«Gott schuf den Menschen, weil er ihn träumte. Der Mensch aber vergass Gott und schuf die Maschine, weil er sie träumte. Am Ende des 20. Jahrhunderts aber hat die Maschine den Menschen vergessen. Wer wollte vorhersagen können, von wem oder was sie träumt?»

Es ist ironischerweise keine Sprachsoftware, die diesen Ausspruch von Friedrich Kittler auf «Land der Musik – The Graz AI Score» rezitiert, sondern eine Frauenstimme mit fast sakralem Nachhall. Kittler war Medienwissenschaftler und Experte für Aufschreibesysteme, sein Zitat bezieht sich auf eine Parabel des Soziologen und Philosophen Dietmar Kamper. «Land der Musik» ist eine 2019 erschienene EP mit Werken einer Entität künstlicher Intelligenz, was auch der Künstlername des Projekts ist: AI Unit, AI für artificial intelligence. Der Algorithmus als Schöpfer – der aber von den Künstlern Christian von Borries und Andreas Dzialocha angeleitet und beaufsichtigt wird.

Vereinfacht gesagt sind die Werke der AI Unit eine akustische Demonstration von Deep Learning, einer der zentralen Methoden, mit denen künstliche neuronale Netze mit Big Data verbunden werden. Von Borries und Dzialocha spielen das, bei vergleichsweise geringer Datenmenge und in einer überschaubaren Dimension, im Bereich der klassischen Musik durch. Sie liessen erst ihre an Midi-Partituren geschulten Algorithmen komponieren und brachten die Ergebnisse dann beim Steirischen Herbst in Graz 2018 mit einem Orchester zur Aufführung. Ein Stück wie «AImahler» klingt nach durcheinander gewürfelten Versatzstücken aus den Sinfonien von Gustav Mahler, «AIstrauss» versucht sich an den Walzern von Johann Strauss. Als Mensch erfreut man sich beim Hören gerade an der Imperfektion der AI Unit, an unerwarteter Holprigkeit und interessanten Brüchen, die man von einer nicht-nicht-menschlichen Kompositions-Entität so vielleicht nicht hören würde. Man kann die Unzulänglichkeit als Charme empfinden: algorithmisches Versagen als Genussfaktor.

Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit ein dominierendes Thema im Musikbereich, bei der Produktion genauso wie beim Konsum. Den konkreten Auswirkungen der KI-Aktivitäten begegnet man täglich, etwa bei der Playlist-Schleuder Spotify, dem Autoplay-Paradies Youtube und ihren weiteren Mitbewerbern im Kampf um zukünftige Streaming-Marktmacht. Auf beiden Seiten, beim Erzeugen der Inhalte und bei ihrer Verbreitung, wird zunehmend auf automatisierte Prozesse und Deep Learning gesetzt. Je mehr Daten man dabei sammelt, desto zuverlässiger wird die KI ihren Job erledigen.

Der wichtigste Diskussionsbeitrag zu nicht-menschlicher Intelligenz im Pop war in den letzten Monaten «Proto», das vierte Album von Holly Herndon. Herndon stammt aus Tennessee, ist diplomierte Computermusikerin und hat gemeinsam mir ihren Partnern Mat Dryhurst und Jules LaPlace eine Künstliche Intelligenz entwickelt, die sie seit rund zwei Jahren mit Klängen «füttert», wie sie sagt, vor allem mit ihrer eigenen Stimme. Das Programm hat sie auf den Namen Spawn getauft, sie spricht von ihm wie von einer Person und nennt es ihr «KI-Baby».

