Ich liege im Staub und Dreck meines Haushalts auf einer Interdiscount-Yogamatte und studiere das letzte Interview mit Catherine Colomb auf RTS. Sie schaut im Viereck und meint, sie schäme sich, das zu sagen, aber sie habe nie Duras gelesen. Nix Nouveau Roman, lieber die Sonntagsjournale. Affirmation des Bürgertums, hallt es bereits in mir und ich sehe, hier liegt ein Teil eines Reisgerichts neben mir auf der Matte. Was nehme ich mir heraus, gegenüber dieser Schriftstellerin Argwohn zu hegen?

Neben dem Laptop aufgeschlagen, Colombs erster Roman, «Kopf oder Zahl», im Original «Pile ou face» erschienen 1934. Vergangenheitswind weht daraus hervor. Auch die Figuren der Erzählung leben im fortwährenden Durchzug ihrer Erinnerungen Umspielt vom unsichtbaren Strom der Zeit, den Colomb mal vorwärts, mal rückwärts fliessen lässt, leuchten die ewigen Orangen, vor denen Madame L. sitzen bleibt, während Monsieur L. durch die Zimmer der Mietwohnung wandert wie ein Nierenstein. Die Hände im Schoss sitzt die Tochter und wiegt mit zusammengepressten Lippen den Meteoriten, der ihr von einem erloschenen Planeten ins Herz gefallen ist. Ich sehe diese Sprache und bin verblüfft. Ich sehe diese Familie und bin eine Katze, die gebadet werden soll. Will nicht.

Das verstreute Reisgericht tadelt meinen Unwillen: «Was soll das Gesträube mit dieser Lektüre, schalt mal deine Erlebnisfähigkeit ein, du Proll. Ein kleine, unfrohe Familie, untere Mittelschicht, zwischen den Kriegen, im Waadtland, in der neutralen Schweiz. Sei kein Frosch. Don’t make this about you, sister. It is the outside world that is the weltliche world, that matters.»

Wo beginnt diese weltliche Welt? frage ich mich als Autorin, als Leserin und als Kritikerin der Aufteilung in Welthaltigkeit und Nebenwiderspruch. In «Kopf oder Zahl» gibt es keine Trennung dieser Erlebnisräume. Man blickt in wuchernde Erinnerungen und Visionen, in endlose Aussenwelten und wartet. Adern und Netze schliessen Zeiten und Räume kurz, darin verbunden und gefangen die Figuren, immobil und im Denken vertäut. Nur der Nierenstein, ein einzelner, auf sich bezogener Schmerz, bewegt sich, sticht, kommt und geht. Alles andere bleibt. Auch ich bleibe und warte mit diesen Frauen darauf, dass etwas auf uns zukommt und unsere Lebensenergie in produktive Schranken weist. Selbst der Nierenstein hätte ein grosser Schriftsteller sein können, wäre er nicht Lehrer geworden, wäre er allein und frei von der widerlichen Verkettung, welche die gegenseitige Erhaltung des Lebens mit sich bringt.

Colomb sagt zu der Dame von RTS, sie habe all ihr Texte vormittags zwischen neun und elf verfasst, während die Kinder in der Schule waren. Einfach so. Authentisch, planlos. So hätte sie schon ihre Schulaufsätze verfasst. Weder ihre Kinder noch ihr Mann hätten sie je schreiben gesehen. Der Hauptinhalt ihres Lebens sei der Haushalt gewesen. Eine grosse Freiheit – man wisse, was ansteht.

Ich habe säuerliche Gedanken. Polyphone, säuerliche Haushaltsgedanken. Kein schräg einfallender Sonnenstrahl und kein Staubsauggerät können mich zum Glänzen bringen. Ich weiss natürlich nicht, was ansteht. Lese weiter. Das Aufwischen eines zusammengekehrten Häufchens wird beschrieben, ein letzter Rest Staub bleibt immer auf den Dielen zurück, egal wie die todessehnsüchtige Tochter den Besen ansetzt. Parallel dazu verfasst sie in Gedanken ihr eigenes Leidzirkular. Da ihre Bewegung, dort ihr Bewegungsraum. Beidem soll ein Ende gesetzt werden, weil ihr Geliebter vom letzten Sommer, Philippe, sie nicht mehr liebt und ergo nicht heiratet, ergo sie sich danach sehnt, in der dunklen Erde unter den Stiefmütterchen zu liegen. Der strahlende Geliebte Philippe, braungebrannt mit Auto; Student und Frohnatur. Ich sehe sein blondes Haar im Fahrtwind und spüre eine Aktivität meiner Bauchspeicheldrüse.

Was ist diese Bereitschaft, sich darauf einzustellen, was Andere für einen erdacht haben?

Infantil ist das. Klar will man dann sterben, wenn nicht einmal die anderen sich etwas ausdenken wollen für einen. Schritte in die Wege leiten? Nein. Stattdessen ein Glücklichsein auf den vorbestimmten Wegen, wovon man Angst bekommt. Die Tochter sass vergangenen Sommer in Vorfreude auf den kommenden Tag und die versprochene Zukunft mit Philippe in den bestickten Kissen. Zartes Gefühl von Sonne auf nackten Unterarmen, bereits darin enthalten und geahnt: Der auf sie zustürzende Meteorit. Die Stickereien auf den Kissen, die Initialen der Grossmutter, das ist der Köder, der hier ausgeworfen wird, um ein Stickerei- und Grossmutterinitialenpublikum in den Einschlagskrater des Meteoriten, das Erlöschen jeglicher Liebe und mitten in die Angst zu locken. Die im Glück wohnt. Im Haus. Im Häuslichen.

