1. Januar 203—

Heute morgen habe ich gleich die App runtergeladen und mein Punkte­konto gecheckt: 1000 Punkte. Ab heute hat jeder 1000 Punkte. Wenn ich was Gutes tue, bekomme ich Punkte dazu, wenn ich Scheisse baue, werden welche abgezogen. Das erste Mal hörte ich davon vor vielleicht neun Jahren. Das muss so um die Zeit herum gewesen sein, als China dabei war, so ein Sozialkredit-System einzuführen; und die meisten Zeitungen nannten das unmenschlich und dystopisch. Auch ich fand das irgendwie faschistisch, die Menschen so in Klassen einzuteilen und den Oberen mehr Rechte zu geben als den Unteren, das erinnerte mich zu sehr an die Kasten in Indien oder die Apartheid in Südafrika. Aber es war natürlich ziemlich blöd, so zu denken, denn die Kasten sind etwas ganz anderes. Sie werden vererbt, und wenn du einmal in einer Kaste drin bist, kommst du nicht mehr raus. Unser System ist ganz anders, es ist, würde ich sagen, gerecht. Ab heute ist’s egal, woher du kommst, was für eine Hautfarbe du hast, ob du Mann oder Frau bist; es zählt, was du jeden Tag tust. Es ist wie ein Neuanfang.

2. Januar

Gestern, kurz vor dem Einschlafen, fiel mir eine Situation aus meiner Kindheit ein, die ich eigentlich schon vergessen hatte. Ich stand am Zebrastreifen, ich hab wohl die Hand meines Vaters gehalten, die Ampel war rot. Kein Auto war zu sehen, und trotzdem haben die Leute links und rechts gewartet. Dann aber ist plötzlich ein junger Mann über die Strasse gegangen, bei Rot. Ich war damals vielleicht fünf oder sechs Jahre, und darum habe ich meinen Vater gefragt, ob der Mann dafür ins Gefängnis kommt. Er hat ernst den Kopf geschüttelt, und ich habe weiter gefragt, wie er denn bestraft wird. Mein Vater hat gesagt, der Mann wird überhaupt nicht bestraft. Und dass dieser Mann einfach davonkommen würde, das fand ich sehr beunruhigend. Als könnte schlussendlich doch jeder machen, was er will, wenn die Polizei nicht da ist; als könnte einfach einer kommen und mir ins Gesicht schlagen, einfach so, und dann weitergehen. Das ist natürlich verboten, es gibt schliesslich Gesetze gegen Bei-Rot-über-die-Strasse-Gehen und Kindern-ins-Gesicht-Schlagen. Aber es gibt ja auch Dinge, die nic ht verboten sind, und trotzdem falsch: Das Vollpinkeln der Toilettenbrille im Restaurant; das Verfolgen einer Frau bis zu ihrer Haustüre; das laute Musikhören über Boxen in Zügen (das hasse ich wirklich). Und ich verstehe das nun so: Wenn die Leute es halt von sich aus nicht begreifen, dann brauchen sie so ein Punktesystem.

Ich bin heute bei Rot über die Strasse gegangen, aber nur, weil ich schauen wollte, ob es tatsächlich funktioniert. Gleich nach dem Zebrastreifen bin ich stehengeblieben und habe die App geöffnet, doch ich lag immer noch bei 1000. Ich bin dann wie ein Blöder drei- oder viermal bei Rot über die Strasse gegangen. Ich hab also bei Grün am Zebrastreifen gewartet, und die Autofahrer dachten wahrscheinlich, ich bin geistig behindert oder so. Mein Score aber lag noch immer bei 1000 Punkten.

3. Januar

Als ich heute morgen die App geöffnet habe, bin ich ziemlich erschroc­ken: 992 Punkte stand da. Die roten Ampeln haben sie mir also doch abgezogen, immer 2 Punkte. Neben jedem Abzug steht, wie dieser zustandegekommen ist: Fünfmal «Übertretung im Strassenverkehr». Es ist schon irgendwie unheimlich. Als wäre da ein Gott, der alles sieht und dich dann belohnt oder bestraft, so wie im Alten Testament. Aber damals kannten die Leute ihren Punkestand nicht, den erfuhren sie erst nach dem Tod.

Ich hab noch 2 Punkte bekommen, weil ich der Frau Mathys, der Neuen, geholfen habe, ein paar Bananenschachteln aus ihrem Fiat in die Wohnung zu tragen. Sie hat mich wohl in der App gesucht und mir die Punkte gegeben. Das ist wirklich nett, ich hab sie nicht einmal darum gebeten.

Ich glaube, ich habe einmal gelesen, dass der Mensch für Gemeinschaften von über dreihundert Leuten nicht gemacht ist. Dreihundert Gesichter kann er sich gut merken, und er kennt jeden über eine oder zwei Ecken, und so kann er auch einschätzen, was für ein Mensch das ist. Aber das ist natürlich längst vorbei, die Menschen leben unter Millionen von anderen Menschen, und natürlich können sie da nicht jeden kennen. Über die App kann ich jetzt herausfinden, ob ein Fremder aufrichtig und vertrauenswürdig ist.

