Wer heute mit öffentlichen Verkehrsmitteln reist, kann gut beobachten, wie Plattformen Institutionen abgelöst haben: Haben noch vor wenigen Jahren Angestellte Tickets verkauft, Auskünfte gegeben, Fahrscheine kontrolliert, Check-In durchgeführt, machen das heute die Kundinnen und Kunden selbst. Bahn-, Bus- und Flugbetriebe stellen Plattformen zur Verfügung, mit denen sich diese Transaktionen abwickeln lassen – selbst führen sie diese Abwicklung aber nicht mehr durch. Plattformen sind inhaltsleer, sie ermöglichen den Aufbau dezentraler Netzwerke, indem sie dafür zentral Standards und Infrastruktur bereit stellen. Wer wann und mit welchem Ticket wohin fährt oder fliegt, ist keiner Steuerung unterworfen, findet aber mit einheitlichen Werkzeugen und Schnittstellen statt (deshalb kann die Gültigkeit jedes Fahrscheins überprüft werden). Dieser scheinbare Gewinn an Freiheit – Passagiere sind nicht darauf angewiesen, dass Angestellte ihren Bedürfnissen entsprechende Lösungen finden – wird aber durch ein zusätzliches Steuerungs- oder Optimierungsverfahren eingeschränkt: Die Aktivitäten der Userinnen und User werden erfasst und mit Rechenverfahren ausgewertet. Algorithmen führen mit diesen Daten so genanntes «Nudging» durch: Sie schaffen negative oder positive Anreize – indem sie die Verfügbarkeit von Sitzplätzen im Zug anzeigen – mit denen das Verhalten der Kundinnen und Kunden gelenkt wird. Eine ganz zentrale Technik ist dabei auch das «Personalized Pricing»: Datenauswertung ermöglicht es, die den Kundinnen und Kunden angezeigten Preise auf ihre Einkaufsgeschichte, ihr Surfverhalten, die verwendeten Geräte, ihr Wohnquartier, ihren Beruf und andere Faktoren abzustimmen. So sind ganz neue Formen von Lockvogelangeboten denkbar.

Facebook und Twitter sind Experimentierfelder, auf denen Studien durchgeführt werden, die für den flächendeckenden Einsatz von Plattformen von Bedeutung sind.

Die Beispiele machen deutlich, dass Plattformen kein Phänomen sind, das sich in einer rein virtuellen Welt abspielt – auch wenn Facebook, Twitter, Instagram und andere soziale Netzwerke geradezu exemplarische Plattformen darstellen. Ganz generell gilt es in der Analyse von Vorgängen im Web einen digitalen Dualismus zu vermeiden: Also nicht der Versuchung zu verfallen, virtuelle Prozesse als von physischen Geschehnissen unabhängig zu betrachten. Die Plattformen, die Facebook anbietet, finanzieren sich allesamt über den Verkauf von Gütern oder Dienstleistungen, die ihre Bedeutung IRL entwickeln, also «im Real-Life» . So bieten Facebook-Algorithmen Banken etwa Daten an, um die Kreditwürdigkeit von Menschen einzuschätzen, die ein Darlehen aufnehmen wollen. Dabei wird die durchschnittliche Kreditwürdigkeit ihres Kontaktnetzes als Indikator genommen.