«Es gibt viele Gründe, warum wir diese Metapher verwenden», erklärt Herndon bei einem Gespräch in Berlin, wo sie seit mehreren Jahren lebt. «Zum einen betonen wir damit, wie wichtig es ist, behutsam mit dieser erwachenden Intelligenz umzugehen – wie mit einem Kleinkind. Zugleich macht das deutlich, dass Spawn nur Zugang zu der Perspektive hat, die wir selbst und unsere Community ihr eröffnen. Ausserdem wollen wir die Bemühungen sichtbar machen, die wir Menschen in die Entwicklung einer KI stecken. All diese Aspekte haben mit dieser Metapher zu tun.»
«Proto» will KI erklärtermassen kritisch reflektieren und zugleich eine neue Beziehung zwischen Mensch und machine learning etablieren. Herndon ist es wichtig, die eigene Arbeit von dem abzugrenzen, was sie als vorherrschendes Paradigma von KI in der elektronischen Musik wahrnimmt. Sie versteht ihren Ansatz als bisher singulär und will nicht das machen, was viele andere tun: Aufgaben an eine KI delegieren. Sie will KI in einen selbstreflexiven schöpferischen Prozess integrieren. Herndon sieht Spawn als gleichberechtigtes Mitglied des 13-köpfigen Ensembles, mit dem sie «Proto» erarbeitet hat

Focus, relax, and sleep

«KI kann optimieren, aber nicht kreieren», sagt hingegen Kai-Fu Lee. Schöpferische Berufe in den Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Musik seien die einzigen, die nicht von den gigantischen bevorstehenden Umwälzungen des Arbeitsmarktes im Zuge der nächsten Stufe der Digitalisierung betroffen seien, erklärte der taiwanesisch-amerikanische Computerexperte und Investor 2018 in einem TED Talk. Lee arbeitete für Microsoft und Apple, war Präsident der chinesischen Niederlassung von Google und wird hier zitiert, weil diese Talks eines der Formate sind, welche den öffentlichen Diskurs entscheidend prägen.

KI hat keine Emotionen, keine Empathie, keine Liebe, sagt Kai-Fu Lee und ist sich sicher, dass das noch sehr lange so bleibt. Sein Hauptinteresse gilt heute der Koexistenz von menschlicher und nicht-menschlicher Intelligenz, die er vor allem aus der Perspektive einer kapitalistischen Fortschrittslogik sieht. Die Entwicklung in China empfiehlt er dabei als Musterbeispiel, Bedenken wegen autoritärer Dynamiken zerstreut er, seine Investmentfirma heisst nicht umsonst Sinovation Ventures. KI würde bald alle Bereiche von Routine-Jobs übernehmen, in denen ohnehin niemand arbeiten will, und zugleich Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen «grossartige Werkzeuge» bieten, um «noch kreativer» zu werden, behauptet Lee. Zugespitzt: Das Taxifahren überlassen wir autonomen Systemen, wir können uns stattdessen um Mitgefühl und Liebe kümmern, zwei Lieblingswörter von Lee. Das Fazit seines TED Talks: «KI erinnert uns daran, was es bedeutet, menschlich zu sein.»

Es gibt einen Haufen Firmen, die sich bemühen, Lees erste Kernaussage – KI kann nicht kreieren – zu widerlegen und die Behauptung, Computer könnten durchaus schöpferisch sein, zu Geld zu machen. 2016 veröffentlichte das CSL Research Lab des japanischen Konzerns Sony zwei Songs, die mithilfe einer Software namens Flow Machines entstanden – die ersten jemals von einer KI generierten, hiess es. «Daddy’s Car» wurde im Stil der Beatles komponiert, nach demselben Deep-Learning-Verfahren, das auch die AI Unit anwendet, allerdings vom französischen Musiker Benoît Carré um Text und Gesang ergänzt, arrangiert und produziert.

Fast zeitgleich erschien «Genesis», das erste Album von AIVA, einem Akronym für Artificial Intelligence Virtual Artist. AIVA war zunächst auf klassische Musik spezialisiert und wurde als erste KI offiziell von einer Gesellschaft für Musikautorinnen anerkannt, nämlich der französischen SACEM. Andere KI-Projekte kümmern sich um perfekte Klangtapeten für den Hausgebrauch oder um Soundtracks für Computerspiele und Filme. So wurde im März 2019 angekündigt, dass die Entwickler der Musik-App Endel – Selbstbeschreibung: «Personalized sounds to help you focus, relax, and sleep» – nach eigenständigen Veröffentlichungen wie «Rainy Night», «Cloudy Afternoon» und «Foggy Morning» einen Vertriebs-Deal mit Warner Music unterzeichnet haben. Endel reagiert auf Parameter wie Tageszeit, Wetter, die Pulsfrequenz der Nutzerinnen und die Orte, an denen sie sich befinden, und erzeugt je nach gewünschtem Modus die ideale Klangkulisse. Der «Focus Mode» verspricht zum Beispiel: «Boosts your productivity by helping you concentrate for longer.» Im Wettbewerb der Aufmerksamkeitsökonomie bekommt gerade den grössten Boost, wer versichert, so kreativ programmieren zu können, dass sich die Sache mit der Kreativität wie von selbst erledigt.