4. Januar

Ich hab heute alles dafür gemacht, um wieder auf 1000 Punkte zu kommen. Hätte ich es auch getan, wenn es nicht um Punkte gegangen wäre? Schwierig zu sagen. Vielleicht nicht alles. Aber wenigstens bin ich nicht so verlogen wie die «Helfer», die in dieser Kälte auf bestimmten Plätzen warten, um Leuten ihre Hilfe anzubieten. Man sieht ihnen von weitem an, dass sie das alles als Spiel sehen und eigentlich nur den Highscore erreichen wollen. Ich glaube, die 2000 Punkte hat noch niemand erreicht. Für die 2000er soll es bessere Wohnungen, freie Zahnbehandlungen, günstige Kinder­tagesstätten und so weiter geben. Aber eigentlich ist es ja egal, warum die Leute Gutes tun, solange sie es nur tun.

5. Januar

Ich liege nun bei 1005 Punkten, und eigentlich sollte ich happy sein, aber ich habe auch einen Punkt Abzug bekommen und ich weiss nicht, wieso. Neben dem Abzug steht: «Sonstiges». Das muss ein Fehler sein, also habe ich die Hotline angerufen. Ich drücke Eins für Deutsch, dann Zwei, weil ich Fragen zu meinem persönlichen Punktekonto habe. Vier Minuten lang warte ich bei Acid Jazz in der Warteschlaufe, dann meldet sich eine Frau Leibundgut. Ich gebe ihr meine AHV-Nummer durch und frage sie dann, was genau ich falsch gemacht habe. Ich höre, wie sie auf der Tastatur klackert. Sie sagt, die Verstösse werden nicht spezifisch erfasst, sondern bloss nach Kategorien, aus Datenschutzgründen.

Das sagt sie wirklich. Ich frage sie also, was alles unter «Sonstiges» fällt, und sie liest vor: Alle Verstösse, die keiner der übrigen Verstosskategorien zugeordnet werden können. Ich bedanke mich übertrieben freundlich und hänge auf.

6. Januar

Jetzt wieder 4 Punkte Abzug, viermal einen Punkt, wieder «Sonstiges». Da es nur ein Punkt ist, kann es sich nicht um einen sehr schweren Verstoss handeln, aber dass ich nicht weiss, was es ist, macht mich wahnsinnig. Jemand muss es auf mich abgesehen haben, jemand will mich vernichten. Wahrscheinlich jemand auf der Arbeit, ziemlich sicher sogar. In der Mittagspause hab ich nochmal bei der Hotline angerufen und gefragt, ob sie mir sagen können, wer mich negativ bewertet hat. Natürlich können sie mir auch das nicht sagen, aus Datenschutzgründen. Aber, hat der Hotline-Typ gesagt, er kann sehen, dass all diese Abzüge von verschiedenen Leuten stammen, wegen den IP-Adressen nämlich. Aber, hab ich gesagt, kann es nicht sein, dass jemand, der mir schaden will, irgendwelche russische Hacker beauftragt hat? Er lacht nur und fragt, was er sonst noch für mich tun kann.

7. Januar

Irgendwas muss an mir sein, das die Leute nicht verstehen, oder ganz falsch verstehen. Als Unfreundlichkeit. Vielleicht irgendeine Falte um die Augen, oder die Stellung der Augenbrauen, oder der Winkel meiner Lippen. Es muss etwas sein, das sich nie jemand traute, mir zu sagen. Wie man einem, der stinkt, auch nicht sagt, dass er stinkt, sondern ihm vielleicht ein Deo schenkt. Und vielleicht wissen ja die Leute, die mich schlecht bewerten, gar nicht genau, was an mir Unbehagen in ihnen auslöst, aber sie spüren es ganz deutlich. Ich habe schon immer gespürt, dass ich anders bin, jetzt hab ich den Beweis.

8. Januar

Letzte Nacht bin ich schlecht eingeschlafen. Nicht, weil ich nachgedacht habe, aber da ist so eine Unruhe in mir gewesen, so eine Rastlostigkeit. Erst im Morgengrauen konnte ich einschlafen. Ein paar Stunden später stand ich in der Bahnhofshalle, gleich neben dem Klavier, das sie dort aufgestellt haben. Eine recht junge Frau spielte etwas, ein ziemlich lang­sames Stück, ich weiss nicht, von wem. Es hat wie Kirchenmusik geklungen, und es hat es auch so gehallt wie in einer Kirche. Ich bin einfach stehengeblieben und habe zugehört, und die Leute sind an mir vorbeigerauscht. Und da hab ich plötzlich gewusst, dass ich’s heute nicht schaffen würde. Die Blicke der andern zu ertragen, meine ich. Ich ging aus dem Bahnhof raus, rief auf der Arbeit an und meldete mich krank.

11. Januar

Seit drei Tagen hab ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Ich bestelle jetzt alles online. Fastfood und Pornos geben übrigens Punkteabzug. Ohne das Punktekonto wäre ich wahrscheinlich schon versumpft in Hamburgern und japanischen Pornos, aber so gibt es immer Grund, jeden Tag aufzustehen. Also sitze ich zuhause, schaue Dokumentationen über papua-neuguineische Stämme und schaufle Bio-Nature-Joghurt in mich rein. Yves will mir zeigen, wie man bei League of Legends Rüstung verkaufen kann, er lebt davon. Aber Gamen gibt leider auch Punktabzug, drum weiss ich nicht recht. Ich hab mich so eingerichtet, dass ich jeden Tag ein wenig zulege, bin jetzt schon bei 1022. Es geht aufwärts.

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, ist Autor. Sein Debütroman «Buch der geträumten Inseln» erschien 2020 bei Rowohlt.

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