Wieso denkt ihr, ist es wichtig, dass abseits dieser Institutionen Räume existieren, die Wissen und Material sammeln, aufbereiten und zugänglich machen?

EW Öffentliche Bibliotheken haben ja immer einen universalistischen Anspruch, dem sie aber strukturell nicht nachkommen können. Sie haben den Auftrag, Wissen für alle Mitglieder der Gemeinschaft bereitzustellen. Aber, das ist schwierig, denn Community ist ja nicht Singular. Es gibt nicht eine Gemeinschaft, es gibt viele. Informellere, selbstorganisierte Archive und Bibliotheken haben einen viel kollektiveren Ansatz und orientieren sich jeweils kontextspezifisch an den Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen.

Emanuel Haab: Jedes Sammeln findet in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext statt, auch das Betreiben eines Graswurzelarchives. Ich finde es spannend, darüber nachzudenken, dass gesammeltes Material oft nicht von Wert ist, weil es einzigartig wäre, sondern durch die Art, wie es zusammengestellt wurde. Zum Beispiel das Zeitungsartikelarchiv von Ursula Sampaio. Am Anfang dachte ich mir, das sind ja nur Zeitungsartikel, die bereits öffentlich zugänglich sind. Aber dann habe ich verstanden: In der Zentralbibliothek sind das Mikrofilme, die du chronologisch durchschauen musst, und hier haben wir thematische Dossiers, die mit einer politischen feministischen Perspektive zusammengestellt wurden.Nicht-institutio-nalisierte Archive sind widerständig oder subversiv, weil sie auf etwas reagieren: Auf einen Wissenskorpus, der allgemein in der Gesellschaft so akzeptiert ist
und auf das, was darin fehlt, oder auf die Art, wie in Bibliotheken kategorisiert wird und wie dadurch problematische Leerstellen produziert werden.

Histnoire

Ein solches Archiv oder eine Intervention, wie sie es nennt, betreibt Jovita dos Santos Pinto mit der Webseite «histnoire.ch». Histnoire begleitet ihr Dissertationsprojekt zu Schwarzen Frauen in der Schweizer Öffentlichkeit von 1970 bis 2020.

Jovita dos Santos Pinto: Die Webseite besteht aus kurzen Porträts von Schwarzen Frauen, die in der Öffentlichkeit standen, sowie aus Medienbeiträgen mit ihnen, die relativ einfach zugänglich sind. Ich nehme bestehendes Material und lege sozusagen ein Dossier an, dass eigentlich Teil des Archives oder ein Schlagwort darin sein könnte. Dadurch mache ich die Dinge sichtbar und Schwarze Geschichte erzählbar. Es ist eine Intervention in kollektiver Erinnerung. Das dominante Narrativ ist, dass Schwarze Frauen nicht Teil der Schweizer Geschichte sind, schon gar nicht der öffentlichen. Dabei gibt es all diese Medienspuren. Die Webseite ist weniger selbst ein Archiv, stattdessen soll sie einen gewissen Zugriff auf Archive aber auch Erinnerung aktivieren.

NP Die Portraits sind alle von Hand gezeichnet. Wie kamst du auf die Idee, diese Bildsprache zu verwenden?

JP In meiner Dissertation beschäftige ich mich auch damit, wie ein weisser Blick auf Schwarze Körper hergestellt wird. Ich wollte kein neues Material aufbereiten, sondern Material nehmen, das bereits zirkuliert. Aber ich wollte nicht den Blick auf sie reproduzieren. Dadurch, dass sie gezeichnet sind, verschiebt sich der Blick. Auch für mich. Mich nochmals hin-
zusetzen und mich intensiv mit den Personen auseinanderzusetzen, sie zu zeichnen, ist für mich eine Art von Sorgearbeit.

NP Wie gestaltet sich deine Arbeit mit Archiven?