Welches Publikum?

Colomb hat nicht für ein Publikum geschrieben. Es gibt kein Publikum. Das glaubt bloss meine Generation. Ich glaube das. Gelähmt von der Vorstellung, es gäbe tatsächlich irgendwo ein Publikum, unfähig verstreute Essensreste wegzuräumen. Wenn wir so weitermachen, gibt es das Publikum tatsächlich noch. Je mehr Leute in wichtigen Positionen wiederholen, das Publikum, das Publikum, man richte sich danach aus, desto wahrer wird es. Und mein Mut wird gefressen von einem imaginierten Publikum, einem vererbten Echo ohne Herkunft. Ein Schlag mit dem Massstab, der auf schreibende Finger niedersaust und ein Zurechtrücken des Kopfs, damit ich die Ziffern der angegebenen Werte ablesen, mitlesen und wiedergeben kann.

Ich verlange geistige Erweiterung und besinge die Einschränkung. Lechze nach Bereicherung, ertrage aber keine Differenz. Ich behaupte, einen Empfindungsradius zu haben, dabei habe ich bloss eine lineare Denkachse, auf der ich schwindlig vor und zurück balanciere. Was also kann ich?

Ich kann gegen die Heirat und den Hausstand, die sich mir in diesem Text gleichermassen als unausweichlich liebloses Schicksal und einzige Quelle von Glückseligkeit präsentieren, anstacheln. Ich kann in dieser Sprache, ihrem transzendenten Blick durch Zeiten, Orte und Herzen meiner eigenen Bösartigkeit begegnen. Und ich kann mich fragen: Wie viel Sicherheit braucht ein schreibender Mensch, um sich in die Unsicherheit der Sprache hineinzubegeben?

Und so versuche ich, Freundschaft zu schliessen. Ich spreche zu meinem Haushalt. Zu diesen wenig Sicherheit versprechenden Gütern und Gegenständen: «Räumt euch auf. Räumt euch weg. Arrangiert euch umgänglich, ich habe etwas vor, aber es hat nichts mit euch zu tun.» Jedoch das Reisgericht bleibt geduldig liegen und sagt: «Erzähl mir von deinen Erinnerungen. Ich habe Zeit.» Da endlich spüre ich den verbinden Satz, den verbindenden Schmerz.

Es gibt keinen Platz in der Welt, für Leute, die sich erinnern.

So denkt die Tochter, kurz bevor sie sich vor den Zug wirft und so denkt die Mutter, die den weggetretenen Gesichtsausdruck ihres Mannes registriert, wenn sie spricht. Das sind sie, die Bewegungsräume dieser Frauen. Rein mental, denke ich verdriesslich und weiss doch, man kann zwar als Autorin mutwillig alle Rollen, Voreinstellungen und Gemeinplätze anders schreiben, als man sie erlebt, aber dann wird die Geschichte eine andere. Und dann verkünde ich: «Genau das müssten wir doch anstreben!» Mein Mut sinkt samt erhobener Faust zurück auf die Yogamatte.

Aber wer schreibt dann die Geschichte dieser toten Menschen und Dinge, die um uns herum stehen und ihren Tribut fordern?

Das vertrocknete Reisgericht nickt verständnisvoll und doch irgendwie stiefmütterlich und ich ahne schon, dass ich zu wenig Grautöne formuliere, dass ich Spielräume wie Schach auf scharfe Grenzen und Dichotomie mit grausigen Vierecken und Kanten ohne Barmherzigkeit und Güte schreibe, weil ich verzweifelt bin, wie die Tochter, wie die Mutter, wie der Vater und Onkel Albert.

Ich blättere weiter und durchlebe bangen Herzens die letzte örtliche Verschiebung und Freude der alten Mutter, ein Ausflug zu einem Begräbnis, anschliessende Heimfahrt über dem Lac Leman und anschliessende Erkältung, Bronchitis, anschliessende Lungenentzündung und anschliessend: Lebensende.

Beseelte Dinge und im Exil ihres von Arbeit geschwächten Körpers lebende Königinnen und Könige versammeln sich in Catherine Colombs «Kopf oder Zahl», stellen sich dazu und bleiben, sind nicht mehr wegzudenken. Dazwischen schaut entrüstet Monsieur L. von seiner Zeitung auf, weil jemand Geschirr zerschlägt oder vom Zuckerpreis spricht, zuviel Geld ausgibt oder im falschen Moment hustet. Und zuletzt, als er wiederum aufblickt, in der tradierten Empörung eine bestimmte Stelle am Tischende fixiert, merkt er: Die Frauen, die dort gesessen haben, sind alle tot.

Sarah Elena Müller, *1990, schreibt und komponiert für das Spoken-Word Duo «Cruise Ship Misery». Im März 2019 erschien ihr Debut Album «Urteil». Sie schreibt Kolumnen, produziert Hörstücke, Essay- und Kurzfilme und arbeitet an ihrem ersten Romanprojekt.

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