Facebook und Twitter sind einerseits Experimentierfelder, auf denen Studien durchgeführt werden, die für den flächendeckenden Einsatz von Plattformen von Bedeutung sind. Für das Einstiegsbeispiel ist Uber dafür die Leitidee: Auch die Steuerung und Wartung von Fahrzeugen sowie der Fahrplan selbst kann der dezentralen Steuerung der Plattform übergeben werden. Die Zukunft des öffentlichen Verkehrs dürfte aus einer App (im besseren Fall mehreren Apps) bestehen, in der Transport nachgefragt und angeboten werden kann. Dieses Prinzip der radikalen Plattform kann grundsätzlich für jede Dienstleistung konzipiert werden. Aus diesem Grund hat sich die Formel «Like Uber but for…» gleichermassen als Idee für beliebige Startups wie als humoristische Kritik dieses Wandels im Netz etabliert. Das Uber-Prinzip entfernt alle Verantwortung und Sicherheit, welche Plattformen anbieten: Es zersetzt Arbeitsplätze und ersetzt sie durch unverbindliche Aufträge, es übergibt den Aufbau von Infrastruktur an Individuen und wälzt jedes Risiko an sie ab. Mehr noch: Plattformen entziehen sich durch ihre Leere juristischen Vorgaben. So weigern sich in den USA viele Uber-Fahrerinnen und -Fahrer, Behinderte zu befördern. Uber lehnt dafür jede Verantwortung ab: Das Unternehmen stelle nur eine App, eine Plattform bereit, mit der Menschen zueinander finden können. Damit umgeht der Taxidienst gesetzliche Vorgaben, die Behinderte vor Diskriminierung schützen. Die Daten, die Uber sammelt und Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung stellt, schaffen diese Diskriminierung gar aktiv: Gute Kundinnen und Kunden erhalten bessere Dienstleistungen als weniger aktive, kritische oder solche in finanziellen Schwierigkeiten.

Während Plattformen wirtschaftlich ein wichtiges Modell sind, im Alltag aber noch keine dominierende Stellung erlangt haben, sieht das im Umgang mit Informationen anders aus. Junge Menschen greifen mit ihrem Smartphone auf Nachrichten zu. Waren soziale Netzwerke ursprünglich zwar Plattformen, die aber mit Hyperlinks Schnittstellen zu Webseiten und damit zu Informationen aus einer anderen Quellen anboten, werden die Informationsplattformen zunehmend «blind»: Nur was sich innerhalb der Plattform befindet, ist zugänglich. Instagram, das populärste soziale Netzwerk unter Jugendlichen, kann keine Links darstellen, welche die Plattform verlassen. Facebook bettet journalistische Publikationen in die App ein und verweist die Lesenden nicht mehr auf Zeitungsseiten. In Entwicklungsländern arbeitet das Unternehmen zudem daran, kostenlosen Internetzugang zur Verfügung zu stellen: Aber nur für die Nutzung von Facebook und seinen Apps wie Instagram oder WhatsApp. (Es ist kein Zufall, dass Jugendliche, für die Facebook selbst keine angesagte Plattform mehr darstellt, gleichwohl fast nur von Facebook betriebene Software nutzen.)

Aber nicht nur Facebook arbeitet an geschlossenen Apps: Auch Google zeigt immer mehr Information direkt auf eigenen Seiten an und «erspart» Kundinnen und Kunden so den Klick auf eine externe Seite, Amazon und Apple unterhalten Verkaufsplattformen, welche von der Suche über den Kauf und die Bewertung von Inhalten jeden externen Bezugspunkt obsolet machen. Für jugendliche Nutzerinnen und Nutzer ist diese Veränderung kaum sichtbar: Sie empfinden das Fehlen von Links nicht als Mangel, sondern als Komfort.

Diese Entwicklung ist aus der Perspektive des Geschäftsmodells von Social Media nachvollziehbar: Verkauft werden Userdaten und Werbung. Menschen dabei zu analysieren, wenn sie Informationen verarbeiten, erlaubt das Sammeln von Aktivitätsspuren und das Einblenden von Anzeigen oder Empfehlungen.

Hossein Derakhshan, der für seine Arbeit als Blogger im Iran eine Haftstrafe verbüsste, hielt kürzlich in einem Essay fest, was das Problem des flachen und selbstbezogenen Netzes sei, das er nach seinem Gefängnisaufenthalt vorfand:

Apps wie Instagram sind blind oder beinahe blind. Ihr Blick richtet sich nur nach innen, unwillig, ihre unermessliche Macht an andere zu verteilen, die so einen leisen Tod sterben.