Mit Lees zweiter Kernaussage – KI erinnert uns an unsere Menschlichkeit – stimmt eine Künstlerin wie Holly Herndon tatsächlich überein. Auch ihr Album «Proto» rückt das Humane ins Zentrum und legt den Fokus darauf, dass die nicht-menschliche Intelligenz eben immer noch von Menschen gemacht ist – was die Bedenken hinsichtlich autoritärer Dynamiken und Missbrauchs in ihrem Fall aber gerade verstärkt. «Je grösser der Datensatz, desto stärker das Modell», bestätigt Herndon. «Und wer hat Zugang zu diesen enormen Datenmengen? Die Plattform-Kapitalisten oder die Regierungen. Ich sehe meinen Versuch, mit KI umzugehen, als eine direkte Fortsetzung dieser Diskussion. Die Autorin Shoshana Zuboff beschreibt in ihrem Buch ‹The Age Of Surveillance Capitalism›, wie KI genau diese Entwicklungen weiter beschleunigt.»

Oh, keep us safe!

Die Angst, die Friedrich Kittler und Dietmar Kamper meinen – die Maschine könne den Menschen vergessen –, ist mindestens so alt wie die Science Fiction, im Grunde sogar so alt wie die Wissenschaft selbst: dass eine Erfindung der Menschheit sich immer weiter selbst optimiert, bis sie sich gegen ihre Schöpfer auflehnt. Dahinter steckt die Einsicht, dass im Grunde jede technische Errungenschaft sowohl Fortschritt als auch Vernichtung bringen kann. Es kommt eben darauf an, wer sie wie und zu welchem Zweck verwendet.

Herndons Albumtitel «Proto» bezeichnet die Ära der Protokolle, die unseren Digitalalltag organisieren. Er steht aber auch für einen Anfang, einen Ausgangszustand: Gerade wird definiert, wie die Interaktion zwischen Mensch und automatisierten Prozessen aussieht und was für Folgen sie haben kann. Noch gibt es die Chance zu bewusster, emanzipativer Einflussnahme. In Herndons Songs formt sich diese Erkenntnis zu hymnischen Chorälen. «Proto» will nicht die Skandalgeschichte von der Ersetzung des Homo sapiens durch immer schlauer werdende Maschinen fortschreiben. KI steht bei Herndon umgekehrt für eine Betonung des Faktors Mensch: Es geht darum, bei den Aushandlungsprozessen über die Gestalt dieser Intelligenz mitzureden. «Der gegenwärtige Gebrauch von KI in Musik ist kein Anlass für Optimismus», sagt Herndon. «Aber das ist nicht der einzige Weg. Uns geht es um eine andere Vision. Man kann sie optimistisch nennen, vielleicht ist sie auch nur nuancierter und neugieriger.»

Bei ihren Live-Auftritten veranstaltet Holly Herndon mit ihrem Ensemble seit einiger Zeit ein archaisches Ritual, das so alt ist wie die Musik selbst: ein Call-and-response-Spiel. Sie bittet das Publikum, ihrem KI-Baby Spawn ein Ständchen zu singen, mit dem sie es später zu Hause füttern kann. Jemand auf der Bühne singt vor, das Publikum singt nach. Der Text wirkt wie eine kollektive Beschwörung, ein Schutzgebet: «Oh, keep us safe / Safe in life / Secure from all / Our fears.» Noch steht nicht fest, was der Baby-Algorithmus darauf antworten wird.

Arno Raffeiner war Chefredakteur von Spex – Magazin für Popkultur und lebt als Kulturjournalist in Berlin. Bei seiner Veranstaltungsreihe Kookoo werden die Kameralinsen von Smartphones abgeklebt.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert