Das Postulat der Echtheit und des Authentischen erfährt eine neue Renaissance. Es ist zugleich Signal einer Krise. Denn wie so oft wird etwas erst im Moment seines endgültigen Verschwindens noch einmal übersteigert gefeiert oder beklagt – und damit verklärt. Wobei offen ist, inwiefern es Echtheit an sich je gegeben haben mag. Für die Suggestion des Echten spielt das aber kaum eine Rolle. Echt, wahr und authentisch ist, was man dafür hält. Craft-Beer, Vintage-Kleidung, das Ausgraben toter oder totgesagter Medien wie Kassetten oder Vinyl, der Kult um sogenannten Slow Food, die Fixierung auf Amateur- oder Vintage-Pornografie, oder Reisen an die entlegensten Orte der Welt, wo doch immer schon jemand anderes vorher gewesen ist, sind allesamt Symptome einer Sehnsucht nach Echtheit und einer Krise der Erfahrung. Authentizität ist dabei mit Roland Barthes als ein Mythos lesbar. Denn «in Wahrheit ist das, was sich in dem Begriff einnistet, weniger das Reale als eine gewisse Kenntnis vom Realen». Während das Authentische als positiv verklärt wird, wird das scheinbar Unauthentische verdammt.

Bei-sich-sein

Überall lässt sich hinter dem Deckmantel des Echten und Natürlichen, das man wiederholt oder zu wiederholen meint, eine Sehnsucht nach Erfahrung erkennen, die so gesellschaftlich und psychologisch immer mehr verunmöglicht wird. Doch anstatt anzuerkennen, dass uns Natur immer schon vermittelt gegenüber stand, dass unvermittelte Erfahrung womöglich nie möglich ist, dass es so etwas wie unverstellte Echtheit vielleicht nicht gibt, weil es immer nur der Versuch ist, etwas Sinnliches auf den Begriff zu bringen, wird Authentizität genau wie Individualität je mehr sie unzugänglich wird desto mehr hypostasiert. «Wenn nichts anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, dass er ganz und gar das sei, was ​er ist», attestiert Theodor W. Adorno in der ‹Minima Moralia› unter dem Eintrag «Goldprobe». Adorno erkennt die Ursachen für dieses Diktat, bei sich zu sein, als ökonomische. Die kapitalistische Produktionsweise führt uns die Gemachtheit, die Verdinglichung all dessen vor Augen, was uns umgibt und was wir kaufen können oder wollen. Gleichzeitig wird die Warenförmigkeit der Dinge übersehen: «Je dichter die Welt vom Netz des Gemachten überzogen wird, um so krampfhafter betonen die, welche es ihr antun, ihre eigene Naturwüchsigkeit und Primitivität. […] Der Trug der Echtheit geht zurück auf die bürgerliche Verblendung dem Tauschvorgang gegenüber. Echt erscheint, worauf die Waren und anderen Tauschmittel reduziert werden […] Die Unechtheit des Echten rührt daher, dass es in der vom Tausch beherrschten Gesellschaft prätendieren muss, das zu sein, wofür es einsteht, ohne es doch je sein zu können.» Karl Heinz Bohrer sieht in dem Essay «Über den Mangel an Symbolischem» die Ursachen für die Sehn-sucht nach Authentizität ideengeschichtlich vor allem in einer nationalen Traditionslinie: «Authentizität» ist eine typisch deutsch-lutherische «Barbarei des Ichs gegen die Kultur». Für Bohrer ist der Anspruch auf Authentizität von einem zutiefst moralischen Gefühl der Überlegenheit geprägt. «Der authentische Mensch ist niemals ironisch, er ist immer empört, er findet deshalb selten die richtigen Worte, er ist getrieben von Identifikationszwängen gegenüber anderen Ichs dieser Art, und er fordert die Unterwerfung der nicht Dazugehörigen unter diese seine moralische-politische Superiorität. […] Abgelöst von der kulturellen Vermittlung ist das Authentische eben ganz nur bei sich.» Aus beiden Perspektiven bleibt Echtheit immer eine Illusion, hinter der sich der Wunsch nach etwas anderem verbirgt; ein Wunsch, der zugleich unerfüllt bleiben muss.