In der Welt der Websites ist der Blick ermächtigend. Wenn eine mächtige Website, zum Beispiel Google oder Facebook, eine andere Website erblickt, also auf sie verlinkt, dann stellt sie nicht nur eine Verbindung her; sie erschafft ihre Existenz, sie gibt ihr Leben. Aber Apps wie Instagram sind blind oder beinahe blind. Ihr Blick richtet sich nur nach innen, unwillig, ihre unermessliche Macht an andere zu verteilen, die so einen leisen Tod sterben. Die Konsequenz ist, dass Websites außerhalb sozialer Medien sterben.

Derakhshan lenkt den Blick auf den entscheidenden Punkt: Die Frage der Macht. Plattformen verteilen Macht anders: Sie geben vor, Konsumierende zu Prosumierenden zu machen, ihnen also die Möglichkeit zu geben, aktiv zu sein. Gerade darin sehen Intellektuelle wie Evgeny Morozov oder Byung-Chul Han aber ein entscheidendes Problem: Die Macht verführe, indem sie ihre Wirkungsweise verstecke. Die Plattform gibt sich neutral, sie vernetzt Individuen, die alle zu kleinen Unternehmen werden. Wer letztlich davon profitiert, wenn Studierende in Barcelona WG-Zimmer über AirBnB vermieten müssen, ist den Beteiligten absolut unklar. Die Veränderungen, die Plattformen bewirken, werden immer als eine Erleichterung wahrgenommen. Menschen geben die Lektüre von Websites, die Netzneutralität (damit ist ein Netzzugang gemeint, der alle Inhalte mit gleicher Geschwindigkeit zugänglich macht), das Fahren von Privatautos, die Beanspruchung von Dienstleistungen und allgemein die Institutionen nicht deshalb auf, weil es ihnen jemand befiehlt, sondern weil sie scheinbar davon profitieren. Wenn alle Fahrzeuge getrackt werden und schlaue Algorithmen Stau vermeiden können, wird die Person, welche auf dem eigenen Lenken eines Fahrzeugs besteht, zum Hindernis.

Das Verhältnis von Jugendlichen zu Plattformen ist dabei besonders problematisch: Erwachsene leben in einer digitalisierten Welt, kennen aber Alternativen: Für den Zahlungsverkehr, den Zugriff auf Informationen oder die persönliche Kommunikation. Plattformen besitzen ihre Daten, aber nur für einen Ausschnitt ihres Lebens. Jugendliche sind für Unternehmen eine dankbare Zielgruppe: Sie sind häufig medienaffin, experimentierfreudig und preissensitiv. Helfen ihnen Plattformen dabei, Ziele zu verwirklichen, nutzen sie sie gerne und intensiv. Sie sprechen auf die Mechanismen der «Gamification» an, mit denen Plattformen Käufe und Kommunikation in Spiele verwandeln, die ständig Belohnungen ausschütten. Wenn Jugendliche also heute primär ein geschlossenes und nicht neutrales Netz kennen lernen, ist das nicht ein auf ihre WhatsApp-Diskussionen und Instagram-Bilder bezogenes Problem. Es ist keine Modeströmung, die verschwindet, wenn aus den Jugendlichen Erwachsene werden. Vielmehr wird es selbstverständlich, dass die Auswertung von Daten, das Füllen von Plattformen mit eigenen Inhalten und die Mikromanipulation von Userinnen und Usern zum Waren- wie auch zum Informationsverkehr dazugehört. Plattformen werden zu einem neuen Kontrollinstrument. Die Kontrolle wird an schlaue Programme abgegeben, die scheinbar nichts anderes tun, als das Leben bequemer zu machen. Sie entzieht sich dadurch geschickt demokratischen und juristischen Zugriffen, sie wird alternativlos.

Wer gegen Plattformen kämpfen will, muss Menschen aufwändigere Prozesse schmackhaft machen und gegen elementare psychologische Einflüsse – im Plattformen-Netz tut man, was anderen gefällt und dem eigenen Hirn Belohungsausschüttungen verspricht – ankommen. Jugendliche bleiben momentan darin hängen.

Philippe Wampfler ist Lehrer, Kulturwissenschaftler und Experte für Lernen mit Neuen Medien. Er schreibt regelmässige für verschiedene Blogs und Zeitungen über Schulen und Social Media.

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