JP In meiner Arbeit mit Archiven komme ich gezwungenermassen immer wieder an bestimmte Grenzen. «Schwarz» oder «Schwarze Frau» ist kein Index in Schweizer Archiven. Aufgrund der Art und Weise, wie die Archive organisiert sind, sind die Figuren, nach denen ich suche, oft schwer auffindbar. Dadurch wirkt es schnell so, als würde es sie nicht geben. Ich muss entweder genau wissen, nach wem ich suche, oder ich stosse per Zufall auf sie.

NP Institutionalisierte Archive, Sammlungen und Bibliotheken erheben in unserer Gesellschaft noch immer einen Anspruch auf Objektivität und Universalität. Welche Auswirkungen hat dieser Anspruch?

JP Genau das ist der Grund, dass es viele anders organisierte, autonome und aktivistische Archive gibt. Diese alternativen Archive sind gleichzeitig eine Art und Weise diese institutionalisierten, scheinbar objektiven Archive zu kritisieren und ermöglichen es, einen anderen Wissensfundus dafür herzustellen. Es braucht aber auch Arbeit in diesen Archiven selbst. Sie müssen gegen den Strich gelesen werden. Für mich sind die institutionellen Archive Orte von Macht und immer wieder auch von epistemologischer Gewalt. Die Vorstellung, dass sie objektiv sind, ist Teil ihrer Macht. Gleichzeitig bedeutet das auch, dass wir nicht um sie herumkommen.

NP Denkst du, es ist wichtig die Inhalte aus Archiven herauszunehmen, ihnen eine neue Form zu geben und eigene Archive zu gestalten, um ein kollektives Erinnern zu schaffen?

JP Es ist sehr wichtig, dass dies gerade stark passiert. Es gibt ganz viele PoC Archive, die in den letzten 5-10 Jahren in Europa entstanden sind. Das war nicht immer so. In meiner Beschäftigung mit dem Treffpunkt Schwarzer Frauen, der seit 1993 besteht, habe ich verstanden, dass oftmals die Beteiligten die Dokumentation ihrer schwarzfeministischen Arbeit nicht als bedeutsam sahen und deswegen nicht aufbewahrten. Sie warfen Dinge weg wegen Platzmangel oder kamen gar nicht auf die Idee, das einem Archiv zur Aufbewahrung zu überreichen. Fraglich auch, was dieses davon übernommen hätten. Es ist offensichtlich nicht selbstverständlich, dass man der eigenen Arbeit Bedeutung schenkt und je nachdem, wie man gesellschaftlich positioniert ist, ist unwahrscheinlich, dass ihr von aussen irgendeine Bedeutung geschenkt wird. Es reicht aber nicht nur Dokumente abzulegen, sondern wir müssen Archive auch aktivieren können.

Die Radgenossenschaft der Landstrasse

Ein aktiviertes Archiv betrete ich zwei Tage nach meinem Gespräch mit Jovita dos Santos Pinto. In einem Aussenbezirk von Zürich besuche ich die «Radgenossenschaft der Landstrasse». Die Radgenossenschaft, 1975 gegründet, ist die Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz, die auch die Roma unterstützt. Ihr Dokumentationszentrum
ist sowohl Museum, Bibliothek, Archiv und Begegnungsort zugleich. Das Dokumentationszentrum umfasst neben ca. 300 Objekten rund 13‘000 Fotografien, sowie Archivschachteln mit verschiedenen Dokumenten und Unterlagen.

Willi Wottreng: Das Archiv ist nicht wissenschaftlich systematisch organisiert, sondern nach unseren praktischen Bedürfnissen. Es ist eine gelebte Präsentation dieser Bevölkerung.

NP Wie kommen die Materialien zu euch?

WW Durch gute Beziehungsarbeit und offene Augen unserer Leute. Der Reiz ist, dass fast alles direkt aus jenischem Besitz kommt. Eines meiner Lieblingsstücke ist beispielsweise das Gemälde der Mutter eines Jenischen. Es ist das Portrait einer Frau, und darauf siehst du nichts besonders Jenisches, nur 50er-Jahre-Mode. Genau das macht für mich den Reiz aus. Oder der Schnapsbrennkessel da hinten, so einen könntest du irgendwo auf dem Markt finden. Aber diesen hat uns eine jenische Familie gegeben.

NP Wieso denkst du, sind Dokumentationszentren wie eures wichtig?

WW Wir leben glücklicherweise in einer Situation, in der die Bedeutung von Minderheiten jeder Art immer mehr anerkannt wird. Und man im Nachhinein froh ist, dass die sich schon früher dokumentiert haben. Für uns gilt das Prinzip: Nichts über uns ohne uns. Ihr könnt kein Museum über Jenische machen. Das können nur unsere Leute selbst. Wir sagen, was wichtig ist. Es ist eine Dokumentation und eine Selbstpräsentation von Minderheitsgruppen. Ich selbst bin Historiker und habe immer den Blick darauf, wie das, was wir hier machen in 50 Jahren wahrgenommen werden wird. Es hat einen Wert und wir müssen aufpassen, dass es am Ende nicht kaputt geht. Dies könnte auf zwei Arten geschehen: Indem unsere eigenen Leute nachlässig sind, oder indem Aussenstehende, die nach der Radgenossenschaft diese Dinge sichten, sagen: Das ist nichts Wichtiges, das kann verramscht werden. Wir haben darum eine Bundesstiftung gegründet, um das Dokumentationszentrum schützen zu können.

Herausforderungen kollektiver Dokumentation

Auch mit dem Kollektiv von circuit und Eva Weinmayr habe ich über solche Herausforderungen kleinerer, selbst oder kollektiv organisierter Dokumentationsstellen gesprochen:

EW Herausforderungen gibt es viele. Die Frage der Finanzierung oder des kollektiven Arbeitens: Wie können wir Workflows entwickeln, die über uns hinaus existieren können? So, dass solche Projekte nicht nur an einer Person hängen.

MZ Wenn wir von materiellen Spuren sprechen, ist auch die Ökonomie des städtischen Raumes eine Herausforderung: Mieten sind teuer. Bei dieser Runde vom circuit waren zwei Orte dabei, deren Raum bedroht ist, bei denen nicht sicher ist, wo sie in Zukunft ihren Platz haben können. Es geht also um die Frage, wo wird mir als unkommerzieller Ort eine Existenz erlaubt?

Noemi Parisi (sie/ihre) studiert visuelle Kommunikation und Bildforschung. Sie setzt sich besonders mit Fragen der Macht von Sprachen auseinander.
Zu den Personen:

Roger Conscience, Emanuel Haab und Mara Züst sind mit Simon Graf vom Widerstandsarchiv und einer weiteren Person Teil des Kollektives circuit in Zürich.

Emanuel Haab studiert im Master Transdisziplinarität an der Zürcher Hochschule der Künste und arbeitet aktuell an der machtkritisch angelegten Archivplattform aboutpower.net.

Mara Züst ist Künstlerin und Kunsthistorikerin. Sie ist verantwortlich für die Bibliothek Andreas Züst in Oberegg/AI und arbeitet an unterschiedlichen (Forschungs-)Projekten, die sich mit Archiven und Dokumentationsmethoden beschäftigen. Roger Conscience ist Grafiker und Mitbetreiber von K-Set.

Eva Weinmayr ist Künstlerin und Mitbegründerin von AND Publishing, einem feministischen Verlagskollektiv in London. Im Rahmen ihres PhD Projektes «Micropolitics of Publishing» hat sie die «Library of Inclusions and Omissions» (2016) gestartet.

Jovita dos Santos Pinto ist Geschlechterforscherin, Teil des schwarzfeministischen Netzwerks «Bla*Sh» und Initiantin der Webseite histnoire.ch.

Willi Wottreng ist Geschäftsführer der «Radgenossenschaft der Landstrasse».

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