Wunschmaschinen

Unter dem Schlagwort «Craft-Beer» wird aktuell ein Handwerk nachgearbeitet und zu restituieren versucht, das scheinbar befreit von den Bedingungen bestehen kann, unter denen das Brauhandwerk entstand. Hier soll im Handgemachten, im Selbstgemachten eine Echtheit und damit eine unvermittelte Erfahrung der Produkte wiederhergestellt werden, die in der Massenproduktion vermeintlich verloren gegangen ist. Es wird ein Kult um die Produktion und die Produkte be-trieben, der damit garantieren soll, dass ein grösserer Genuss mit diesen Produkten nicht nur möglich, sondern in den Produkten selbst schon angelegt sei. Ähnlich verhält es sich mit «Vintage»-Kleidung und «Vintage»-Möbeln, die früher einfach «Second-Hand» oder «gebraucht» hiessen. Dem Alten haftet dabei ein Versprechen an, es transportiere eine Aura und es garantiere Individualität fernab der Künstlichkeit sogenannter Stangenware. Analog (pun intended) ist dieser Trend für die Popindustrie zu beobachten. Dort sind Kassetten einerseits als Nischenprodukt seit mehr als einem Jahrzehnt für bestimmte Genres nicht nur selbstverständlich, sondern aus Distinktionsgründen obligatorisch. Andererseits vermitteln auch Serien wie «13 Reasons Why» plötzlich einer Generation, die keine Erfahrungsgeneration mehr ist, wie ein Walkman funktioniert und welche praktischen Probleme das Hören von Kassetten oft mit sich brachte. Als Abkehr von Schnelllebigkeit und permanenter Verfügbarkeit digitaler Musik wird das Unpraktische und Unbequeme der Kassette aber als ein Segen wahrgenommen. Ebenso hat Vinyl nicht nur ein enormes Revival erfahren, Sammler*innen können neuerdings neben «Discogs» auch auf ein Hochglanzmagazin zurückgreifen, das ähnliche Bedürfnisse stillt wie für Andere das Magazin «Landlust» oder der Manufactum-Katalog. Dort mag eine andere Klasse ihre Sehnsüchte nach Handgemachten und Natürlichem und damit nach Unverstelltem und Entschleunigtem stillen als bei den Kassetten oder bei Craft-Beer, aber die Struktur ist die gleiche. Und beide treffen sich in ihrer Begeisterung für Slow-Food und Bioprodukte. Unter der Überschrift «Einmal Fair-Trade-Biokoks, bitte» hat Deniz Yücel in der taz einmal sowohl den Techno-Hedonismus in der Berliner Clubkultur, der das Wochenende zeitlich ähnlich reguliert wie die Arbeitswoche, von der er ablenken soll, als auch das Dispositiv «Bio» karikiert, mit der das Gewissen beruhigt wird. Mit dem Rekurs auf das Natürliche schafft man sich eine Illusion, wie das gute Leben aussehen könnte. Die individuelle Erfahrung und der individuelle Geschmack können damit kurzfristig beruhigen werden und man kann bei sich sein. Aber diesen Geschmack und dieses Bei-sich-sein muss man sich leisten können. Natur kann nur verklärt werden, wenn man – zum Glück! – nicht mehr in dem Masse von ihr abhängig ist. Natur und Natürlichkeit, so positiv sie den Grossstadtmenschen aus der Distanz erscheinen mag, ist vor allem dreckig und gefährlich. Wer im Produktionsprozess auf sie angewiesen ist, wird sich hüten, sie so schön zu finden, wie es Wochenendausflüglerinnen oder Kletterern gelingen mag, die nach einer durchfrorenen Nacht im Zelt wieder in die Altbauwohnung mit Zentralheizung zurückkehren können.

Die gleiche Affinität zum Authentischen ist in der Pornografie zu beobachten. Dort haben sich unter der enormen Fülle an Subgenres und der Vervielfachung von Bedürfnissen, die im gleichen Masse hergestellt wie befriedigt werden müssen, einerseits die Vintage-Pornografie und andererseits das Genre «Amateur» etabliert. Während das erste hinter seiner Patina eine irgendwie unverstelltere Pornografie verspricht (was dem Genre aber schon in sich widerspricht), öffnet zweite die Türen zu beinahe allen Schlafzimmern und befreit so womöglich zumindest ein bisschen von dem Konkurrenzdruck, den die heutige hyperreale professionelle
Pornografie aufbaut. Denn, wie Nina Power in ‹Die eindimensionale Frau› schrieb, ist die «zeitgenössische Pornografie […] nur insofern realistisch, dass sie uns unsere schlimmsten Sehnsüchte quasi noch einmal verkauft: Dominanz, Konkurrenzkampf, Gier und Bru-
talität.» Power untersucht als Vintage-Pornografie Material vor allem solches aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zeigt, dass der Leistungsdruck der zeitgenössischen Pornos dort einer gewissen Albernheit und Komik, einer Spontanität und einem sichtbaren Spass gegenübersteht, da die Mitwirkenden «anscheinend sogar Lust darauf haben, miteinander zu schlafen». Es bestehe noch ein «humanistisches Versprechen», das am ehesten feministische Pornografie gegenwärtig wieder einzulösen versucht. Abgelöst worden sei dieses Versprechen jedoch von der «Leistungsfähigkeit», welche die Pornoindustrie vor und hinter der Kamera nach ökonomischen Zwängen abbildet. Die Sehnsucht nach einer authentischeren Pornografie dient jedoch nur dazu, diese Zwänge zu verdecken.

