No. We disagree. We still have visions.

– Wer ist «wir» und welche Visionen haben «wir» noch?

Die Digitalbühne Zürich, ehemals 400asa, ist ein sich korallenartig fortpflanzendes Theater-, Film-, Radio- und Transmediales Kollektiv mit Ableger in Berlin. Im Fabriktheater in Zürich führen sie Maurice Maeterlincks «Tintagiles Tod» auf. Es ist die Uraufführung vom Gewinner Schweizer Theaterpreis 2016!

In «Tintagiles Tod» geht es um Macht, die in Form der Königin als weibliche Machtträgerin daherkommt. Ausserdem wirkt die Macht als das unabwendbare Schicksal und in dem Versuch, dagegen zu kämpfen.

Maurice Maeterlinck, der Autor des Stücks und Literaturnobelpreisträger wie auch Termitenforscher, empfand Schauspieler*innen dafür als physikalisch in ihrer Körperlichkeit und Ausdrucksfähigkeit eingeschränkt. Darum forderte er ihre Ersetzung durch mechanische Puppen – der Puppenspieler, im Wissen um die Geschichte und in der vollständigen Kontrolle aller Bewegungen, übernimmt die Rolle des unabwendbaren Schicksals.

Hier greift die Digitalbühne ein – nicht das Schicksal, sondern die «Schwarmintelligenz» der Zuschauer entscheidet über die Wege, die der Abend nimmt; eine Art Volksabstimmung über die Zukunft. Dabei werden nicht nur der Plot, sondern auch die Inszenierungsform vom um das Publikum erweiterten Kollektiv immer wieder neubestimmt, und so zusammen die Zukunft erforscht – welche Inszenierungsformen passen besten zu unser Zeit: Occulus Rift, HTC Vive, Auro-3D, mit Fischkleister gebastelte Handpuppen? Und was hat denn das Ganze noch mit Theater und Visionen zu tun?

Anfang des 21 Jahrhunderts beginnt sich die Idee von Theater zu reformieren; die Grenzen zwischen Produzent und Rezipient weichen auf. Durch die neuen Medien wird nicht nur im Theater, sondern auch im Journalismus und sogar in der Politik eine neue Mitgestaltung erreicht und gefordert, wie auch eine neue Reichweite jeglichen Contents. Das «theatre for netizens» wird es von der Digitalbühne genannt. Dieses neue Theater spielt mit der klassischen Räumlichkeit von Theater, verlagert die Bühne in den Öffentlichen Raum inklusive zufälliger Zuschauer, in Busse über Landesgrenzen hinaus; dabei wird mit der Spannung zwischen Innen und Aussen, von städtischem und suburbanem Raum gearbeitet – der ganze vordefinierte Rahmen von Theater soll gesprengt werden, allumfassender und einschliessender werden, um einen neuen Wirkungsgrad auf die gesellschaftlichen Entwicklungen zu produzieren: eine «expanded vision of theatre», die hinausreichen, provozieren und schliesslich Reaktion erreichen will.

Von der vorhergegangenen Gruppierung 400asa gibt es dafür Beispiele, die bis 1995 zurückreichen und neben Theater auch Film, Hörspiel und Performances beihalten und mischen. «Weil sowohl die Radio- als auch die Theaterlandschaft keine wirklichen Herausforderungen mehr bieten, die wichtigsten Theaterhäuser in Deutschland bespielt worden sind und die Stadt Zürich ja auch kein gutes Theater will», versuch(t)en sie ihre Medien auszuweiten. In einem ihrer neuesten Projekte, «Der Polder», konnte der «Zuschauer» sich durch ein performatives Alternate Reality Spiel bewegen und so den Spielverlauf nicht nur miterleben, sondern auch und vor allem mitgestalten.

Merkwürdigerweise werden die meisten Produktionen von 400asa und Ablegern, wenn auch provokant und eindeutig politisch motiviert, von der Presse als Kunstwerke gefeiert – der Tagesanzeiger zum Beispiel verlässt nach einer Aufführung der «Fünf Mädchen [die] im Branntwein jämmerlich umkommen» die Gessnerallee «in der Gewissheit, den bisher klügsten und inspirierendsten Abend seit langem gesehen zu haben.» Kann Theater von der Gesellschaft noch als Anregung oder Kritik am realen Leben gesehen werden? Ist Provokation für uns schon zu sehr in der Kunst angekommen, um noch Auswirkungen über einen pikierten Feuilletonartikel hinaus zu haben? Und wie stellt man das an?

Die Digitalbühne aka stadttheater.tv aka 400asa versucht in ständigem Morphing einen Weg zu finden, die Grenzen des Theaters abzureissen und für alle zugänglich zu machen.

 

«Tintagiles Tod» spielt vom 13.-20. Dezember 2016 im Fabriktheater.

 

Sophie Steinbeck, *1994 in Lenzburg, studiert Dramaturgie in Leipzig, davor Sprachkunst in Wien. Arbeitet als Autorin und Dramaturgin in den Theaterkollektiven «saft» und «Rohe Eier 3000».

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