Eine vermeintliche Flucht aus den Zwängen von Konkurrenz und permanenter Selbstbehauptung bietet zumindest für diejenigen der westlichen Welt, die sich frei bewegen können: die Reise. In ihr verdichtet sich Sehnsucht nach Authentizität als Natürlichem und Vergangenem und dem, was sie hervorbringt, noch einmal auf eigentümliche Art und Weise.

Reisefieber und Erfahrungsarmut

Als Matthias Claudius in ‹Urians Reise um die Welt› die zum Sprichwort gewordenen Verse «Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was erzählen» schrieb, waren die grossen Eroberungsreisen von Marco Polo, Magellan, Kolumbus und Cortés bereits Geschichte.

Es gab nicht mehr viel zu entdecken, aber immerhin war noch nicht jeder und jede überall gewesen. Claudius’ Zeitgenosse, der Revolutionär und Aufklärer Georg Forster hatte 1772 an James Cooks Weltumsegelung teilgenommen und in seiner ‹Reise um die Welt› davon Zeugnis abgelegt. Forster registrierte bereits die Dialektik der Aufklärung, als er seinen Besuch auf Tahiti mit dem Wunsch resümierte, die Europäer mögen den Kontakt mit den Inselbewohnern rechtzeitig abbrechen, um ihre «Naturlichkeit» zu bewahren, ehe «die verderbten Sitten der civilisierten Völker» jene korrumpieren könnten. In dieser traurigen Erkenntnis schwingt die Beobachtung mit, schon in der Aufklärung selbst und ihrer Intention, die ganze Welt zu erforschen und erschliessen, seien die widersprüchlichen Tendenzen enthalten, die – in den Worten Horkheimers und Adornos – «den kulturellen Fortschritt in sein Gegenteil verwandeln». In ihr Gegenteil haben sich mit dem Fortschritt erst Recht die Weltreisen verwandelt.

Fernab von Forsters Entdeckungs- und Forschungsinteresse sind sie wahlweise am Beginn des Erwachsenenalters als letztes Abenteuer der Adoleszenz vor oder nach dem Studium oder am Ende des Lebens im Rentenalter obligatorisch geworden. Doch nicht nur Rucksack-Weltreisen und Kreuzfahrten prägen unsere Gegenwart und unsere Biografien. Das Diktat des Studiums, der Lohnarbeit oder des Freundeskreises mit seinen Facebook-Ordnern voller Urlaubsfotos fördern auch hier die Konkurrenz. In Zügen und Fernbussen, Zweitwohnungen und Airbnb-Unterkünften, mit unbezahlten Praktika in den Metropolen dieser Welt beweisen wir genau wie auf Vortragsreisen oder beim Pendeln zum Arbeitsplatz unsere Flexibilität und Mobilität. Ab und zu reproduzieren wir im Urlaub unsere Arbeitskraft. Es verwundert kaum, dass das unternehmerische Selbst zwischen Ankunft und Abfahrt, zwischen Entschleunigungsideologie und Akzelerationismus dabei noch zerrissener wird als es sich die Ich-Dissoziationen der Moderne je ausmalten. Angekommen sind wir in einer Welt, in der man auch in der Durchdringung von virtuellem und realem Raum nicht an allen Orten gleichzeitig sein kann. Wer ausgehend von diesen Zwängen für das Einfache, Natürliche, Echte schwärmt, verklärt nicht nur das Alte oder die Natur. Er oder sie ist schlicht auch nicht bereit, sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Als ein Sinnbild für das gegenwärtig Unauthentische lässt sich die Figur des Hipsters identifizieren. Auch er ist ein Mythos. Niemand will einer oder eine Hipsterin sein, doch alle wissen sie zu erkennen und zu verachten. Dabei liesse sich der Hipster als ein Gegenmythos verstehen, der wenigstens sichtbar macht, was am Unauthentischen zu verteidigen wäre. Er entlarvt, was am Authentischen bloss falsche Vorstellung von Natur und Eigentlichkeit ist. Erstaunlicherweise entzündet sich das Ressentiment gegen den Hipster an genau den Gegenständen, die als authentisch verklärt werden: Craft-Beer, Bio-Koks, Vintage-Klamotten, ironische T-Shirts mit Kassetten als Motiv, Praktika in Galerien in New York, Zürich und Belgrad. Dabei macht die Figur des Hipsters an all diesen Facetten zumindest sichtbar, wie krampfhaft alle eine Authentizität nacharbeiten, weil sie zu Erfahrung nicht mehr fähig sind. Die Figur des Hipsters ist ein Phänomen der Krisen unserer Zeit, der auf sie zumindest aufmerksam macht. Die Flucht in die Vorstellung, dass es früher einmal besser war, und man dieses frühere Besser über den Konsum vermeintlich authentischer Getränke, Kleidung, Pornos oder Reisen heute nach erfahren könnte, bleibt eine Illusion. Aber sie ist bequemer als anzuerkennen, dass es so, wie es ist, nicht weiter gehen kann.

Chris W. Wilpert ist Literaturwissenschaftler und lebt in Bamberg.

Comment is free

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert